8461/J XXV. GP

Eingelangt am 01.03.2016
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Anfrage

 

der Abgeordneten Judith Schwentner, Freundinnen und Freunde an den Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz

betreffend Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr

BEGRÜNDUNG

 

Mit 1.1.2012 wanderte die Zuständigkeit betreffend Pflegegeld für Kinder und Jugendliche von den Ländern zum Bund, d.h. Kinder und Jugendlichen bekommen seitdem nicht mehr Landes- sondern Bundespflegegeld. Mit wenigen Ausnahmen administriert nun die Pensionsversicherungsanstalt alle Pflegegeldverfahren von Kindern und Jugendlichen. Im Jahr 2014 wurden rund 2.500 Begutachtungen von Kindern und Jugendlichen durchgeführt.

Die Zusammenführung aller Pflegegeldverfahren eröffnete die Chance, dass einheitliche Begutachtungs- und Einstufungskriterien angewandt werden. Der Versuch einheitliche Einstufungsstandards zu entwickeln scheiterte bis 2012 immer wieder an der Uneinigkeit der Länder. Daraus  resultierte eine sehr uneinheitliche Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen.

Bereits im Jänner 2012 wurde ein Konsensuspapier zur einheitlichen, ärztlichen und pflegerischen Begutachtung nach dem Bundespflegegeldgesetz“ vorgelegt, das fortan für alle Entscheidungsträger und Gutachter  - nicht aber für Sozialgerichte - Geltung hat.  Ziel dieses Papiers ist es, typische Pflegesituationen bei Kindern und Jugendlichen zu analysieren und daraus durchschnittliche Zeitwerte und Altersgrenzen (vergleichbar mit jenen von Erwachsenen) zu entwickeln. Jene pauschalen Zeitwerte sollen, so die Intention, die Grundlage für GutachterInnen sein, um den funktionellen Pflegebedarf bei Kindern und Jugendlichen zu ermitteln und nicht in jedem Einzelfall den Zeitaufwand für jede einzelne Verrichtung prüfen zu müssen (vgl. Wehringer (2016) Das Gutachten zum Pflegegeld).

Wie ein jüngstes Urteil des OLG Linz vom 6.11.2015 (11 Rs 109/15) wiederholt deutlich macht, steht die im Konsenspapier gewählte Vorgangsweise der Einstufung anhand von Richt- und Pauschalwerten im deutlichen Widerspruch zu den Vorgaben des Bundespflegegeldgesetzes sowie der Einstufungsverordnung.

Gemäß §4 Abs.3 des BPGG ist bei der Pflegegeldeinstufung bzw. der Ermittlung des Pflegebedarfs nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das Ausmaß an Pflege hinausgeht, das auch gleichaltrige, nicht behinderte Kinder und Jugendliche Benötigen. Folglich geht es bei Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr in einem ersten Schritt um die konkrete Ermittlung  des tatsächlich notwendigen Gesamtaufwands für jede einzelne Pflegeverrichtung. Von dem ermittelten Gesamtaufwand wird dann der natürliche, altersbedingte Pflegebedarf, der auch bei einem gesunden Kind anfällt, abgezogen. Am Ende dieser Differenzrechnung bleibt der behinderungsbedingte Pflegemehraufwand. Nur dieser wird für die Einstufung berücksichtigt.

Für die Differenzrechnung entscheidend ist daher einerseits die Frage, ab welchem Alter ein nicht behindertes Kind bestimmte Alltagsverrichtungen selbständig erledigen kann, und ein natürlicher Pflegebedarf daher nicht mehr abgezogen werden kann (Selbständigkeitsgrenze). Andererseits fehlen Zeitwerte abhängig vom Alter des Kindes in welchem Umfang vor Erreichung der Selbständigkeit ein natürlicher, altersbedingter Pflegebedarf abzuziehen ist. Während sich die Selbständigkeitsgrenzen seit 2012 im Konsensuspapier befinden fehlt die Festlegung von altersabhängigen Zeitwerten eines natürlichen Pflegebedarfs für bestimmte Alltagsverrichtungen.

