Österreichische
Arbeitsgemeinschaft für
Rehabilitation (ÖAR)
Dachorganisation der
Behindertenverbände Österreichs

Dr. Christina Meierschitz · DW 119

E-Mail: meierschitz.recht@oear.or.at

 

 

 

 

 

Stellungnahme der

Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR), Dachorganisation der Behindertenverbände Österreichs,

zum Entwurf eines Bundesgesetzes mit dem das Bundespflegegeldgesetz (BPGG) geändert wird, sowie einer Verordnung des Bundesministers für Soziales und Konsumentenschutz, mit der die Verordnung über die Beurteilung des Pflegebedarfes nach dem Bundespflegegeldgesetz (Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz - EinstV) geändert wird

GZ: BMSK-40101/0011-IV/4/2008

 

 

Die ÖAR erlaubt sich, zu oben angeführtem Entwurf folgende Stellungnahme abzugeben:

Die ÖAR begrüßt grundsätzlich die geplanten Änderungen im Bundespflegegeldgesetz und in der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz und der damit erhofften Verbesserung bei der Zuerkennung von Pflegegeld für schwerst behinderte Kinder sowie für schwer geistig oder schwer psychisch behinderte Menschen, insbesondere für an Demenz erkrankte Personen.

Weiters begrüßt die ÖAR die lineare Valorisierung des Pflegegeldes und die Verbesserungen bei der Unterstützung pflegender Angehöriger.

Nicht berücksichtigt wurden in dieser Novelle die Verbesserung bei den Einstufungskriterien für alle Kinder mit Behinderungen und die jährliche indexbezogene Valorisierung des Pflegegeldes, sowie den Ausgleich des bisher eingetretenen Kaufkraftverlustes.

 

Im Besonderen gilt:

 

Ad § 4 Abs. 3:

Es wird angemerkt, dass die Einstufungssituation nicht nur für schwerst behinderte Kinder oftmals sehr unzufriedenstellend und manchmal sogar schwer nachvollziehbar ist, sondern dass in allen Pflegegeldstufen tendenziell zu niedrig eingestuft wird. Dies liegt zum Großteil an der Entscheidungspraxis des OGH, für welche gilt, dass für Kinder mit Behinderungen nur jener Pflegeaufwand Berücksichtigung finden darf, der behinderungsbedingt anfällt. Daher gilt auch: Je jünger das Kind ist, umso mehr Betreuung benötig auch ein nichtbehindertes Kind, woraus gefolgert wird, dass in der Praxis ein bedeutender Pflege- und Betreuungsaufwand zu Unrecht nicht für die Pflegegeldeinstufung Berücksichtigung findet. Es wird dabei nämlich übersehen, dass Pflege und Betreuung von Kindern mit Behinderungen nicht immer vergleichbar ist mit der von nichtbehinderten Kindern. So ist der Aufwand z.B. beim Waschen und Anziehen eines schwer spastischen oder eines unkooperativen Kindes unverhältnismäßig aufwändiger.

Die ÖAR fordert für behinderte Kinder und Jugendliche eine umfassende Beurteilung des Pflegeaufwandes nach dem tatsächlichen Aufwand, individuell, unter Berücksichtigung des häuslichen Umfeldes, beurteilt durch ein multiprofessionelles Gutachterteam. Diesem muss jedenfalls ein Facharzt mit Zusatzqualifikationen im kinderneurologisch-psychiatrischen Bereich (z.B. Entwicklungsdiagnostik) angehören, der auch regelmäßig an Fortbildungsmaßnahmen teilnimmt (siehe nachfolgendes Grundsatzpapier der ÖAR).

Wie auch im Grundsatzpapier der ÖAR ausgeführt wird, berücksichtigt das System in Vorarlberg die Notwendigkeit einer Beaufsichtigung, als Schutz zur Verhinderung von gesundheitlichen Schäden und Verletzungen, mit dem tatsächlich benötigten Pflegeaufwand.

Unser Vorschlag analog dem § 3 (3) Vbg PGG:

“Bei Personen, bei denen Selbstgefährdung vorliegt, gehört die Beaufsichtigung als Schutz der Person zur Verhinderung von gesundheitlichen Schäden und Verletzungen zum Pflegebedarf, für den eine entsprechende Stundenanzahl pro Monat zugrunde zu legen ist.“

Damit wäre auch der reale Beaufsichtigungsaufwand für demenzkranke Personen mit umfasst, der mit den vorgesehenen 30 Stunden Erschwerniszuschlag zu nieder angesetzt ist, da er in den meisten Fällen nicht dem tatsächlichen Betreuungsmehraufwand entspricht.

