Universität für Bodenkultur Wien

University of Natural Resources and Life Sciences, Vienna

                                                   

Department für Raum, Landschaft und Infrastruktur

Institut für Verkehrswesen

em. o.Univ. Prof. DI Dr. Gerd Sammer

 

 


 

Wien, 7. Dezember 2018

 

Betrifft: Stellungnahme zum Entwurf der aktuellen Novelle zur Straßenverkehrsverordnung 1960, zuletzt geändert durch BGBl. 1, Nr. 50/2012

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich erlaube mir Ihnen folgende Stellungnahme zur geplanten Novelle der Straßenverkehrsordnung zu schicken:

 

1.    Grundsätzliches: Die Einbeziehung von Fahrradstraßen und Begegnungszonen in die StVO wird grundsätzlich begrüßt, weil damit einem wichtigen Bedürftnis nach einer Stärkung der Position des nichtmotorisierten Verkehrs im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung des Verkehrs Rechnung getragen wird. Allerdings ist festzuhalten, dass einerseits eine Reihe von grundsätzlichen, aus verkehrswissenschaftlicher Sicht in diesem Sinne notwendigen Änderungen nicht beinhaltet ist (Pkt. 2 bis 3) und andererseits die vorgeschlagenen Änderungen wichtiger Ergänzungen bedürfen (Pkt. 5 bis 10). Diese sind im Folgenden angeführt.

 

2.    Änderung des Verkehrszeichens Begegnungszone (§ 53, Abs. 1, Z 9e und 9 f): Der Entwurf zeigt ein Bild, in dem das Auto an oberster Stelle situiert ist. Das suggeriert beim Betrachter eine optische Bevorrangung des Autos. Dies lässt sich leicht ändern, indem der Fußgänger an oberster, der Radfahrer an der nächsten und das Auto an der untersten Stelle situiert wird. Es stellt sich bei gendermäßiger Betrachtung die Frage, warum der dargestellte Fußgänger eindeutig eine männliche Person darstellt.

 

3.    Änderung des Verkehrszeichens Geh- und Radweg ohne Benützungspflicht (§ 53, Abs. 1, Z 28a): Der Entwurf zeigt ein Bild, in dem das Fahrrad ober dem Fußgänger situiert ist. Das suggeriert beim Betrachter eine optische Bevorrangung des Radfahrers gegenüber dem Fußgänger. Dies lässt sich leicht ändern, indem der Fußgänger oben und der Radfahrer darunter situiert wird. Es stellt sich bei gendermäßiger Betrachtung auch hier die Frage, warum der dargestellte erwachsene Fußgänger eindeutig eine männliche Person darstellt. Dasselbe gilt auch für die derzeitigen Verkehrszeichen Geh- und Radweg mit Benützungspflicht (§52, Z17 und 17a).

 

 

4.    Änderung der Regelung des Nebeneinanderfahrens von Radfahrern (§68 Abs. 2): Es ist sachlich schwer zu begründen, warum nur bei „Trainingsfahrten mit Rennfahrrädern“ auf Radwegen, in Wohnstraßen, Fahrradstraßen, in Begegnungszonen nebeneinander gefahren werden darf. Dies sollt im Sinne der Förderung der Fahrradnutzung für die hier genannten Fälle (also nicht auf sonstigen Straßen mit öffentlichem Verkehr) allen Radfahrern ermöglicht werden (siehe Niederlande). Verkehrssicherheitsmäßig spricht nichts dagegen, da dadurch vor allem Kinder geschützt werden können, wenn sie rechts von einer erwachsenen Aufsichtsperson fahren.

 

5.    Ergänzung des Paragraphen § 76c, Abs. (2): Einfügen nach „ …, haben von“ der folgenden Ergänzung: „…, haben von Fußgängern, ortsgebundenen Gegenständen oder…..“. Dies ist eine der wichtigsten Verhaltensweisen für Fahrzeuglenker, um vor allem ältere Personen vor einer Kollision zu schützen, wenn sie beim Überholvorgang durch Radfahrer oder KFZ-Lenker erschrecken und einen unvermuteten Seitenschritt machen.

 

6.    Änderung des Paragraphen § 76c, Abs. (4): Statt „…oder die Einhaltung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit gewährleistet wird“ sollte formuliert werden „„…oder die Einhaltung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit unterstützt“ wird“. Schwellen können die Einhaltung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit nicht gewährleisten, wohl aber unterstützen.

