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An das
Bundesministerium
für Justiz
Museumstraße 7
1070 Wien

                        Der Vorsitzende

VA 6100/11-V/1/08 - KJ                                                      Wien, am 18. Juni 2008

 

Sachbearb.:                                                                  Tel.: (01)51 505-244 od. 0800 223 223-244

Mag. Elke Sarto                                                                                Fax: (01)51 505-150

 

Betr.:   Entwurf für ein 2. Gewaltschutzgesetz

Stellungnahme der Volksanwaltschaft
zu GZ BMJ-B12.101/0002-I 5/2008

Sehr geehrte Damen und Herren!

Zu dem zur Stellungnahme übermittelten Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem die Exekutionsordnung, die Zivilprozessordnung, das Außerstreitgesetz, das gerichtliche Einbringungsgesetz 1962, das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung 1975 und das Tilgungsgesetz 1972 geändert werden (2. Gewaltschutzgesetz – 2. GESchG) nimmt die Volksanwaltschaft wie folgt Stellung:

Die Volksanwaltschaft begrüßt grundsätzlich die Intention des gegenständlichen Gesetzesentwurfs, den Opferschutz zu verstärken. Die Schaffung der Sonderzuständigkeiten für den Bereich der Gewalt an Kindern bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten sowie der Ausbau der Rechte von Opfern im Zivilverfahren analog zu jenen im Strafprozess sind besonders positiv hervorzuheben.

Die Volksanwaltschaft hegt darüber hinaus aber Bedenken gegen folgende Änderungen:


Unverzügliche und generelle Anzeigeverpflichtung gem. § 78a StPO

Sämtliche im Bereich des Kinderschutzes tätige Berufsgruppen aus dem Bereich der Sozialarbeit, der Medizin, der Psychologie, der Psychotherapie und der Kinderpädagogik vertreten einhellig die Auffassung, dass der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zu Kindern, die von Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch betroffen sind, schon unmittelbar vor Befassung von Polizei und Staatsanwaltschaft eine zentrale Bedeutung zukommt.

Die Psychodynamik missbrauchter Kinder ist sehr komplex und geprägt von Vertrauensverlusten, Angst, Schuld- und Schamgefühlen, Ohnmacht, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung, Rückzug auf sich selbst und Hilflosigkeit. Die Ungeheuerlichkeit des Erlebten „verschlägt minderjährigen Opfern auch sprichwörtlich die Sprache“. Prägend in Missbrauchssituationen ist der enorme Geheimhaltungsdruck (u.a. durch diverse Drohungen des Täters) und vielfach leider auch das Abhängigkeitsverhältnis, welches zwischen Täter und Opfer besteht: Nicht selten schweigen Minderjährige auch bei fortgesetzter Gewalt wegen des starken Loyalitätskonflikts, da sie die Täter kennen und über längere Zeiträume hinweg gleichzeitig lieben und fürchten. Sehr selten kommt es zu unvermittelten sexuellen Übergriffen durch Fremde. In der Praxis häufiger ist, dass Minderjährige gezielt „vorbereitet und manipuliert werden“, indem sie bevorzugte Behandlung genießen, Geschenke erhalten und allmählich vom Rest der Familie/Mutter emotional isoliert werden. Es entsteht so eine enge und starke Beziehung zum Täter, in der nach und nach die zunächst ausnahmslos positiv empfundenen Begünstigungen (auch „Kuscheln“ etc.) mit unerwünschten sexuellen Handlungen verknüpft werden.

Daher sind nonverbale, indirekte Hinweise, Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen und (seltener) körperliche Symptome, oft bloß Ausgangspunkte für die Notwendigkeit der weiteren Einlassung auf das Kind und auf das Verhalten aufbauender Verdachtsdiagnosen. Dass die Herstellung eines Vertrauensver-hältnisses zum missbrauchten Kind unter solchen Bedingungen nicht nur besondere Kenntnisse, sondern vor allem auch Zeit braucht, ist nachvollziehbar, weil die Aufdeckphase besonders sensibel ist und man missbrauchte Kinder sowie deren engeres familiäres Umfeld auf eine Strafanzeige bzw. ein Strafverfahren mit all den damit verbundenen Konsequenzen auch mental vorbereiten muss.

