Amt der Tiroler Landesregierung

 

 

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SV-Holding-Gesetz; Begutachtung; Stellungnahme

Geschäftszahl

Innsbruck,

Präs.II-25/1145
26.05.2008

 

 

zu Zl. BMSK-21119/10-II/A/1/2008 vom 14. Mai 2008

Zum angeführten Gesetzentwurf wird folgende Stellungnahme abgegeben:

 

I. Allgemeines

1. Zur Begutachtungsfrist

Der Entwurf sieht mit der Einrichtung einer SV-Holding anstelle des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger eine grundlegende und weitreichende Systemänderung in der Organisation der österreichischen Sozialversicherung vor. Vor diesem Hintergrund ist die eingeräumte Begutachtungsfrist von nicht einmal zwei Wochen bei weitem nicht ausreichend, um die vorgeschlagenen tiefgreifenden Änderungen und ihre tatsächlichen Auswirkungen rechtlich wie faktisch ausreichend zu beurteilen.

 

2. Zur Einrichtung einer SV-Holding

Wie den Erläuterungen zum Entwurf zu entnehmen ist, ist durch die Einrichtung der SV-Holding anstelle des bisherigen Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger ein grundsätzlicher Systemwandel beabsichtigt. Die SV-Holding soll nicht mehr bloß eine die Aufgaben koordinierende Zusammenfassung der einzelnen autonomen Versicherungsträger sein, sondern ein übergeordnete, eigenständige Selbstverwaltungseinrichtung, in der alle sozial versicherten Personen und ihre DienstgeberInnen einerseits sowie alle Versicherungsträger andererseits zusammengefasst werden. Gleichzeitig werden der neuen SV-Holding Normsetzungs-, Zielvorgabe- und Kontrollkompetenzen sowie Durchgriffsrechte gegenüber den einzelnen Sozialversicherungsträgern eingeräumt. Damit verbunden ist eine gravierende Einschränkung der Autonomie der einzelnen Versicherungsträger.

Diese tiefgreifende Systemänderung widerspricht in der vorgesehenen Form dem Grundsatz der Subsidiarität und birgt die Gefahr eines in seiner Dimension noch nicht genau abzuschätzenden und einer effizienten Verwaltung in der Sozialversicherung abträglichen Zentralisierungsschubes von den Versicherungsträgern hin zur SV-Holding in sich.

In diesem Zusammenhang ist zudem darauf hinzuweisen, dass mit der Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen bei der künftigen SV-Holding auch die Tätigkeit der Gesundheitsplattformen in den Ländern wesentlich erschwert werden wird. Dies gilt insbesondere für die Abstimmung der Integrierten Gesundheitsplanung sowie die Entwicklung und Durchführung von Reformpoolprojekten, wofür kurze Wege in der Zusammenarbeit, die Gewährleistung einer permanenten kontinuierlichen Kommunikation, die Möglichkeit der raschen Abklärung bzw. die Rücksichtnahme auf regionale Interessen und Besonderheiten unverzichtbar sind. Grundlegende Voraussetzung dafür sind auf Seiten der Versicherungsträger – dies bestätigt auch die bisherige Vollzugserfahrung im Rahmen der Gesundheitsplattformen deutlich – autonome Entscheidungskompetenzen auf Länderebene. Gerade die Art der Organisation der derzeitigen Vertretung der bundesweit organisierten Versicherungsträger in den Gesundheitsplattformen hat deutlich gezeigt, welche administrativen und prozeduralen Schwierigkeiten bei der Klärung von Punkten zwischen der Gesundheitsplattform und der in Wien lokalisierten Hauptstelle eines Versicherungsträgers verbunden sein können. Es ist anzunehmen, dass sich diese Problematik durch die vorgesehenen Zentralisierungen in der neuen SV-Holding noch verstärken wird.

Darüber hinaus begegnet die vorgeschlagene Einrichtung der SV-Holding und die damit verbundene Beschneidung der Autonomie der ebenfalls als Selbstverwaltungskörper eingerichteten Versicherungsträger verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere stellt sich angesichts der weitgehend unbestimmten Steuerungskompetenzen und Durchgriffsrechte der SV-Holding die Frage, inwieweit den einzelnen Versicherungsträgern noch eigenständige Entscheidungsmöglichkeiten im eigenen Wirkungsbereich verbleiben bzw. welche Angelegenheiten überhaupt noch zum eigenen Wirkungsbereich der einzelnen Versicherungsträger gehören. Im Entwurf wird diese Frage letztlich offen gelassen. Tatsächlich scheinen der Umfang des eigenen Wirkungsbereiches der Versicherungsträger und das Ausmaß ihrer autonomen Entscheidungskompetenzen künftig davon abzuhängen, inwieweit die SV-Holding von den ihr eingeräumten Steuerungs- und Durchgriffsrechten Gebrauch macht. Dass dies mit dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Konzept der Selbstverwaltung vereinbar ist, darf – insbesondere im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang grundlegenden Erkenntnisse VfSlg. 17.023/2003 und 17.172/2004 – bezweifelt werden.

