An das

 

Bundesministerium für Justiz

Museumstr 7
1070 Wien

 

und an das Präsidium des Nationalrats

Dr. Karl Renner Ring 1-3

1017 Wien

                                                                                     Wien, am 27.02.2012

 

 

 

 

Betrifft: Zum Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem das Gerichtsorganisationsgesetz, die Jurisdiktionsnorm, das Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, das Gerichtsgebührengesetz und die Strafprozessordnung 1975 geändert werden

 

 

 

 

S t e l l u n g n a h m e

 

Der vorliegende Gesetzesentwurf beinhaltet wesentliche Änderungsvorschläge, die einer breiten Diskussion bedürften. Die vom BMJ festgelegten Fristen für Stellungnahmen zu vorher in der Fachöffentlichkeit nicht bekannten und nicht ausreichend diskutierten Gesetzesänderungen werden allerdings immer kürzer und lassen eine annähernd hinreichende Diskussion nicht mehr zu, was aus demokratiepolitischer Sicht bedenklich ist. Die vorliegende Stellungnahme des Weissen Rings kann vor diesem Hintergrund – ohne dem Gesetzesentwurf im Übrigen zuzustimmen – lediglich einige, besonders gravierende Punkte aufgreifen:

 

Die Einführung einer Möglichkeit, dass Opfer in jeder Phase des Verfahrens erklären können sollen, dass sie auf jede weitere Verständigung und Ladung verzichten, ist differenziert zu sehen. Der vorgeschlagene § 70 Abs 1a StPO kommt tatsächlich dem Interesse mancher Opfer entgegen, mit dem Strafverfahren nichts mehr zu tun haben zu wollen. Andererseits kann sich eine entsprechende Ansicht im Zeitverlauf ändern bzw besteht die Gefahr, dass Opfer aus Gründen der Verfahrensökonomie zu einer solchen Verzichtserklärung gedrängt werden. Aus Sicht des Weissen Rings kann dem vorgeschlagenen § 70 Abs 1a StPO nur zugestimmt werden, sofern sichergestellt und nachgewiesen werden kann, dass das Opfer tatsächlich über sämtliche seiner Rechte und Ersatzmöglichkeiten – insb auch im Zuge der Diversion oder als Privatbeteiligte/r im Strafverfahren – informiert wurde. Um sicherzustellen, dass das Opfer hinreichend über seine Rechte informiert wurde, sollte ein Verzicht streng formgebunden sein und allenfalls davor eine anwaltliche Beratung erfolgen. Weiters sollte für Opfer möglich sein, durch spätere Erklärung wieder in die Rechtsposition gelangen zu können, in der ihre Beteiligung im Verfahren wieder zu erfolgen hat. Der Wortlaut der Bestimmung schließt dies zwar nicht aus, dennoch sollte dieser Hinweis ausdrücklich in die Erläuterungen der Regierungsvorlage aufgenommen werden.

Der Vorschlag, gem § 192 Abs 1 Z 1a StPO Opportunitätserwägungen auch schon zur Selektion der Ermittlungstätigkeit Platz greifen zu lassen, ist aus Opfersicht ebenso problematisch wie die Beendigung des Ermittlungsverfahrens aus entsprechenden Gründen. Opfer „unwesentlicher“ Aspekte des kriminellen Gesamtgeschehens müssen es dadurch nämlich hinnehmen, dass „ihr Fall“ von der Justiz nicht einmal einer Ermittlung für würdig befunden wird. Die Konsequenzen eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand: Opfer haben nicht die Möglichkeit, im Strafverfahren Ersatz zu erlangen, bzw können nicht erleben, dass das ihnen Widerfahrene durch ein Strafurteil als Unrecht gekennzeichnet wird. Nicht nur den Opfern, sondern auch der Allgemeinheit entsteht der Eindruck: Je umfangreicher jemand kriminell wird bzw einen entsprechenden Verdacht auf sich zieht, desto weniger interessiert das einzelne Opfer. Die Einführung eines § 192 Abs 1 Z 1a StPO wird daher abgelehnt.

 

Gegen die im Sinne eines § 198 Abs 3 StPO vorgeschlagene Erweiterung der Diversion bestehen grundlegende dogmatische und rechtspolitische Einwände. Wenngleich eine Ausweitung der Diversion auf weitere Deliktsbereiche grundsätzlich in Betracht gezogen werden könnte, so lässt die vorgeschlagene Erweiterung insgesamt eine inhaltlich stimmige Lösung vermissen, sondern greift (wahllos) drei Deliktsbereiche heraus.

Der Verzicht auf die hinreichende Klärung des Sachverhaltes widerspricht erstens den zwingenden Erfordernissen von § 198 Abs 1 StPO und zweitens den für eine kriminal- und gesellschaftspolitische Akzeptanz der Diversion notwendigen Voraussetzungen. Ohne Klärung des Sachverhaltes kann die Anklagebehörde ja nicht sachgerecht entscheiden, ob eine Einstellung des Verfahrens, ein diversionelles Vorgehen oder eine Anklage geboten ist. Zudem ist nicht einzusehen, warum im „Normalfall“ diese Klärung bestehen bleibt, aber gerade bei besonders schweren Fällen, die vor dem Schöffengericht abzuhandeln wären, darauf verzichtet wird. Letztlich ist die vorgeschlagene Gesetzesänderung nichts anderes als ein „Deal“, der zumindest bisher von Rechtsprechung und Gesetzgebung vehement abgelehnt wurde. Es entsteht zumindest der Eindruck, dass sich die Anklagebehörde die Nichtklärung eines strafrechtlich relevanten Sachverhaltes „abkaufen“ lässt. Damit ist aber das diversionelle Vorgehen nicht mehr als sachgerechte Reaktion zu begründen.

Aus Opfersicht sprechen gegen die vorgeschlagene Ausweitung der Diversion im Besonderen mehrere Überlegungen: Schon beim derzeitigen Anwendungsbereich der Diversion wird dem Erfordernis der Schadensgutmachung de facto kaum Rechnung getragen. Soll die Diversion auch auf schwerere Fälle der Vermögenskriminalität anwendbar sein, so wird dieses Problem noch weiter verschärft. Auch Opfer größere Vermögensschäden würden dann im Strafverfahren keinen Ersatz erlangen. Abgesehen davon erscheint eine Anwendung der Diversion etwa auf Fälle des Raubes nicht sachgerecht, weil sich Beschuldigte dadurch trotz einer in aller Regel beträchtlichen Inanspruchnahme des Opfers durch die Tat „freikaufen“ könnten.

 

Die Abschaffung der öffentlichen Gerichtstage wird auf Grund der Tatsache, dass diese Institution von der Bevölkerung kaum genutzt wird, als sachgerecht beurteilt. Jedoch sollte es weiterhin möglich sein, mittels terminlicher Vereinbarung den Zugang zur freien gerichtlichen Beratung zu garantieren, was insbesondere für das Pflegeschafts- und Sachwalterschaftsrecht von großer Bedeutung ist.

Betreffend der Änderungen des Gerichtsgebührengesetzes sind aus Opfersicht (genau so wie aus Beschuldigtensicht bzw. aller Beteiligter im Zivilverfahren) die Kosten für Ablichtungen aus den Akten schlicht unangemessen hoch und erschweren den Zugang zum Recht auf unerträgliche Weise. Eine elektronische Übermittlung der ohnedies gespeicherten Aktenteile zu einem geringen Pauschalsatz wird hier dringend angeregt.

Mit der Bitte, diese Anregungen zu berücksichtigen,

                                                       

 

HonProf. Dr. Udo Jesionek                                        

         Präsident