Weiters stellt sich die Frage, wie die Einstufung nach dem 15. Lebensjahr erfolgen wird, wenn die gewährten 75 Stunden Erschwerniszuschlag auf höchstens 30 Stunden herabfallen werden. In diesem Fall kann es zu einer Herabstufung des Pflegegeldes kommen, ohne dass eine Verbesserung des körperlich oder geistigen Zustandes feststellbar ist. Dies widerspricht der Judikatur des OGH.

Jedenfalls sind zusätzliche Stunden für einen erhöhten Pflegeaufwand im Einzelfall auch bei Kindern, die nicht schwer mehrfachbehindert sind, unabhängig davon in jedem Fall einer Behinderung zu prüfen und bei Vorliegen der Voraussetzungen auch zu gewähren.

Ad § 4 Abs. 4:

Das Erfordernis des Vorliegens einer solchermaßen definierten Schwerstbehinderung zur Erlangung einer Erschwerniszulage wird in vielen Fällen zu besonderen Härten führen, da die Definition zu restriktiv ist. Viele schwerst behinderte Kinder haben keine zwei von einander unabhängige schwere Funktionseinschränkungen und benötigen dennoch einen ebenbürtigen, wenn nicht manchmal sogar größeren Betreuungs- und Pflegeaufwand, genau so wie ein Kind mit den im Gesetz geforderten Kriterien. Diese Kinder würden dann nicht nachvollziehbar bei der Zuerkennung von Pflegegeld benachteiligt werden.

Ad § 4 Abs. 5 und 6:

Personen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr mit einer schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung, insbesondere einer demenziellen Erkrankung, werden derzeit ebenfalls oft zu niedrig eingestuft.

Aus der im Abs. 6 enthaltenen Definition der pflegeerschwerenden Faktoren ist zu schließen, dass Defizite der Orientierung, des Antriebes, des Denkens, der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen, der sozialen Funktion und der emotionalen Kontrolle in Summe als schwere Verhaltensstörung vorliegen und sich in Summe als schwere Verhaltensstörung äußern müssen. Diese Definition ist viel zu restriktiv.

Tatsächlich können die aufgezählten Defizite jeweils einzeln schon zu einer schweren Verhaltensstörung führen, die einen Erschwerniszuschlag gemäß Abs. 5 rechtfertigen.
Abs. 6 sollte somit dahingehend geändert werden, dass die Defizite alternativ angeführt und die Worte „in Summe“ gestrichen werden.

Darüber hinaus ist anzumerken, dass mit der Novelle viele neue unbestimmte Gesetzesbegriffe, wie „von einander unabhängige schwere Funktionseinschränkungen, schwere geistige oder psychische Behinderung,...“ was dazu führen könnte, dass es wieder zu unterschiedlichen Auslegungen und Anwendungen des Gesetzes käme. Weiters wird mit diesen Bestimmungen wieder ein großer Ermessensspielraum den einzelnen, oft nicht fachspezifisch ausgebildeten Gutachtern (meist nur Ärzte) eingeräumt.

Ad § 5:

Eine 5 %ige Erhöhung ist nur dann akzeptabel, wenn gleichzeitig eine laufende Valorisierung zumindest im Ausmaß der jährlichen Pensionserhöhung im Gesetz verankert wird.

Es sollte mindestens der bisher erlittene Kaufkraftverlust, der durch die jahrelange Nicht-Valorisierung eingetreten ist, abgegolten werden, damit der Anteil am BIP des Jahres 1994 auch im Jahr 2008 gehalten werden kann.

 

Um die Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen umfassend zu verbessern, erlaubt sich die ÖAR, ihren im September 2008 erarbeiteten Forderungskatalog zur Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen im Anschluss an diese Stellungnahme einzufügen:

 

Grundsatzpapier der ÖAR zur Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen

 

 

Die Pflegegeldeinstufung von behinderten Kindern und Jugendlichen sorgt seit vielen Jahren für erhebliche Probleme und wird von Eltern behinderter Kinder zu Recht als große Ungerechtigkeit empfunden. Mit der derzeitigen Systematik der Pflegegeldeinstufung kann den Anforderungen der Lebensrealität von behinderten Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern nicht entsprochen werden.

