635 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXV. GP

 

Bericht

des Ausschusses für Arbeit und Soziales

über den Antrag 1146/A(E) der Abgeordneten Mag. Birgit Schatz, Kolleginnen und Kollegen betreffend Rechtsanspruch auf Bildung und Qualifikation (Bildungskonto)

Die Abgeordneten Mag. Birgit Schatz, Kolleginnen und Kollegen haben den gegenständlichen Entschließungsantrag am 20. Mai 2015 im Nationalrat eingebracht und wie folgt begründet:

„Die Bundesregierung verspricht im Regierungsprogramm eine Ausbildungsverpflichtung. Dies bedingt automatisch einen Rechtsanspruch auf Ausbildung und Qualifikation für junge Menschen. Auch wenn einer Ausbildungsverpflichtung/einem Rechtsanspruch auf Ausbildung und Qualifikation für junge Menschen sinnvoll und begrüßenswert sein kann, so ist dies einerseits für sich allein weder eine hinreichende Antwort auf die uns beschäftigenden Arbeitsmarktprobleme noch verfassungskonform. Ein Rechtsanspruch auf Ausbildung lässt sich angesichts der großen Probleme von Menschen aller Altersgruppen ohne einsetzbare Berufsausbildung am Arbeitsmarkt nicht auf junge Menschen beschränken, ohne den Grundsatz der Gleichbehandlung zu verletzen. Der Anspruch auf Ausbildung und Qualifikation hat alle Menschen mit geringer Ausbildung und Problemen am Arbeitsmarkt – ungeachtet ihres Alters - zu umfassen.

Tatsache ist, dass Menschen ohne eine über die Pflichtschulabschluss hinausgehende Ausbildung der mit Abstand höchsten Gefährdung durch Arbeitslosigkeit und Armut ausgesetzt sind. Aber auch Menschen mit Lehrabschluss, aber ohne Zusatzqualifikationen, sind fast doppelt so stark von Arbeitslosigkeit bedroht wie Menschen mit höheren Abschlüssen.

Es muss daher ein entscheidendes Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein, die Ausbildungs- und Qualifikationsdefizite von Menschen mit besonderem Arbeitslosigkeitsrisiko zu verringern, und dies geht nachhaltig nur mit der deutlichen Verbesserung der Ausbildungssituation und der Qualifikation der betroffenen Menschen.

Eine nachhaltige Ausbildungs- und Qualifikationsoffensive muss zumindest auf vier Beinen stehen, um nicht wackelig zu sein:

Erstes Standbein: Beratungsphase

Die vorgeschlagene Ausbildungs- und Qualifikationsstrategie umfasst einen Rechtsanspruch auf bildungs- und qualifikationsbezogene Beratung durch eine weisungsfreie, den KlientInnen verpflichtete Einrichtung, die selbst nicht Anbieterin von Bildungs- und Qualifikationsleistungen ist. Dies kann eine eigene, weisungsfrei gestellte Einheit des AMS sein, aber auch eine externe Einrichtung. Alle beim AMS als arbeitssuchend gemeldeten Personen haben das Recht der Inanspruchnahme dieser Beratungsleistung. Die ersten zwei Wochen einer Phase der Arbeitslosigkeit dienen nicht primär der Vermittlung, sondern der Beratung und Entscheidungsfindung hinsichtlich einer zusätzlichen Qualifikation. Während dieser zwei Wochen sind arbeitslose Menschen nicht verpflichtet, Arbeitsangebote anzunehmen. Selbstverständlich können arbeitslose Menschen auch in dieser Phase auch Zuweisungen des AMS oder eine Beschäftigung annehmen.

