203 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXV. GP

 

Bericht

des Justizausschusses

über die Regierungsvorlage (181 der Beilagen): Bundesgesetz, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Jugendgerichtsgesetz 1988, das Suchtmittelgesetz, das Staatsanwaltschaftsgesetz, das Geschworenen- und Schöffengesetz 1990, das Tilgungsgesetz 1972 und das Gebührenanspruchsgesetz geändert werden (Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014)

Der Nationalrat hat die Bundesministerin für Justiz mit Entschließung betreffend Schlussfolgerungen aus den Beratungen des zur Vorbehandlung des Berichts der Bundesministerin für Justiz betreffend die Rechtspraxis des Ermittlungsverfahrens nach der Strafprozessreform auf Grund der Entschließung des Nationalrates vom 5. November 2009, 53/E XXIV. GP (III-272 d.B.) und des Antrags 150/A(E) der Abgeordneten Mag. Ewald Stadler, Kolleginnen und Kollegen betreffend Wiedereinführung des Untersuchungsrichters eingesetzten Unterausschusses des Justizausschusses vom 5. Juli 2013, 333/E XXIV. GP, im Lichte der Ergebnisse der Anhörung von Experten zur Evaluation der Strafprozessreform aufgefordert, dem Nationalrat ehestmöglich entsprechende gesetzliche Vorhaben zu unterbreiten, die notwendig sind, um das Reformwerk abzurunden und erkannte Mängel zu beseitigen. Das betrifft u.a. insbesondere folgende Bereiche:

-       Eindeutige Abgrenzung des Begriffs des Beschuldigten von Personen, die ohne hinreichendes Substrat angezeigt werden, und damit Definition des zur Führung eines Ermittlungsverfahrens hinreichenden Anfangsverdachts;

-       Gewährleistung eines effizienten Rechtsschutzes durch Ausbau der Instrumente des Einspruchs wegen Rechtsverletzung und des Antrags auf Einstellung sowie effektiver höchstgerichtlicher Grundrechtskontrolle;

-       Verstärkung gerichtlicher Kontrolle gegenüber unangemessener Verfahrensdauer;

-       Klarstellung der Objektivität und Unabhängigkeit von Sachverständigen sowie verstärkte Beteiligungsmöglichkeiten der Verteidigung im Bereich der Bestellung von Sachverständigen und der Kontrolle des Ergebnisses ihrer Tätigkeit;

-       Neuregelung des Ersatzes der Verteidigungskosten unter Berücksichtigung der vermehrten Notwendigkeit einer Beiziehung von Verteidigern im Ermittlungsverfahren.

Der Entwurf dient der Umsetzung dieser Entschließung. Die weiteren Punkte der Entschließung werden im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (im Folgenden RL Rechtsbeistand), ABl. Nr. L 294 vom 06.11.2013 S. 1, und der Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (im Folgenden RL Opfer), ABl. Nr. L 315 vom 14.11.2012 S. 57 umgesetzt werden, wobei die Umsetzung bis zum 27. November 2016 (RL Rechtsbeistand) bzw. bis zum 16. November 2015 (RL Opfer) zu erfolgen hat.

 

Durch den gegenständlichen Entwurf werden folgende Hauptgesichtspunkte verfolgt:

1.)    Präzisierung des Zeitpunkts des Beginns des Strafverfahrens, Einführung des Begriffs „Anfangsverdacht“ unter gleichzeitiger Einführung einer neuen Rolle des Verdächtigen.

2.)    Einführung einer amtswegigen Überprüfung der Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens durch den Einzelrichter des Landesgerichts im Ermittlungsverfahren.

3.)    Wiedereinführung des zweiten Berufsrichters für komplexe und schwierige Schöffenverfahren.

4.)    Erweiterte Einbindung des Beschuldigten in die Sachverständigenbestellung im Ermittlungsverfahren samt Ausbau des Rechtsschutzes bei möglicher Befangenheit oder Zweifeln an der fachlichen Qualifikation des Sachverständigen.