Die ÖAR und deren Mitgliedsorganisationen haben schon seit Jahren auf dieses Problem hingewiesen und deutliche Verbesserungen eingefordert.

Die derzeitigen Initiativen zur Änderung der Pflegegeldeinstufung von behinderten Kindern und Jugendlichen werden begrüßt. Es darf aber nicht wieder dazu kommen, dass sie im „Sand verlaufen“.

Aus diesem Grund hat die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR), Dachorganisation der Behindertenverbände Österreichs, eine Aufstellung der wesentlichsten Punkte zur Verbesserung der Situation bei der Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen erarbeitet.

Dieses Papier beschreibt zunächst die derzeitige Situation in der Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen. Im zweiten Schritt werden die Forderungen der ÖAR im einzelnen dargestellt.


Geltende Gesetzeslage:

 

Für Kinder und Jugendliche ist jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen, nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht. Altersbedingter Pflegeaufwand kann keinen Anspruch auf Pflegegeld begründen. Im Übrigen erfolgt die Beurteilung nach den selben Grundsätzen wie bei Erwachsenen. Es ist daher notwendig, in relativ kurzen Zeitabständen Nachuntersuchungen vorzunehmen.

Zeitliche Mindest- und Richtwerte kommen bei der Beurteilung nicht in Betracht, sondern es ist ausschließlich der tatsächliche Mehraufwand im Vergleich zu einem nicht behinderten gleichaltrigen Kind maßgeblich. Bezüglich der Beurteilung der Beaufsichtigung behinderter Kinder kommt es dadurch naturgemäß zu einigen besonderen Problemen. Einerseits muss der Pflegebedarf schon ohne diese Beaufsichtigung mehr als 180 Stunden pro Monat betragen, was nur schwer erreicht werden kann und andererseits müssen auch nicht behinderte Kinder bis zu einem bestimmten Alter ebenfalls rund um die Uhr beaufsichtigt und betreut werden. Dies führt dazu, dass die Beaufsichtigung trotz Eigen- oder Fremdgefährdung auch bei schwer behinderten Kindern nicht berücksichtigt wird (z.B. bei einem 6-jährigen Kind mit schwerer Hirnschädigung nach einem Unfall oder bei einem 2-jährigen blinden, schwersthörigen Kind mit Tetraspastik, Mikrocephalie, Hypoplastie und Anfallsleiden aus dem epileptischen Formenkreis). Daher werden die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes ab der Stufe 5 nur schwer erfüllt. Höchstens bei der Notwendigkeit einer unkoordinierbaren Pflege bei Tag bzw. bei Tag und bei Nacht können die Voraussetzungen für die Stufen 5 bzw. 6 erfüllt werden.

Es wird auch für Hilfsverrichtungen bei Kindern eine konkret-individuelle Prüfung angeordnet. Der gesamte Zeitaufwand für alle Hilfsverrichtungen darf jedoch höchstens mit 50 Stunden pro Monat festgelegt werden.

Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen ist zwischen Pflegemaßnahmen und Krankenbehandlung, welche nicht pflegegeldrelevant ist, zu unterscheiden. Therapien, die Familienangehörige nach einer Einschulung selbst durchführen, sind nicht zu berücksichtigen. Betreuungsleistungen als rein psychische Unterstützungsmaßnahmen bzw. Bildungsförderung (Lernhilfe) oder zur Aggressionsdämpfung sind ebenso nicht bei der Beurteilung einzubeziehen. Von der Rechtssprechung werden auch psychische Unterstützungsmaßnahmen, wie der zur Vermeidung einer seelischen Verkümmerung notwendige Körperkontakt, der Therapie zugeordnet.

Bei der Ermittlung des Mehrbedarfs können 3 Fallgruppen unterschieden werden:

1)    Ein Kind kann auf Grund seiner Behinderung Verrichtungen des täglichen Lebens, welche ein Gleichaltriger ohne Behinderung bereits selbständig, ganz oder teilweise erledigen kann, nicht durchführen.

2)    Die Verrichtung, welche auch ein Gleichaltriger nicht selbständig durchführen kann, ist wesentlich zeitaufwendiger oder häufiger erforderlich, als bei einem nicht behinderten Kind.