 

7.    Ergänzung der Verhaltensregelung für Rollschuhfahrer in §88a, Abs. (3): Neben der Anpassung der Geschwindigkeit an Fußgänger ist insbesondere ein ausreichender Abstand der Rollschuhfahrer zu Fußgängern zu gewährleisten. Dies ist eine der wichtigsten Verhaltensweisen, um vor allem ältere Personen vor einer Kollision zu schützen, wenn sie beim Überholvorgang durch Rollschuhfahrer erschrecken und einen unvermuteten Seitenschritt machen. Einfügen in den Text nach „…anpassen“: „und einen ausreichenden seitlichen Abstand von Fußgängern zu halten

 

8.    Generelle Neufestlegung der Höchstgeschwindigkeit: Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung des Verkehrs ist eine Ergänzung der derzeitigen Klassifizierung der Höchstgeschwindigkeit durchzuführen, die dem heutigen Stand des Wissens entspricht:

-     Die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen und Schnellstraßen sollte auf 110 km/h beschränkt werden. Dies ist nachweislich ein essentieller Beitrag zur signifikanten Hebung der Verkehrssicherheit und der Verringerung der negativen Umweltauswirkungen durch den motorisierten Verkehr (Verminderung von Lärm und Abgasemissionen)  sowie der Einsparung von Energie und Treibhausgasemissionen. Außerdem können damit die Entwurfsparameter von Straßenanlagen so angepasst werden, dass die Investitionen in die  Straßeninfrastruktur billiger und die Landschaftsverträglichkeit verbessert wird. Die zu erwartenden Fahrzeitverluste sind gesamtwirtschaftlich weitaus geringer als die erzielbaren Vorteile.

-     Die Höchstgeschwindigkeit auf zweistreifigen Straßen außerorts sollte in der Regel 8o km/h betragen. Nur bei einer speziellen Prüfung der Eignung einzelner Straßenabschnitte für eine höhere Geschwindigkeit soll 100 km/h zulässig sein. Dies ist z.B. der Fall, wenn eigene Radwege, landwirtschaftliche Begleitwege, eine ausreichend gestreckte Linienführung und Fahrbahnbreite vorhanden sind. Als Argumentation gilt im Prinzip dasselbe wie für Autobahnen und Schnellstraßen, wobei der Sicherheitsgewinn um ein Mehrfaches höher einzustufen ist.

-     Die Höchstgeschwindigkeit  auf Innerortsstraßen ohne Vorrang soll generell mit 30 km/h festgelegt sein. Das bedeutet, dass nur ausgewiesene Vorrangstraßen mit Tempo-50 befahren werden dürfen. Der große Vorteil aus Verkehrssicherheits- und Umweltgründen liegt darin, dass die Höchstgeschwindigkeit innerorts zwei Kategorien hat, was den jeweiligen unterschiedlichen Nutzungs- und Gestaltungskategorien entspricht. Dies wird, allerdings mit viel Aufwand an Beschilderung in einzelnen Orten (z.B. Graz) schon seit nahezu 20 Jahren praktiziert und hat sich auch international sehr bewährt. Es gilt sonst dieselbe Argumentation wie vorhin.

 

9.    Präzise Formulierung der Grundsätze „Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit“  des Verkehrs; Ergänzung dieser Grundsätze durch „Förderung einer nachhaltigen Entwicklung des Verkehrs“: Ein zentrales Problem ergibt sich bei vielen rechtlichen Argumentationen im Rahmen der Anwendung der StVO dadurch, dass insbesondere der Begriff „Leichtigkeit des Verkehrs“ fachlich nicht eindeutig definiert ist und je Art der Verkehrsteilnahme unterschiedlich auslegbar ist.

Kriterium Leichtigkeit des Verkehrs

Der Begriff Leichtigkeit des Verkehrs für alle Straßenbenützer ist in der StVO nicht eindeutig definiert. Aus verkehrswissenschaftlicher Sicht ist darunter die möglichst behinderungsfreie Fortbewegung der Straßenbenützer im Verkehr zu verstehen. Für die einzelnen Straßenbenützer spezifiziert bedeutet dies im Hinblick auf die Höhe der zulässigen Geschwindigkeit folgendes:

·       Fußgänger: Die zulässige Höchstgeschwindigkeit von Kfz ist für den Fußgängerverkehr beim Queren der Fahrbahn relevant. Niedrigere Geschwindigkeiten von Kfz sind für Fußgänger leichter einzuschätzen. Sie verringern die für ein sicheres Queren erforderlichen Abstände vor näherkommenden Fahrzeugen und erhöhen die Anhaltebereitschaft von Kfz-Lenkern. Somit wird das Queren der Fahrbahn für den Fußgänger deutlich leichter. So benötigt z.B. ein Fußgänger für das sichere Überqueren einer 5 m breiten Fahrbahn bei Tempo-40 einen Mindestabstand von 40 m zum nahenden Auto, ohne dass dessen Lenker das Tempo vermindern muss. Bei Tempo‑30 reicht ein Mindestabstand von 30 m aus.