5.)    Deutliche Anhebung der für den Ersatz der Verteidigungskosten des freigesprochenen Angeklagten vorgesehenen Höchstbeträge.

6.)    Einführung eines neuen Mandatsverfahrens.

7.)    Schaffung einer klaren Rechtsgrundlage für staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit während des Strafverfahrens.

8.)    Verfahrensrechtliche Anreize für die Beendigung des Strafverfahrens durch Diversion.

9.)    Ausbau des Datenschutzes bei der Übermittlung von im Ermittlungsverfahren gewonnen Daten an Gerichte und andere Behörden.

 

Der Justizausschuss hat die gegenständliche Regierungsvorlage in seiner Sitzung am 25. Juni 2014 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer dem Berichterstatter Dipl.-Ing. Nikolaus Berlakovich die Abgeordneten Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES, Mag. Harald Stefan, Dr. Johannes Jarolim, Mag. Albert Steinhauser, Mag. Gisela Wurm und Mag. Elisabeth Grossmann sowie der Bundesminister für Justiz Dr. Wolfgang Brandstetter und die Ausschussobfrau Abgeordnete Mag. Michaela Steinacker.

 

Im Zuge der Debatte haben die Abgeordneten Mag. Michaela Steinacker und Dr. Johannes Jarolim einen Abänderungsantrag eingebracht, der wie folgt begründet war:

„Zu Z 3 (§ 76 Abs. 4 StPO):

Durch die Änderung soll einerseits ausdrücklich klargestellt werden, dass die Übermittlung von Daten immer nur dann zulässig ist, wenn diese in einem Strafverfahren zulässig als Beweis Verwendung finden dürfen.

Ferner stellt auch schon die Übermittlung von Daten zum Zweck deren Verwendung in einem anderen Verfahren einen Eingriff in das durch § 1 DSG 2000, Art. 8 MRK und Art. 8 GRC geschützte Grundrecht des Betroffenen auf Datenschutz dar. Aus diesem Grund sehen die Z 1 und 2 an der Intensität des Grundrechtseingriffs gemessene Beschränkungen in der Zulässigkeit der Datenübermittlung vor. Aus § 1 Abs. 2 DSG 2000 ist jedoch auch das Erfordernis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall abzuleiten: Eine Übermittlung von Daten soll nur erfolgen dürfen, wenn die im Einzelfall damit verfolgten Zwecke (etwa öffentliche Interessen oder die Interessen Beteiligter an jenen Verfahren, für deren Führung die Daten übermittelt werden) bedeutender sind als die schutzwürdigen Geheimhaltungsinteressen der von der Übermittlung Betroffenen. Implizit ist damit auch verbunden, dass Daten nur in jenem Umfang übermittelt werden dürfen, in dem dies jeweils erforderlich und verhältnismäßig ist.

Zu Z 4 (§ 91 Abs. 2 StPO):

Im Einklang mit der in § 1 Abs. 2 erster Satz StPO enthaltenen Definition des Beginns des Strafverfahrens, die auf den Anfangsverdacht abstellt, soll neben der Nutzung von allgemein zugänglichen oder behördeninternen Informationsquellen auch die Durchführung von Erkundigungen (§§ 151 Z 1, 152 StPO) zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, vor Beginn des Strafverfahrens möglich sein. Da die Ermittlung iSd § 91 Abs. 2 zweiter Satz StPO als Erkundigung oder als Beweisaufnahme durchzuführen ist, wird zur Klarstellung in Abs. 2 dritter Satz eingefügt, dass Erkundigungen zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, keine Ermittlung in diesem Sinn darstellen.