3)    Die Verrichtung kann von einem nicht behinderten Kind ebenfalls nicht selbständig durchgeführt werden, es bedarf aber dieser Verrichtungen gar nicht, weil es gesund bzw. nicht behindert ist.

(Auszüge aus Greifeneder – Liebhart; Handbuch Pflegegeld)


Die Forderungen im Einzelnen:

 

Bei der Ermittlung eines bestimmten Pflegebedarfs sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Zu den Bestimmungsgrößen zählen die Art und der Umfang der bestehenden Einschränkungen und der vorhandenen Ressourcen eines Menschen, die Ausgestaltung der alltäglichen Umwelt (z. B. Wohnsituation, soziales Netzwerk, Hilfsmittelausstattung) sowie die Art der angestrebten Ziele, die im Rahmen der Pflege und Betreuung erreicht werden sollen (z. B. Erhaltung bestehender Ressourcen, Erweiterung bestehender Fähigkeiten). Die derzeit bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen ermöglichen keine umfassende Beurteilung der Gesamtsituation im Sinne dieser drei Bereiche. Insbesondere die Ziele der Pflege und Betreuung bleiben unberücksichtigt.

Dazu kommt, dass die Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen eine besondere Herausforderung darstellt, da sich der Pflege- und Hilfebedarf von Kindern in einigen Punkten erheblich von denen der Erwachsenen unterscheidet. Das Pflegegeldgesetz des Bundes, aber auch die Pflegegeldgesetze der Länder, sowie die einzelnen Einstufungsverordnungen, orientieren sich überwiegend am Pflege- und Unterstützungsbedarf erwachsener oder älterer Menschen. Der Pflegeaufwand, der bei einem behinderten bzw. chronisch kranken Kind zu leisten ist, wurde nur unzureichend berücksichtigt.

Die Anforderungen an die Leistungskraft von Familien behinderter Kinder sind nicht nur in emotionaler, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht sehr hoch.

Pflegeberatungsstellen haben ihren Arbeitsschwerpunkt in der Regel auf die Beratung und Unterstützung der älteren pflegebedürftigen Menschen gelegt. Es bestehen nur geringe Erfahrungen im Bereich Kinder in der Pflegevorsorge.

 

Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte angeführt:

1)    Maßgebend für die Beurteilung des Hilfebedarfs bei behinderten Kindern ist nicht der natürliche Hilfebedarf, der altersgemäß bei jedem Kind anfällt, sondern nur der Bedarf, der behinderungsbedingt darüber hinaus geht. Es sind daher einheitliche Österreichweite Zeitwerte für gesunde und altersgerecht entwickelte Kinder zu erstellen.

Ein Beispiel für eine einheitliche Zeitwerttabelle aus Deutschland:

Alter des Kindes

Säugling

0 - 1 Jahr

Kleinkind

1 - 3 Jahre

Kindergarten

3 - 6 Jahre

 

Körperpflege

(Waschen, Duschen/Baden, Zahnpflege, Kämmen, Darm-, Blasenentleerung)

61 - 62

66 - 81

76 - 32

Minuten/Tag

Ernährung

(mundgerechte Zubereitung, Nahrungsaufnahme)

145 - 125

108 - 48

28 - 10

Minuten/Tag

Mobilität

(Aufstehen/Zubettgehen, An-/Auskleiden, Gehen, Stehen, Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung)

32 - 38

44 - 40

34 - 10

Minuten/Tag

Gesamtsumme

238 - 218

218 - 138

138 - 52

Minuten/Tag


Jedenfalls muss die ungerechte Praxis der pauschalen Nicht-Berücksichtigung von Pflegebedarf bis zu willkürlich festgelegten Altersgrenzen beendet werden, da sie nicht der Lebensrealität der betroffenen Familien entspricht
!