Durch die Verpflichtung zur Einbringung unverzüglicher Strafanzeigen im Fall des nicht fachgerecht erhärteten Verdachtes auf sexuellen Missbrauch kann ein derartiges Vertrauensverhältnis zum Kind bzw. dessen Familie aber nicht hergestellt werden. Es besteht nach Ansicht aller Opferschutzeinrichtungen die Gefahr, dass nicht vorbereitete Kinder im Fall einer Befragung durch die Polizei und/oder das Gericht aus Angst, die Familie damit zu zerstören und letztendlich deshalb aus dem Haushaltsverband verstoßen zu werden, von sich aus zu keinen verwertbaren Aussagen bereit sein werden. Wenn man missbrauchten Kindern und den an Tathandlungen nicht beteiligten Familienangehörigen diese Zeit der Vorbereitung auf das Bevorstehende nicht lässt, steht zu befürchten, dass das mit dem Entwurf beabsichtigte Ziel, Gewalt in der Familie zu verhindern bzw. die Opfer zu schützen, konterkariert wird.

Ein weiterer Aspekt darf dabei nicht unbeachtet bleiben. Die Vertrauensperson, der sich das Kind mit seinem „Geheimnis“ erstmals öffnet, muss durch die Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige das Vertrauen zwangsläufig selbst auch „missbrauchen“, indem Wahrnehmungen und Gesprächsinhalte weitergegeben werden. Bewirkt wird damit, dass sich das missbrauchte Kind Dritten gegenüber kaum mehr „anvertrauen“ wird, da es bereits erfahren hat, keinen Einfluss darauf nehmen zu können, was im Anschluss an diese Offenbarung tatsächlich passiert. Es ist zu befürchten, dass sich dadurch die Dunkelziffer von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch an Kindern noch erhöhen könnte. Zudem steigt die Gefahr der Retraumatisierung von Kindern durch übereiltes und unfachmännisches Vorgehen, da eine auf die Aussage eines Kindes gestützte Strafanzeige das gesamte familiäre Umfeld Minderjähriger zwangsläufig in den Grundfesten erschüttert und der Druck des Täters und/oder die Verdrängung durch andere Bezugspersonen so massiv werden kann, dass missbrauchte Kinder auch mit dem Vorwurf, ein(e) Lügner(in) und/oder Verräter(in) zu sein, konfrontiert sind, ohne dass ihnen Hilfe zu teil wird.

Insbesondere wenn die Aussage des Kindes den einzigen Beweis in einem Strafverfahren wegen eines Sexualdeliktes darstellt, dieses aber mangels Vorbereitung "beharrlich schweigt", steigt die Wahrscheinlichkeit, dass durch die Zurücklegung von Strafanzeigen, die Einstellung von Strafverfahren bzw. durch Freisprüche den Opfern von Gewaltdelikten nicht geholfen werden kann. Ein Freispruch mangels Beweisen, aber auch die Einstellung des Strafverfahrens bewirkt vielmehr, dass es auch für Jugendwohlfahrtsträger nicht mehr möglich ist, mit betroffenen Familie zu arbeiten, weil der bereits ausgestellte "Persilschein" jede weitere Kooperationsbereitschaft untergräbt und ein nach außen zugestandenes Unrechtsbewusstsein die Gefahr vorläufig bereits abgewendeter strafrechtlicher Konsequenzen mit sich bringt. Dies allein würde die Situation der Opfer sogar noch verschlechtern. Die in den Erläuternden Bemerkungen zu § 78a StPO angeführte Vielzahl gewaltpräventiver Instrumente von Strafverfolgungsbehörden wie Verhängung der Untersuchungshaft, Anordnung von Weisungen, vorläufige Bewährungshilfe oder Therapieweisungen werden trotz erfolgter Strafanzeigen dann nicht Platz greifen können, wenn betroffene Kinder bei der Verweigerung ihrer Aussage bleiben.

Bei Einführung der unverzüglichen Anzeigverpflichtung ist deshalb zu befürchten, dass es weder die Kinder selbst noch andere Familienangehörige wagen können, bei Opferschutzeinrichtungen niederschwellige Hilfe zu suchen bzw. diese in Absprache auch tatsächlich anzunehmen. Missbrauchte Minderjährige würden dadurch von Hilfesystemen wie Jugendamt, Kinderschutzzentren, Kinder- und Jugendanwaltschaften etc. abgeschnitten. Die für Kinder so wichtige Aufarbeitung traumatisierenden Erlebnisse könnte damit seltener in Anspruch genommen werden, was alles in allem einen schweren Rückschritt im Bereich des Opferschutzes bedeuten würde.