·       Radverkehr: Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit für Kfz ist für den Radverkehr einer­seits beim Queren der Fahrbahn und andererseits beim gemeinsamen Benützen der Fahrbahn in Längsrichtung von Relevanz. Untersuchungen belegen eindeutig, dass das Verkehrsverhalten zwischen Autolenkern und Radfahrern bei niedrigeren zulässigen Geschwindigkeiten kooperativer ist und damit die Leichtigkeit der Fortbewegung für beide Verkehrsteilnehmer tendenziell zunimmt. Hier zeigt sich auch der Effekt, dass die Bereitschaft von Kfz-Lenkern auf Radfahrer Rücksicht zu nehmen (z.B. durch seitlich stärkeres Ausweichen oder langsameres Überholen des Radfahrers), mit abnehmender Fahrgeschwindigkeit zunimmt.

·       Autoverkehr: Hier sind zwei gegenläufige Tendenzen zu beachten: Niedrigere Kfz-Geschwindigkeiten erhöhen einerseits die Anhaltebereitschaft bei potenziellen Konflikten mit anderen Verkehrsteilnehmern, verringern damit tendenziell die Leichtigkeit des verkehrlichen Fortkommens des Kfz-Verkehrs; andererseits wird im Kreuzungsbereich für andere Kfz-Lenker das Setzen von Fahrmanöver bei niedrigeren Kfz-Geschwin­digkeiten deutlich leichter.

Kriterium Flüssigkeit des Verkehrs

Die Flüssigkeit des Verkehrs wird in der Verkehrsflusstheorie durch die Beibehaltung einer angepassten gleichmäßigen Geschwindigkeit ohne Stocken charakterisiert und bedingt auch das Vorhandensein einer ausreichenden Leistungsfähigkeit. Diese ist laut Fundamentaldiagramm des Kfz-Verkehrsflusses bei Straßen im Außerortsbereich etwa zwischen 50 und 80 km/h am Größten. Im Innerortsbereich liegt dieser Bereich auf Grund von geregelten Kreuzungen niedriger. Die Gleichsetzung der Begriffe gute Flüssigkeit des Straßenverkehrs mit möglichst hoher Fahrgeschwindigkeit des Kfz-Verkehrs ist keinesfalls zulässig, was durch die Verkehrsflusstheorie eindeutig belegt wird: eine Homogenisierung im Sinne einer Vergleichmäßigung der Geschwindigkeit der Kfz erhöht die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs. Deshalb wird z.B. bei starker Auslastung auf Autobahnen die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Wechselverkehrszeichen reduziert. Im untergeordneten Straßennetz ist für die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs vor allem die Häufigkeit von Kreuzungen relevant, weil hier auf Grund von geringen Sichtweiten sowie der Ein- und Ausfädel- und Kreuzungsmanover die Fahrgeschwindigkeit deutlich reduziert werden muss. Geht man davon aus, dass die Annäherungsgeschwindigkeit bei Kreuzungen mit Rechtsvorrangregelung je nach Sichtweite etwa 20 bis 40 km/h nicht überschreiten soll, so kann der Geschwindigkeitsverlauf entlang einer untergeordneten Straße tendenziell bei geringerem Tempo homogener und damit auch flüssiger ablaufen als bei höherem Tempo. Diese Überlegung gilt auch für den gemischten Verkehr zwischen Kfz- und Radverkehr, da bei geringerem Tempo die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Kfz- und Radverkehr geringer und der Verkehrsfluss homogener wird. Wenn man die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs mit hoher Fahrgeschwindigkeit gleichsetzen würde, so ist das aus verkehrswissenschaftlicher Sicht falsch. Dies erfolgt aber häufig im Rahmen von Sachverständigengutachten, wie es die Erfahrung zeigt.

 

10.  Neufassung der STVO: Inzwischen gibt es 24 beschlossene Novellen der StVO 1960. Das bedeutet, dass sie ein nicht immer konsistentes Stückwerk geworden ist, das für den Bürger und Verkehrsteilnehmer undurchschaubar und unübersichtlich ist. Zum Teil existieren sogar Widersprüche (z.B. Verkehrszeichen für Vorrangregelung an Kreuzungen von nicht Vorrangstraßen). Die StVO ist nur für studierte Juristen verständlich, wenn man alle relevanten Kommentare und höchstgerichtlichen Urteile gelesen hat. Da die StVO ein Gesetz ist, das für den normalen Bürger im Alltag eine besondere Bedeutung hat, deren nicht Verstehen zu gefährlichen gesundheitlichen Konsequenzen führen kann, ist dringend zu empfehlen, eine komplette, in sich konsistente Neufassung anzugehen. Zu diesem Thema läuft derzeit am Institut für Verkehrswesen der Universität für Bodenkultur eine Dissertation. Es gibt gute internationale Beispiele, wie eine StVO übersichtlich und leicht verständlicher abzufassen und zu strukturieren ist (Beispiel Großbritannien, Deutschland). Das sollte auch für Österreich möglich sein.

 

Ich stehe für eine Interpretation der Vorschläge gerne zur Verfügung!

 

 

Mit freundlichen Grüßen

 

 

Gerd Sammer