2)    Eine aktivierende Pflege (das sog. Handling) ist Bestandteil von Pflegehandlungen. Leider wird diese bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit bei Kindern nicht berücksichtigt. Ziel der aktivierenden Pflege ist es, vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und wenn möglich, verlorene Fähigkeiten zurück zu gewinnen. Bei behinderten Kindern muss aber auch der erhöhte Zeitaufwand für das Erlangen neu zu erlernender Fähigkeiten hinzu gerechnet werden. Intensive Zuwendung und zeitaufwendige Trainingsmaßnahmen und Förderungen sind zum Teil auch notwendig, um bestimmte Pflegemaßnahmen erst zu ermöglichen. Bei Kindern und Jugendlichen mit dauernder bzw. starker Antriebs- oder Stimmungsstörung sind die notwendigen Motivationsgespräche ebenfalls als Pflegeaufwand anzuerkennen. Diese Pflege mit therapeutischem Aspekt soll die Entwicklung in Richtung größtmöglicher Selbständigkeit garantieren und Sekundärschäden, wie etwa Kontrakturen oder frühzeitige Ernährung mit der PEG-Sonde etc. verhindern. Diese alltäglichen Interventionen erklären aber auch den erhöhten Zeitaufwand (Nahrung geben ist nicht gleich Nahrung geben), den die Betreuung und Pflege von behinderten Kindern im Vergleich zu nicht behinderten Kindern beinhaltet.
Mit der Förderung ihres behinderten Kindes übernehmen Eltern eine wichtige Aufgabe, die eine entsprechende Berücksichtigung durch das Pflegegeldsystem verlangt.
Unser Vorschlag zur notwendigen Ergänzung des Pflegegeldgesetzes:

Neben den im §1 genannten Zielen hat das Pflegegeld den zusätzlichen Zweck, pflegebedingte Mehraufwendungen, die im Zuge der Förderung von Fähigkeiten und Ressourcen bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung entstehen, pauschaliert abzugelten.“

Somit ist auch das Selbstständigkeitstraining im Rahmen der Frühförderung als therapeutische Maßnahme mit zum Pflegebedarf zu zählen, wenn es im häuslichen Bereich von der Pflegeperson weitergeführt wird und bezogen ist auf
ADL´s (aktivities of daily life).
Eine umfangreiche und gezielte Förderung behinderter Kinder, die die Eltern oft mit erheblichem (auch finanziellem) Aufwand (z.B. für Spezialtherapien), Engagement und viel Liebe leisten, kann - je nach Behinderung - zu mehr Autonomie und zu höheren Fähigkeiten beim Kind führen. Diese positiven Entwicklungen beim Kind werden wiederum zum Anlass genommen, den Unterstützungsbedarf nach dem Pflegegeldgesetz geringer zu bewerten. In der Folge kommt es zur Reduktion der Pflegegeldstufe. Das ist ein großes Dilemma, weil damit weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, um die gezielte Fördermaßnahmen aufrecht zu erhalten. Bei Familien ohne große Einkommen oder Vermögen bedeutet dies oft notgedrungen ein Ende der speziellen (und eben oft auch kostenaufwendigen) Förderung. Zudem ist es in vielen Fällen so, dass die erreichten Erfolge nur bei Weiterführung der gezielten Förderung auch tatsächlich aufrecht erhalten werden können. Um einen Rückfall in den früheren Zustand zu verhindern, muss gerade bei der Einstufung behinderter Kinder und Jugendlicher dieser Entwicklungsprozess unbedingt berücksichtigt werden.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass in manchen Fällen krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen als Teil des Pflegebedarfs gesehen werden müssen, nämlich dann, wenn sie aus medizinisch-pflegerischen Gründen regelmäßig und auf Dauer untrennbarer Bestandteil der Grundpflege sind oder wenn sie zwangsläufig im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit diesen Verrichtungen vorgenommen werden müssen.
Es muss jedoch beachtet werden, dass die Durchführung dieser Maßnahmen – durch entsprechend qualifiziertes Personal – von der Krankenkasse bezahlt werden müsste. Die Krankenkassen ziehen sich seit Jahren zu Unrecht aus diesen Bereichen immer mehr zurück. Dieser Entwicklung darf mit dieser Forderung kein Vorschub geleistet werden. Im Gegenteil, es muss sichergestellt werden, dass die Krankenversicherung für diese Leistungen verantwortlich bleibt. Der Aufwand für medizinisch-pflegerische Leistungen, der von den Angehörigen des behinderten Kindes bzw. Jugendlichen geleistet wird, muss jedenfalls berücksichtigt werden.

3)    Bei Kindern und Jugendlichen gehört die Beaufsichtigung als Schutz zur Verhinderung von gesundheitlichen Schäden und Verletzungen zum Pflegebedarf, für den der tatsächliche Pflegeaufwand zu Grunde zu legen ist.
(analog Vorarlberg § 3 Abs. 3 Vorarlberger PGG).