Wenn in den Erläuternden Bemerkungen angeführt wird, dass Personen, die für das körperliche oder seelische Wohl des Kindes Verantwortung tragen, bei Anzeichen von Gewalt nicht wegsehen dürfen und jenen Unterstützung geben müssen, die oft zu schwach sind, um sich aus eigenem gegen weitere Übergriffe zu wehren, so ist dies ein wünschenswertes Ziel. Dieses bildet auch den Hintergrund für die nach der bisherigen Gesetzeslage bestehende Meldepflicht gemäß § 37 Jugendwohlfahrtsgesetz, welche Behörden, Organe der öffentlichen Aufsicht sowie Einrichtungen zur Betreuung und zum Unterricht von Minderjährigen ausnahmslos dazu verhält, den örtlich zuständigen Jugendwohlfahrtsträger mit allen Verdachtsmomenten zu befassen. Der Jugendwohlfahrts-träger hat nach derzeitiger Rechtslage im Fall einer derartigen Meldung einen Hilfeplan zum Wohl des Kindes zu erstellen und Maßnahmen zum Schutz des Opfers in die Wege zu leiten. Eine Strafanzeige ist dabei in vielen Fällen unumgänglich und wird vom Jugendämtern auch erstattet, wenn es keinen Zugang zu uneinsichtigen Tätern gibt oder der sofortige Schutz vor weiteren Übergriffen anders nicht gewährleistet werden kann. Diese Meldepflicht nach § 37 Jugendwohlfahrtgesetz wird mit der generellen, unverzüglichen Anzeigepflicht aber ad absurdum geführt.

Derzeit wird in drei Arbeitsgruppen im Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend an einer Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes gearbeitet. Es besteht Einigkeit darüber, dass der Jugendwohlfahrtsträger zur Gewährleistung des Kindeswohls in Zukunft noch mehr als bisher als zentrale Drehscheibe fungieren soll und bei ihm sämtliche Meldungen, von mit Kindern betrauten Berufsgruppen einlangen sollen. Durch die geplante Regelung könnte der Jugendwohlfahrtsträger diese Funktion nicht mehr wahrnehmen, da bei eingebrachten Strafanzeigen das Gesetz des Handelns nicht mehr bei der Jugendwohlfahrt liegt.

Verfahrensabbruch durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 197a StPO

Die im Entwurf vorgesehene Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, das Verfahren im Opferinteresse für maximal sechs Monate abzubrechen, steht im Widerspruch zu der unverzüglichen Anzeigepflicht. Die in den Erläuternden Bemerkungen dafür angeführte Begründung, wonach Verbrechensopfer erst nach einiger Zeit psychisch in der Lage seien, über belastende und intime Fakten zu sprechen, ist prinzipiell richtig. Dieses Argument sollte allerdings vor der Einbringung einer Anzeige beachtet werden und nicht erst dann, wenn das Strafverfahren bereits anhängig ist aber vorläufig nicht fortgeführt werden kann, solange die Opfer dazu nicht bereit sind. Durch Unterbrechungen wird der Druck des Verdächtigen auf das Opfer, nichts auszusagen oder vorherige Aussagen zu widerrufen, enorm gesteigert. Zu diesem Zeitpunkt weiß nämlich der vermeintliche Täter durch die erfolgte Strafanzeige Bescheid darüber, dass und wem gegenüber das Kind „das Geheimnis“ gebrochen und über das Erlebte gesprochen hat. Der – wenngleich befristete - Abbruch des Verfahrens könnte sich aus der Perspektive von missbrauchten Kindern, die mitbekommen, dass ihre vorprozessuale Aussage vorläufig keine Konsequenzen zeitigen kann, sogar positiv für den Täter auswirken, was vom Gesetzgeber sicherlich so nicht beabsichtigt sein kann.

§ 52a Abs. 2 StGB

Dazu wird aus der Sicht der Volksanwaltschaft festgehalten, dass der Jugendwohlfahrtsträger weder das Verhalten des Rechtsbrechers noch die Erfüllung der an  ihn gerichteten Weisungen des Gerichtes überwachen kann. Nach dem Gesetzesentwurf müsste die Jugendwohlfahrt über die gesetzten Maßnahmen und Wahrnehmungen berichten, wenn sie vom Gericht mit der Überwachung betraut wird. Dem Jugendwohlfahrtsträger fehlt dazu sowohl die Zuständigkeit als auch die Möglichkeit, insbesondere da die Jugendwohlfahrt in diesem Bereich nicht hoheitlich sondern im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung tätig wird und keine Zwangsbefugnisse hat, gerichtliche Anordnungen umzusetzen.

Die Volksanwaltschaft spricht sich daher gegen diesen Gesetzesvorschlag aus und fordert dringend, den Entwurf in Bezug auf die oben angeführten Punkte noch zu überarbeiten.

Der Vorsitzende:

Volksanwältin Mag. Dr. Maria Theresia FEKTER (i.V)