Zu Z 5 (§ 100 Abs. 3a StPO):

Entsprechend der Leitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren soll klargestellt werden, dass die Kriminalpolizei nicht nur jene Fälle an die Staatsanwaltschaft zu berichten hat, in denen sie Zweifel am Vorliegen eines Anfangsverdachts hat, sondern grundsätzlich auch solche, in denen sie der Auffassung ist, dass kein Anfangsverdacht vorliegt, aber dennoch die Aufnahme einer „Anzeige“ erfolgte. Für Sachverhalte, die gegebenenfalls von in puncto Zuständigkeit fehlgeleiteten Bürgern an die Kriminalpolizei herangetragen werden und die nicht einmal im entferntesten Anhaltspunkte für einen strafrechtlich relevanten Anfangsverdacht enthalten, besteht wie bisher auch weiterhin keine Berichtspflicht nach der StPO.

Zu Z 6 und 8 (§§ 104 Abs. 1 und 126 Abs. 5 StPO):

Der Justizausschuss will Einwänden der mangelnden Praktikabilität der im Bereich der Sachverständigen vorgeschlagenen Neuregelung Rechnung tragen und dem Beschuldigten ganz im Sinne des durch Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierten Rechts, die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken (vgl. Ratz in FS-Fuchs, Brauchen wir Privatsachverständige im Strafverfahren?, 377 ff, 391), das Recht einräumen die Bestellung im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme beantragen zu können. Vereinfachungs- und Beschleunigungsaspekten entspricht es – orientiert am bewährten System des § 106 Abs. 4 und 5 StPO -, dass eine gerichtliche Entscheidung über die Enthebung dann entbehrlich wird, wenn die Staatsanwaltschaft dem Begehren des Beschuldigten vollinhaltlich Rechnung trägt. Dem Begehren auf gerichtliche Beweisaufnahme kann natürlich nur durch das Gericht selbst entsprochen werden.

Durch diese vorgeschlagene Änderung wäre auch sichergestellt, dass die Vorschrift des § 126 Abs. 4 dritter Satz StPO keiner Relativierung nach Maßgabe der von 12 Os 90/13x und 11 Os 51/13d angestellten Überlegungen mehr zugänglich ist.

Im Rahmen der gerichtlichen Beweisaufnahme durch Sachverständige zu stellende Anträge sollen keiner Begründung iSd § 55 Abs. 1 dritter Satz StPO bedürfen, weil nur das Kriterium zu beachten wäre, dass keine Verzögerung damit verbunden sein darf, was durch die vorgeschlagen Änderung des § 104 Abs. 1 StPO klargestellt werden soll (vgl. Ratz in FS-Fuchs, Brauchen wir Privatsachverständige im Strafverfahren?, aaO, 394f). Dabei ist zu unterscheiden, das Gericht kann bei fehlender Gesetzmäßigkeit den Antrag abweisen oder im Fall der Stattgebung einzelne Fragen oder Ergänzungen abweisen, beides hat mit anfechtbarem Beschluss zu erfolgen.

Der weitere Ablauf orientiert sich am System der gerichtlichen Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren, Staatsanwaltschaft und Beschuldigter sollen unter den gleichen Bedingungen Fragen an den Sachverständigen richten oder die Ergänzung von Befund und Gutachten beantragen können, worüber das Gericht mit Beschluss zu entscheiden hätte.

Zu Z 7 (§ 108a StPO):

Mit den vorgeschlagenen Änderungen wird in erster Linie redaktionellen Anmerkungen aus dem Begutachtungsverfahren begegnet. So wird in Abs. 1 klargestellt, dass eine fristwahrende Beendigung des Ermittlungsverfahrens auch durch Einbringung der Anklage erfolgt. Durch die in Abs. 4 aufgenommene Konkretisierung der fristauslösenden Verfahrenshandlungen für jeden an der Tat beteiligten Beschuldigen im Wege eines Verweises auf § 58 Abs. 3 Z 2 StGB kann die allgemeiner gehaltene, in Abs. 1 enthaltene, Wortfolge „ab der ersten gegen den Beschuldigten gerichteten Ermittlung“ entfallen.