§ 3 (3) Vbg PGG besagt:
“Bei Personen, bei denen Selbstgefährdung vorliegt, gehört die Beaufsichtigung als Schutz der Person zur Verhinderung von gesundheitlichen Schäden und Verletzungen zum Pflegebedarf, für den eine entsprechende Stundenanzahl pro Monat zugrunde zu legen ist.“

Die Notwendigkeit der Beaufsichtigung von pflegebedürftigen Kindern sollte als eigene Betreuungshandlung berücksichtigt werden und nicht erst vom Erreichen eines Pflegebedarfes von mehr als 180 Stunden monatlich abhängen. Nach den derzeit geltenden Pflegegeldgesetzen wird der Pflegebedarf von 180 Stunden monatlich bei Kindern nicht erreicht. Es ist aber gerade bei Kindern mit Behinderungen oft symptomatisch, dass ein hoher zeitlicher Aufwand für Beaufsichtigung erforderlich ist bzw. die Bereitschaft einer Pflegeperson unbedingt erforderlich ist. (z.B. beanspruchen blinde, sehbehinderte und im speziellen mehrfachbehinderte Kinder, die Mutter, aber auch die gesamte Familie, wesentlich mehr als nicht behinderte Kinder). Der zeitliche Aufwand für die Beaufsichtigung steht oft in einem starken Missverhältnis zu den gesetzlich geregelten Pflegemaßnahmen.
Hinzu kommt, dass eine „aktive“ Beaufsichtigung auch in der Nacht, sowie ein ununterbrochener Bedarf an qualifizierter Beaufsichtigung für die betroffenen Eltern einen großen Aufwand darstellt.
Ein weiterer Aspekt, der von Eltern immer wieder erwähnt wird, ist, dass es für ein behindertes Kind wesentlich schwieriger ist, eine stundenweise oder kurzfristige Betreuung zu organisieren. Während bei Kindern ohne Behinderung auch schnell einmal eine Nachbarin, die Tante, der Onkel, die Großeltern oder eine Freundin bei der Betreuung einspringen kann, braucht es bei Kindern mit Behinderung meist eingeschulte Personen oder Fachpersonal.
Die ständige Beaufsichtigung eines behinderten Kindes führt nicht selten zu einer Verarmung der sozialen Kontakte einer Familie.

4)    Ebenfalls ist ein erhöhter Zeitaufwand in der Hauswirtschaft zu berücksichtigen. Dabei kann es sich um die hauswirtschaftlichen Leistungen handeln, die unmittelbar aus der Behinderung oder Krankheit entstehen (z.B. häufiges Waschen der Kleidung, spezielle Nahrungszubereitung), oder dadurch, dass ein nicht behindertes Kind üblicherweise Leistungen erbringen kann, die ein behindertes Kind nicht leisten kann. Daher soll dieser Mehrbedarf in der Hauswirtschaft auch schon bei Kindern und Jugendlichen vor dem 15. Lebensjahr entsprechende Berücksichtigung finden.

5)    Der zeitliche Aufwand für die Begleitung zu Therapien, die verstärkt bei Kindern durchgeführt werden, muss entsprechend Berücksichtigung finden (dazu muss auch die Anfahrt, die in ländlichen Gebieten sehr lang sein kann, oder die Wartezeit beim Arzt oder dem Therapeuten zählen).
Nach neuerer Rechtsprechung ist zwar bei behinderten Kindern für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn nicht bloß von einem Fixwert von 10 Stunden auszugehen, sondern ist der gesamte erforderliche Zeitaufwand als Hilfsbedarf anzunehmen, wobei jedoch als Obergrenze der Gesamtzeitaufwand für alle Hilfsvorrichtungen von 50 Stunden gesehen wird.

Die Begleitung zu Rehabilitationsmaßnahmen durch die Eltern ist zwingend erforderlich und ergibt sich aus dem behinderungsbedingten Bedarf des Kindes. Für Eltern bedeuten diese Maßnahmen in der Regel einen hohen zeitlichen (Pflege)aufwand, bei dem es keine Obergrenze geben darf.