Zweites Standbein: Rechtsanspruch auf eine berufliche Erstausbildung

Jeder Mensch hat ein grundlegendes Recht auf eine beruflich einsetzbare Erstausbildung. Damit sind bestimmte Rechtsansprüche definiert, die unabdingbar sind und nicht unterschritten werden können. Dazu zählen etwa:

             - Der Anspruch auf einen Pflichtschulabschluss

             - Der Anspruch auf Überwindung von Schwächen beim sinnerfassenden Lesen oder fehlender Sprach- und Ausdruckskompetenz

             - Der Anspruch auf den Abschluss einer allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden höheren Schule oder eines Lehrabschlusses und einer Berufsreifeprüfung/Studienberechtigung

Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen zu schaffen, in der ein Mensch jenen Zugang zu Bildungseinrichtungen hat, die ihm letztlich die Erreichung eines der genannten Ziele ermöglichen. Es handelt sich hierbei nicht etwa um eine Garantie auf eine Matura, sondern um eine Garantie auf kostenfreien Zugang zu jenen Bildungseinrichtungen, deren Besuch notwendig ist, um das im Rechtsanspruch vorgegebene Ziel zu erreichen.

Die Verantwortung für die Umsetzung dieses Ziels liegt aber jedenfalls nicht beim AMS oder dem BMASK, sondern bei den für Schule bzw. Lehrausbildung zuständigen Einrichtungen.

Es ist gesetzlich dafür Sorge zu tragen, dass Menschen in bestimmten Lebenssituationen, die aus dem Vorhandensein von Ausbildungsdefiziten resultieren können (etwa Phasen der Arbeitslosigkeit oder des Mindestsicherungsbezugs) einen Rechtsanspruch auf Finanzierung einer Ausbildung und damit verbundener Existenzsicherung in Anspruch nehmen können.

Drittes Standbein: Rechtsanspruch auf Qualifikation – Bildungskonto

Jeder arbeitslose Mensch hat Zugriff auf ein individuell einsetzbares Qualifikationskonto. Dabei erhält jeder arbeitslose Mensch einen bestimmten Betrag auf dem fiktiven Konto, den er oder sie nach freiem Ermessen zur Qualifikation einsetzen kann. Dabei kann aus einer Liste entsprechend zertifizierter Bildungsmaßnahmen gewählt werden. Zur Zertifizierung von Maßnahmen sind zumindest folgende Kriterien zu erfüllen:

             - Die Qualifikationsmaßnahme endet mit einem zertifizierten Abschluss (anerkanntes Zeugnis/Befähigungsnachweis)

             - Die Maßnahme kann inklusive Wartezeit innerhalb von drei Monaten abgeschlossen werden. Dies umfasst eine Beratungs- und Entscheidungsphase von zwei Wochen, eine Wartefrist bis Kursbeginn von höchstens einem Monat und eine Qualifikationsphase von bis zu sechs Wochen (das entspricht bei 5*6 Übungseinheiten pro Woche ein Höchstausmaß an Qualifikationsstunden von 180 Stunden)

             - Die Bildungsmaßnahme ist qualitätsgesichert (qualifiziertes Personal, Qualifikationsstandards, Schulungsunterlagen, gesicherte Räumlichkeiten,…)

Das AMS sichert für den Zeitraum der Inanspruchnahme des Qualifikationskontos die Existenzsicherung aus den sogenannten passiven Mitteln (ALG/NH). Die TeilnehmerInnen von Qualifikationsmaßnahmen unterliegen hierbei für diesen Zeitraum nicht den Zumutbarkeitsbestimmungen des AlVG.

Nicht vom Qualifikationskonto umfasst sind Neuausbildungen von Menschen, die über eine beruflich nicht mehr einsetzbare Ausbildung verfügen (etwa nach einem Unfall, einer Erkrankung etc.), da dies regelmäßig im Rahmen der beruflichen Rehabilitation durch die Unfallversicherung oder das Rehabilitationsverfahren des AMS erfolgt.