Stattdessen wurden im Konsensuspapier Pauschalierungen für den Differenzbedarf entwickelt. Dies dient zwar der Vereinheitlichung, widerspricht aber dem Gesetz. Das Gesetz sieht die Ermittlung eines Differenzbedarfs zwischen dem tatsächlich erforderlichen Aufwand, der abhängig vom Schweregrad der Behinderung im Einzelfall variiert, und dem typisch altersbedingten Pflegebedarf. Das Gesetz verlangt eine konkrete Erhebung des Pflegebedarfs und kann daher durch keine Richt-, Mindest- und Fixwerte ersetzt werden. Diese haben für Kinder und Jugendliche keine Geltung.

Es besteht folglich die absurde Situation, dass sich Sozialversicherungsträger bei der Pflegegeldeinstufung von Kindern und Jugendlichen an Vorgaben des BMASK (Konsensuspapier) halten müssen, die im Widerspruch zu gesetzlichen Vorgaben im Bundespflegegeldgesetz stehen. Gerichte entscheiden jedoch auf der Basis der tatsächlichen Rechtslage. In der zitierten Entscheidung des OLG Linz bedeutete dies für ein pflegebedürftiges Kind eine Abweichung von drei Pflegegeldstufen zu seinen Ungunsten. Statt Pflegestufe 3 wurde dem Kind Pflegestufe 6 zuerkannt. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass pflegebedürftige Kinder und Jugendliche angewiesen sind, den Weg beim Sozialgericht einzuschlagen, um eine rechtlich korrekte Einstufung ihres Pflegebedarfs zu erlangen.

Die Problematik der Rechtswidrigkeit des Konsensuspapiers ist seit 2012 wiederholt Thema (Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld; Greifeneder, ÖZPR 2012/56; Rudda ÖZPR 2016/8). Die Notwendigkeit, Kriterien für die Einstufung zu erlassen, die für die SV-Träger ebenso verbindlich sind wie für das sozialgerichtliche Verfahren, wurde auch vom Rechnungshof artikuliert.

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift ÖZPR (Österreichische Zeitschrift für Pflegerecht) (ÖZPR 2016/8) nimmt das BMASK zur Entscheidung des OGH Linz und der Rechtswidrigkeit des Konsensuspapiers Stellung.

„Aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Sicherstellung einer bundesweiten einheitlichen Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen durch die Entscheidungsträger und durch Gerichte wird seitens des Sozialministeriums geprüft, ob eine eigene Verordnung über die Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen nach dem Bundespflegegeldgesetz erlassen werden soll. In einer derartigen Verordnung sollten insbesondere Altersgrenzen, ab denen für einzelne Verrichtungen kein natürlicher Pflegebedarf mehr anzunehmen ist, sowie Zeitwerte für bestimmte Pflegeverrichtungen festgelegt werden.“

 

Die unterfertigenden Abgeordneten stellen daher folgende

ANFRAGE

 

1.    Was ist das Ergebnis der Prüfung ihres Ministeriums?

2.    Verfolgen sie das Ziel, die Richtlinien des Konsensuspapiers 2012 mittels Verordnung in geltendes Recht umzuwandeln?

3.    In welchen Punkten soll die neue Verordnung vom Konsensuspapier 2012 abweichen?

4.    Können Sie ausschließen, dass jene Verordnung anstelle der Differenzrechnung zur Ermittlung des behinderungsbedingten Pflegemehraufwand künftig Pauschalwerte vorsieht, die pflegebedürftigen Kindern und Jugendlichen zum Nachteil gereichen?

5.    Wird es mittels dieser Verordnung zu einer rechtsverbindlichen Festlegung der Selbständigkeitsgrenze kommen?

6.    Wird es mittels dieser Verordnung eine rechtsverbindliche Definition altersabhängiger Zeitwerte eines natürlichen Pflegebedarfs für bestimmte Alltagsverrichtungen geben?

7.    Wann soll diese Verordnung erlassen werden?

8.    Welche ExpertInnen werden in die Erarbeitung dieser Verordnung einbezogen?

9.    In wie vielen Pflegegeldverfahren betreffend Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 15. Lebensjahr mit einem Stichtag ab 1.2.2012 führte das sozialgerichtliche Verfahren durch Urteil oder Vergleich zu einer höheren Einstufung als im vorangegangenen Bescheid?