Ob diese Bedenken durch die im neuen § 31 Abs. 1 ASVG vorgesehene Verfassungsbestimmung, die die Einrichtung der SV-Holding einschließlich ihrer Steuerungsfunktionen und der Bindung der Versicherungsträger an die Vorgaben der SV-Holding ausdrücklich verfassungsrechtlich absichern soll, zur Gänze ausgeräumt werden können, scheint fraglich. Diese Bestimmung ist angesichts der mit 1. Jänner 2008 erst in Kraft getretenen neuen verfassungsgesetzlichen Regelungen über die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern (Art. 120a, 120b und 120c B-VG) zudem insgesamt fragwürdig und steht auch den aktuellen und im Ersten Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz, BGBl. I Nr. 2/2008, bereits manifest gewordenen Bestrebungen der Vermeidung von Verfassungsbestimmungen außerhalb des B-VG diametral entgegen. Zudem sind Gründe, die einer verfassungskonformen Ausgestaltung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung entgegenstehen, nicht ersichtlich.

Insbesondere auch vor dem Hintergrund der bestehenden Koordinierungs- und Richtlinienkompetenzen des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, die diesem bereits jetzt erhebliche Steuerungsmöglichkeiten einräumen, stellt sich darüber hinaus die grundsätzliche Frage, ob die gewünschte Stärkung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger nicht auch auf anderen Wegen als durch den im Entwurf vorgesehenen völligen Systemwandel einschließlich der damit verbundenen Zentralisierungen erfolgen könnte. Dass es dazu – wie im Vorblatt der Erläuterungen ausgeführt – keine Alternativen gäbe, trifft nicht zu.

 

3. Zur Beseitigung der aufsichtsbehördlichen Zuständigkeiten des Landeshauptmannes

Gemäß § 448 Abs. 2 ASVG obliegt derzeit die Aufsicht über Versicherungsträger, deren Sprengel sich über nicht mehr als ein Land erstreckt und über solche Krankenversicherungsträger, die nicht mehr als 400.000 Versicherte aufweisen, dem nach dem Sprengel jeweils zuständigen Landeshauptmann. Durch die beabsichtigte Änderung des § 448 Abs. 2 ASVG soll künftig die Aufsicht ausschließlich beim jeweils zuständigem Bundesminister liegen. Nach Auffassung des Landes Tirol hat sich die bestehende Regelung über viele Jahre hindurch bewährt und besteht daher kein Anlass, die Aufsicht über die Versicherungsträger beim zuständigen Bundesminister zu zentralisieren.

 

 

II. Anmerkungen zu einzelnen Bestimmungen


Die folgenden Ausführungen beschränken sich aufgrund der Kürze der Begutachtungsfrist auf punktuelle Anmerkungen.

Zu Art. 1:

Zu den Z. 8 und 9:

Diese Bestimmungen enthalten die – wie vorstehend bereits ausgeführt – rechtlich wie praktisch als äußerst problematisch zu bewertenden organisatorischen Änderungen in der Struktur der österreichischen Sozialversicherung.

Im Hinblick auf die im § 30 Abs. 2 Z. 2 und § 30b geregelten Zielvereinbarungen bleibt – angesichts der grundsätzlichen Ausführungen in VfSlg. 17.172/2004 in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise – unklar, welche Rechtsnatur diesen Vereinbarungen zukommen soll.

Zudem hat für den Fall, dass keine Zielvereinbarung zustande kommt, die SV-Holding die entsprechenden Ziele festzulegen. Eine Gleichberechtigung der Vertragspartner ist dadurch gerade nicht gegeben. Damit ist es letztlich aber die SV-Holding, die ihre Zielvorstellungen auch gegen den Willen des betreffenden Versicherungsträgers durchsetzen kann. Da der Entwurf diesbezüglich an das bloße Nichtzustandekommen einer Zielvereinbarung (ohne nähere Nennung von Gründen bzw. eines Zeithorizonts) anknüpft, dürfte diese Bestimmung der SV-Holding faktisch uneingeschränkte Möglichkeiten zur einseitigen Zielfestlegung bieten.

 

Zu Z. 200:

Nach § 437 des Entwurfes bedürfen sämtliche Beschlüsse des Vorstandes der Zustimmung der Kontrollversammlung. Stimmt die Kontrollversammlung einem Beschluss des Vorstandes nicht zu, so kann die Angelegenheit einer neu einzurichtenden Schlichtungsstelle zur Erstattung einer Empfehlung vorgelegt werden. Stimmen Vorstand oder Kontrollversammlung auch der Empfehlung der Schlichtungsstelle nicht zu, so ist die Angelegenheit unverzüglich dem jeweils zuständigen Bundesminister zur Entscheidung vorzulegen. Abgesehen davon, dass es sich hier um einen äußerst aufwändigen Entscheidungsfindungsprozess handelt, dürfte die Entscheidungsbefugnis des zuständigen Bundesministers als verfassungsrechtlich bedenklicher Eingriff in das verfassungsgesetzlich garantierte Recht auf Selbstverwaltung im eigenen Wirkungsbereich zu qualifizieren sein.

Eine Ausfertigung dieser Stellungnahme wird unter einem auch dem Präsidium des Nationalrates über­mittelt.

 

Für die Landesregierung:

 

 

Dr. Liener
Landesamtsdirektor