Standbein vier: Förderung der beruflichen Reintegration

Es gibt zahlreiche Einrichtungen und Angebote, die Menschen bei der beruflichen Reintegration auf sinnvolle Weise unterstützen. Dazu zählen etwa sehr viele Transitarbeitsplatzmodell, Sozialökonomische Projekte, aber auch Beschäftigungsförderungen im Sinne der bis 1995 erfolgreich und dann aus rein ideologischen Erwägungen beendeten experimentellen Arbeitsmarktpolitik, in deren Rahmen für neu geschaffene Jobs im öffentlichkeitsnahem und gemeinnützigen Bereich in Zukunftsbranchen (Bildung, Umwelt, Wissenschaft und Forschung, Kultur, Soziales, Gesundheit, Pflege und Betreuung,…) zwei Drittel der Lohnkosten übernommen werden. Arbeitssuchende Menschen, die diese Angebote nutzen wollen, haben – entsprechend Standbein eins – einen Rechtsanspruch auf eine zweiwöchigen Beratungs- und Entscheidungsphase sowie eine klientInnenorientierte Beratung durch eine weisungsfreie Einrichtung.

Der besondere Gewinn dieses Vorschlags gegenüber der derzeitigen Situation ist, dass er Einzelpersonen möglich macht, sich bewusst, gezielt, eigenverantwortlich und selbstbestimmt für Qualifikationsschritte zu entscheiden bzw. diese Schritte zu setzen. Werden keine Schritte gesetzt, so unterliegen diese Menschen den – durchaus dringend reformbedürftigen - Zumutbarkeitsbestimmungen des AlVG.

Hinsichtlich der Existenzsicherung entstehen keine zusätzlichen Kosten, da die angesprochene Personengruppe entweder ohnehin gerade im Leistungsbezug des AMS oder der Bedarfsorientierten Mindestsicherung steht oder aber auf Grund ihrer fehlenden Ausbildung und Qualifikation besonders häufig in Arbeitslosigkeit zurückfällt. Die Behebung von Ausbildungsdefizite entlastet somit zwar erst zukünftig das Budget des AMS, jedoch nachhaltig und dauerhaft.

Hinsichtlich der Finanzierung des Qualifikationskontos ist nicht damit zu rechnen, dass eine regelmäßige vollständige Ausnutzung des Kontos erfolgt. Dennoch ist klar, dass die derzeitigen Mittel für aktive AMP nicht ausreichen und zum Zweck der Überwindung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise zusätzliche Mittel eingesetzt werden müssen. Tatsache ist jedoch, dass eine Ausweitung der für Ausbildung und Qualifikation eingesetzten Mittel auch einen beschäftigungspolitischen Effekt haben und somit einerseits zur Stärkung der Binnennachfrage und andererseits zu erhöhten Steuer- und Beitragseinnahmen führen.“

 

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den gegenständlichen Entschließungsantrag in seiner Sitzung am 27. Mai 2015 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer der Berichterstatterin Abgeordneten Mag. Birgit Schatz die Abgeordneten August Wöginger, Mag. Gerald Loacker, Ing. Markus Vogl, Mag. Judith Schwentner, Dr. Dagmar Belakowitsch-Jenewein, Wolfgang Knes, Dr. Angelika Winzig, Johann Singer, Peter Wurm, Ulrike Königsberger-Ludwig, Ing. Waltraud Dietrich und Ing. Norbert Hofer sowie der Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz Rudolf Hundstorfer und der Ausschussobmann Abgeordneter Josef Muchitsch.

Bei der Abstimmung fand der gegenständliche Entschließungsantrag keine Mehrheit (für den Antrag: G, N, dagegen: S, V, F, T).

Zum Berichterstatter für den Nationalrat wurde Abgeordneter Johann Singer gewählt.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Ausschuss für Arbeit und Soziales somit den Antrag, der Nationalrat wolle diesen Bericht zur Kenntnis nehmen.

Wien, 2015 05 27

                                  Johann Singer                                                                  Josef Muchitsch

                                   Berichterstatter                                                                           Obmann