9350/J XXIV. GP

Eingelangt am 26.09.2011
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

 

der Abgeordneten Dr. Johannes Jarolim, Gabriele Binder-Maier

Genossinnen und Genossen

an die Bundesministerin für Justiz

betreffend "Anwendung des Haager Kindesentführungsübereinkommens (HKÜ) nach Inkrafttreten der Brüssel-Ila Verordnung"

Wie bereits in der Anfrage 7912/J dargelegt, entschied der OGH, dass Coralie B., die ihre Söhne Alexander und Maximilian auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ex- Lebensgefährten (des Vaters der Zwillinge) nach Österreich gebracht hat, ihre Kinder nach Frankreich zurückführen muss. Die in der Entscheidung vertretene Auslegung des Haager Kindesentführungsübereinkommens (HKÜ) stimmt mit einem vom BMJ im Jahr 2005 herausgegebenen Kommentar und Leitfaden zum HKÜ überein. Diese Auffassung wurde auch in der Anfragebeantwortung des Justizministeriums (7838/AB) vertreten.

Aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ("Brüssel-Ila VO"), welche am 1. März 2005 in Kraft getreten ist, auch im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, bestehen (nicht nur) für Coralie B. Zweifel an der in Österreich weiterhin herrschenden Auslegungspraxis. Insbesondere die in Art 2 der Brüssel-Ila Verordnung vorgenommenen Begriffsdefinitionen sollen eine EU-weit einheitliche Anwendung des HKÜ sicherstellen, was in der österreichischen Praxis nicht ausreichend sichergestellt scheint. So liegt eine "widerrechtliche Verbringung oder Zurückhaltung eines Kindes" laut Art 2 Z 11 nur dann vor, "wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann". Dies ist nach dem Recht des Herkunftsstaates zu beurteilen. Nach dem französischen Rechtssystem besteht bei gemeinsamer "autorité parentale" kein Recht eines Elternteiles, dem anderen Elternteil die Verlegung des Aufenthaltsortes des Kindes zu verbieten. Es besteht lediglich eine Informationspflicht an den zurückbleibenden Elternteil.

 

Coralie B. ist dieser Informationspflicht nachgekommen, was durch polizeiliche Unterlagen dokumentiert ist. Diesem gravierenden Unterschied gegenüber dem österreichischen Sorgerecht wird sowohl seitens der österreichischen Gerichte als auch durch das Justizministerium keine Berücksichtigung geschenkt. Wie auch in Fällen mit Bezug zu Spanien, wo eine dem französischen Recht ähnliche Rechtslage besteht (patria potestad), wird auch Coralie B. durch österreichische Gerichte der Kindesentführung bezichtigt, obwohl sie sich an die im Herkunftsland geltende Regelung zur Verlegung des Aufenthaltsortes des Kindes gehalten hat und sie ohne die Zustimmung des Kindesvaters mit den Kindern nach Österreich übersiedeln durfte, weshalb es sich nicht um eine "widerrechtliche Verbringung" im Sinne der durch Brüssel lla vorgegebenen Auslegung des HKÜ handeln kann und somit die österreichischen Gerichte für Sorgerechtsentscheidungen zuständig wären.

Angesichts der enormen Bedeutung dieser Fragen für die betroffenen Familien

scheint eine Klarstellung der durch das In-Kraft-Treten der Brüssel-Ila VO im Jahr 2005 veränderten Rechtslage dringend geboten.

In diesem Zusammenhang richten die unterzeichneten Abgeordneten folgende

Anfrage:

1.                                       Ist die in der Brüssel-Ila Verordnung vorgenommene ergänzende Legaldefinition der im HKÜ genannten Begriffe Sorgerecht" (Art 2 Z 9) und widerrechtliche Verbringung" (Art 2 Z 11) bindend für die Auslegung und Anwendung des HKÜ in Fällen, in denen neben Österreich ein weiterer Mitgliedstaat (außer Dänemark) betroffen ist?

2.            Weichen diese Definitionen von der vor Inkrafttreten der Verordnung in Österreich üblichen Auslegungspraxis ab und wenn ja, in welcher Weise?


3.            Werden diese ergänzenden Definitionen in Österreich seit Inkrafttreten der Brüssel-Ila VO entsprechend berücksichtigt?

4.                   Wird in der österreichischen Praxis berücksichtigt, dass - ohne gegenteilige
gerichtliche Entscheidung - die
elterliche Gewalt", wie sie etwa im französischen und spanischen Recht vorgesehen ist, regelmäßig auch das Recht eines Elternteiles umfasst,
ohne die Zustimmung des anderen den Wohnort des Kindes zu verlegen und es sich daher
in diesen Fällen nicht um eine "widerrechtliche Verbringung" handeln kann?

5.                                       Welche Schritte wird Ihr Ministerium setzen, um die seit Inkrafttreten der Brüssel-Ila
VO geltende Rechtslage klarzustellen und eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung zu gewährleisten?

6.                   Welche Maßnahmen werden seitens Ihres Ministeriums getroffen, um Eltern in Österreich zu unterstützen, die von die Brüssel-Ila Verordnung nicht ausreichend
ber
ücksichtigender Rechtsprechung betroffen sind und deren Kindern eine nicht
gerechtfertigte Rückführung in ein anderes EU-Land droht?