6)    Pflegebedürftige Personen, die überwiegend auf die Benützung eines Rollstuhles und/oder einem dem Rollstuhl gleich zu haltenden Hilfs- u. Heilmittel (z.B. umgebaute Kinderwagen, Buggy, Sitzwagen) angewiesen sind, sollten unabhängig von der Diagnose ein Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 - 5 beanspruchen können; es ist praktisch kein Unterschied, ob eine pflegebedürftige Person aufgrund einer Querschnittlähmung oder einer anderen Diagnose auf die Benützung eines Rollstuhles angewiesen ist.
Derzeit sieht die diagnosebezogene Mindesteinstufung für Rollstuhlfahrer einen Anspruch auf ein Pflegegeld der Stufen 3 - 5 für Personen ab dem 14. Lebensjahr vor. Eine diagnosebezogene Mindesteinstufung für Rollstuhlfahrer kann aber schon vor dem 14. Lebensjahr gerechtfertigt sein, weshalb Rollstuhlfahrer bei entsprechender Diagnose auch schon vor dem 14. Lebensjahr einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufen 3 – 5 erhalten müssen.

7)    Die Begutachtungssituation ist zu standardisieren und zu vereinheitlichen. Es sind Mindesterfordernisse für eine umfassende Begutachtung zu definieren, um qualitativ gute und vergleichbare Bewertungen zu erreichen. Die Etablierung eines Minimum Data Sets (MDS), das alle verpflichtend festzuhaltenden Daten enthält, wird empfohlen. Dafür ist ein gesetzlicher Rahmen auf Bundes- und Länderebene zu schaffen.
Für die Begutachtung von Kindern und Jugendlichen muss ein multiprofessionelles Gutachterteam eingesetzt werden. Diesem muss jedenfalls ein Facharzt mit Zusatzqualifikationen im kinderneurologischen-psychiatrischen Bereich (z.B. Entwicklungsdiagnostik) angehören, der auch regelmäßig an Fortbildungsmaßnahmen teilnimmt.
Ergänzend sind Sachverständige aus dem Gebiet der Pflegewissenschaft und/oder der funktionellen Therapien beizuziehen.
Um die Auswahl eines qualifizierten Gutachters zu erleichtern, sollten diese in einer eigenen Sachverständigenliste, ähnlich der, der Gerichtssachverständigen, eingetragen werden.

Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs muss der Sachverständige den tatsächlichen Aufwand bei der Pflege, individuell unter Berücksichtigung des häuslichen Umfeldes, erheben. Eine Begutachtung in der Ordination des Gutachters kann für die Betroffenen eine erhebliche zusätzliche Belastung bedeuten und lässt die Pflegesituation im Betreuungsumfeld vielfach außer acht. Daher ist eine Begutachtung auf Wunsch der Eltern oder Betreuer entweder im häuslichen Umfeld oder in der Ordination des Gutachters durchzuführen (zur Wahrung des Rechtes auf Privatsphäre). Liegt ein von den Eltern oder den Betreuungspersonen geführtes Pflegetagebuch vor, ist dieses in der Entscheidungsfindung verpflichtend zu berücksichtigen. (In manchen Fällen ist es für Eltern oder andere Betreuer ratsam, vor Begutachtungen ein detailliertes Pflegetagebuch zu führen, um anderen, aber auch sich selbst klarzumachen, dass auch schon zur Routine gewordene und nicht mehr beachtete Tätigkeiten zum Pflegeaufwand, der zeitliche Berücksichtigung bei der Begutachtung finden muss, getätigt werden. Dies würde auch zur besseren Argumentation und Beweisbarkeit vor dem Sachverständigen und in weiterer Folge vor der Behörde führen).

8)    Personen die behinderte Kinder- und Jugendliche pflegen und betreuen, müssen umfassend informiert und aufgeklärt werden.
Es sind bundesweit ausreichend Beratungsstellen, die mit der besonderen Situation im Zusammenhang mit der Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen vertraut sind und gegebenenfalls auch bei der Einstufungsverhandlung vertreten können, zu schaffen, bzw. müssen bestehende Beratungsstellen durch einschlägige Fachberatungen erweitert werden.

Im Übrigen unterstützt die ÖAR die Stellungnahmen ihrer Mitgliedsorganisationen vollinhaltlich und ersucht, die Einwände und Forderungen zu berücksichtigen.

Wunschgemäß wurde diese Stellungnahme auch dem Präsidium des Nationalrates auf elektronischem Wege übermittelt.

 

Wien, am 27.06.2008