Nach dem ursprünglich vorgeschlagenen Text bestand Unsicherheit darüber, welche Konsequenzen es nach sich zieht, wenn das von der Staatsanwaltschaft bei mehr als dreijähriger Dauer des Ermittlungsverfahrens befasste Gericht feststellt, dass kein Grund für eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 108 Abs. 1 Z 1 oder Z 2 StPO besteht, jedoch eine der Staatsanwaltschaft anzulastende Verletzung des Beschleunigungsgebots vorliegt. Liegen die Voraussetzungen des § 108 Abs. 1 Z 1 oder Z 2 StPO nicht vor (bei Vorliegen einer dieser Voraussetzungen hat das Gericht das Verfahren einzustellen), hat das Gericht sowohl auszusprechen, dass sich die Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens um zwei Jahre verlängert, als auch, unter Abwägung der in Abs. 3 erster Satz genannten Kriterien, ob eine der Staatsanwaltschaft anzulastende Verletzung des Beschleunigungsgebots vorliegt. Durch die nunmehr vorgeschlagene Formulierung soll klargestellt werden, dass – entsprechend dem Prinzip der amtswegigen Wahrheitsforschung und dem staatlichen Auftrag der Strafverfolgung (siehe dazu bereits die Erläuternden Bemerkungen) – ein gerichtlicher Ausspruch der Verletzung des Beschleunigungsgebots keinen neuen, eigenständigen Grund für die Beendigung des Ermittlungsverfahrens (sei es durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft) darstellt.

Zu Z 9 (§ 362 Abs. 2 StPO):

Zur Vermeidung eines Umkehrschlusses hätte diese Änderung zu entfallen, weil sich die Wiederaufnahme auch auf Vorgänge im Ermittlungsverfahren erstrecken kann.

Zu Z 10 (§ 491 Abs. 1 Z 3 StPO):

Um Unsicherheiten zu begegnen, ob die vor einer diversionellen Erledigung geforderte Berücksichtigung von Rechten und Interessen der Opfer, die (primär an die Staatsanwaltschaften gerichtet) in § 206 StPO geregelt ist, auch weitreichend genug ausfällt, um sie sinngemäß (durch entsprechende Zitierung im Klammerausdruck) als Voraussetzung für die gerichtliche Festsetzung der Strafe durch schriftliche Strafverfügung zu statuieren, soll nunmehr ausdrücklich und originär für das neue Mandatsverfahren als weiteres Zulässigkeitserfordernis festgelegt werden, dass die Rechte und gerechtfertigten Interessen des Opfers keine Beeinträchtigung erfahren dürfen.

Zu Z 12 und 13 (Entfall des Artikels 6 und Neunummerierung der Artikel 7 und 8):

Die vorgeschlagene Regelung der beschränkten Auskunft für Verurteilungen im Rahmen eines Mandatsverfahrens begegnet nicht nur schwerwiegenden verfassungsrechtlichen (gleichheitsrechtlichen) Bedenken, sondern ließe sich auch nur mit aufwändigen Systemänderungen im Strafregister vollziehen lassen. Aus diesem Grund soll die vorgeschlagene Änderung des Tilgungsgesetzes entfallen.“

 

Bei der Abstimmung wurde der in der Regierungsvorlage enthaltene Gesetzentwurf unter Berücksichtigung des oben erwähnten Abänderungsantrages der Abgeordneten Mag. Michaela Steinacker und Dr. Johannes Jarolim in getrennter Abstimmung mit wechselnden Mehrheiten (dafür: S, V, T, dagegen: F, G, N bzw. dafür: S, V, T, N, dagegen: F, G) beschlossen.

 

Ein im Zuge der Debatte von der Abgeordneten Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES, eingebrachter Abänderungsantrag fand hingegen keine Mehrheit (dafür: N, dagegen: S, V, F, G, T).

 

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Justizausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem angeschlossenen Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.

Wien, 2014 06 25

                  Dipl.-Ing. Nikolaus Berlakovich                                         Mag. Michaela Steinacker

                                   Berichterstatter                                                                            Obfrau