Textfeld: K  R  I  M  I  N  A  L   sozio-logie

institut für   R  E  C  H  T  S  -  und

 
                                                                                                        Univ.-Doz. Dr. Arno Pilgram

 

 

 

 

 

 

 

 

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Stellungnahme zum

Entwurf betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch zum Schutz von Unmündigen geändert wird

Begutachtungsverfahren

BMJ-S318.030/0001-IV 1/2011

 

 

 

Die folgende Stellungnahme knüpft an einer Bemerkung in den Erläuterungen zum Entwurf an, die von einer nicht näher quantifizierbaren Zusatzbelastung im Bereich des Strafvollzugs spricht.

 

Das IRKS hat im Zuge einer Studie „Zur Verbreitung von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch und die Inanspruchnahme der Justiz – eine Daten- und Literaturrecherche“[1] auch eine Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik bzw. der Opferstatistik derselben durchgeführt. In dieser Sonderauswertung wurden Daten zur Straftat, zum Alter von Tätern, zu Alter und Geschlecht von Opfern sowie über die Täter-Opfer-Beziehung verknüpft. Damit konnte erstmals ein genaues Bild gewonnen werden, mit wie vielen Verfahren die Strafjustiz im Jahre 2010 konfrontiert war, in denen „volljährigen Tätern eine strafbare Handlung gegen eine unmündige Person vorgeworfen wurde, bei der die Anwendung von Gewalt oder gefährlicher Drohung tatbildlich war“. Damit ist der Anwendungsbereich von § 39a StGB exakt erfasst.

 

2010 wurden der StA durch die Polizei 1.263 unmündige (<14jährige) Opfer von Gewaltdelikten zur Kenntnis gebracht, verübt durch Straftäter, die selbst über 18 Jahre alt waren. (Die Zahl der Beschuldigten dürfte der Zahl der Opfer vergleichbar sein.)

40% (506) dieser Unmündigen waren Opfer einer leichten Körperverletzung (§ 83 StGB), 13% (164) von Quälen/Vernachlässigung i.S.v. §§ 92f StGB und 30% (383) Opfer von Sexualdelikten.

In 65% (826) aller einschlägigen Fälle mit unmündigen Opfern wurden Straftaten angezeigt, in denen das geltende Gesetz derzeit keine Strafuntergrenze für die Freiheitsstrafe nennt oder auch eine Geldstrafe vorsieht, der Entwurf hingegen Mindeststrafen von zwei bzw. drei Monaten vorschlägt. In 35% (437) der Fälle waren nach geltendem Recht Mindeststrafdrohungen von zumindest sechs Monaten und ist künftig die Verdoppelung dieser unteren Strafrahmen von sechs auf 12 Monate bzw. von einem auf zwei Jahre vorgesehen.


Stellt man Erfahrungswerte[2] in Rechnung, dass höchstens ein Viertel der Verfahren zu „Kindesmisshandlungen“ der einen oder anderen Form und höchstens die Hälfte der Verfahren wegen „sexuellem Kindesmissbrauch“ der einen oder anderen Form zu einem Strafantrag bzw. einer Anklage führen und dass die Rate der Freisprüche erheblich ist, kann man davon ausgehen, dass es pro Jahr zu ca. 200 Verurteilungen kommen wird, in denen eine Strafschärfung i.S.v. § 39a Abs.1 Ziff 1 oder 2, und zu ca. 150 Verurteilungen, in denen eine Strafschärfung i.S.v. § 39a Abs.1 Ziff 3 oder 4 wirksam würde.

Auch wenn im unteren Bereich der Vergehen zunächst längere bedingte Freiheitsstrafen anstelle von Geldstrafen oder kurzen unbedingten Freiheitsstrafen die wahrscheinlichere Reaktion der Strafgerichte sind, wird die Strafschärfung doch im oberen Bereich der Straftaten deutlich haftwirksam werden. Es ist aufgrund der neuen Koordinaten für die Strafzumessung insgesamt von 100 bis 200 zusätzlichen Haftjahren bzw. Haftplätzen auszugehen.

 

Ein weiterer Befund der vorliegenden Studie besagt, dass Unmündigen – sofern sie Opfer von Gewalt werden – dies überproportional oft im sozialen Nahraum, innerhalb der Familie, geschieht. 48% aller kindlichen (<14jährigen) Gewaltdeliktsopfer, deren Viktimisierung angezeigt wird,[3] sind Opfer von Familienangehörigen, bei den <6jährigen sind es zwei Drittel (68%), bei den 6-10jährigen 57% und bei den 10-14jährigen 36%.

 

Diesem Umstand der engen familiären Täter-Opfer-Beziehung sind die hohen Dunkelziffern wie auch die hohen Einstellungsraten im Bereich der Kindesmisshandlung und des Kindesmissbrauchs geschuldet. Neben Beweisschwierigkeiten spielen hier bei Anzeigeerstattern wie bei den justiziellen Entscheidungsorganen auch immer Überlegungen mit, dass dem kindlichen Opfer durch eine Anzeige, durch ein gerichtliches Verfahren und mehr noch durch die Bestrafung eines Eltern- oder Stiefelternteils ebenfalls Schaden droht. Eine Erhöhung der Strafdrohungen und mehr noch der Mindeststrafsätze, eingeschränktes Ermessen, sozialen Umständen Rechnung zu tragen, können aus diesem Grunde den kontraproduktiven Effekt haben, dass die Probleme der Abwägung der sozialen Folgen einer Anzeige, einer Anklageerhebung oder Verurteilung für das Opfer bei den entscheidenden Personen größer werden. Die sensible und für Kinder hilfreiche Bearbeitung ihrer Erfahrungen durch ihre Umgebung, durch soziale und medizinische Hilfseinrichtungen und auch im Wirkungskreis der Justiz wird durch Strafdrohungen nicht erleichtert, im Gegenteil.

 

Eine ganzheitliche Betrachtung des strafrechtlichen Kinderschutzes gegen Gewalt hat vor allem auch prozessualen Aspekten Augenmerk zu schenken und dies ist in letzter Zeit auch bewusst und erfolgreich geschehen. Die Einführung der Prozessbegleitung hat – empirisch bestätigt – die Belastung von Kindern und die Gefahr sekundärer Viktimisierung erheblich reduziert. Die Zahl der im Prozess begleiteten Personen ist zwischen 2004 und 2009 kontinuierlich von 1.825 auf 2.962 angestiegen. Es wird statistisch bisher zwar nicht ausgewiesen, welcher Anteil davon auf die Altersgruppe der <14jährigen fällt. Zumindest im Bereich der Viktimisierung von Kindern durch Erwachsene dürfte hier heute jedoch annähernd „Vollversorgung“ erreicht sein.

Probleme, die im Rahmen der IRKS-Studie von ExpertInnen (LeiterInnen von Kinderschutzgruppen an Krankenanstalten) geäußert wurden, liegen in der mangelhaften Vernetzung und dem mangelhaften Informationsaustausch zwischen Kinderschutzeinrichtungen, Jugendwohlfahrt und Prozessbegleitung an Gerichten über das jeweilige Vorgehen im einzelnen Fall. Nicht-Wissen um Fallverläufe nach Intervention durch die Jugendwohlfahrt oder durch die Justiz erschweren Kinderschutz „als lernende Organisation“. Sicherheit in schwierigen Entscheidungssituationen zu gewinnen, wie mit der Handhabung einer bewusst relativierten Anzeigepflicht dem Gesetz und dem Kindeswohl am besten entsprochen werden kann, verlangt die engere Zusammenarbeit aller involvierten Berufsgruppen und Stellen. Organisatorische und nicht strafenpolitische Maßnahmen sind das vorrangige Anliegen der KinderschutzexpertInnen.

 

Aus kriminalsoziologischer Sicht sei daran erinnert, dass vor kurzer Zeit noch die Viktimisierung älterer Personen durch gewalttätige Jugendliche Anlass zu strafrechtlichen Gewaltschutzüberlegungen gab. Es könnte daher gefordert werden, dass allgemein physisch gebrechlichen, hilflosen Personen besonderer strafrechtlicher Schutz zukommen soll. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Strafrecht prinzipiell asymmetrische soziale Machtverhältnisse kompensieren und deren Ausnützen verhindern will. Strafbare Gewalthandlungen können jedoch nicht nur aus einer Position der Überlegenheit geübt werden, sondern auch Konsequenz von Schwäche, von fehlenden Handlungsalternativen und erfahrener Ohnmacht sein. Strafrechtlicher Gewaltschutz, der – auf welche Weise immer – die Möglichkeiten einschränkt, vielfältigen Konstellationen und Entstehungsursachen von Gewalt einzelfallgerecht Rechnung zu tragen, führt absehbar zu Anwendungsproblemen und zu unbefriedigenden Lösungen für konkret betroffene und involvierte Personen.

 

 

 



[1] Unveröffentl. Forschungsbericht des IRKS, September 2011;

die Studienergebnisse standen für den Ministerialentwurf noch

nicht zur Verfügung.

[2] Vgl. Kap. „Analyse der Strafverfahren“, IRKS-Studie, S 35ff.

[3] Bei den nicht-angezeigten Vorkommnissen ist dieser Prozentsatz noch höher einzuschätzen.