9484/J XXV. GP

Eingelangt am 15.06.2016
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Anfrage

der Abgeordneten Dr. Nikolaus Scherak, Kollegin und Kollegen

an den Bundesminister für Justiz

betreffend Zwangsbehandlungen im Maßnahmenvollzug


Gemäß § 69 StVG ist ein Strafgefangener einer Heilbehandlung zwangsweise zu unterziehen, wenn er sie verweigert. Vor jeder Anordnung einer Zwangsbehandlung muss die Genehmigung des Bundesministeriums für Justiz - in der Folge BMJ genannt - eingeholt werden. Siehe nachstehend angeführter Gesetzestext.

Zwangsuntersuchung, Zwangsbehandlung und Zwangsernährung

§ 69 StVG (1) Verweigert ein Strafgefangener trotz Belehrung die Mitwirkung an einer nach den Umständen des Falles unbedingt erforderlichen ärztlichen Untersuchung oder Heilbehandlung, so ist er diesen Maßnahmen zwangsweise zu unterwerfen, soweit dies nicht mit Lebensgefahr verbunden und ihm auch sonst zumutbar ist. Einer unzumutbaren Untersuchung oder Heilbehandlung steht jeder Eingriff gleich, der nach seinen äußeren Merkmalen als schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 des Strafgesetzbuches) zu beurteilen wäre. Sofern nicht Gefahr im Verzug ist, muß vor jeder Anordnung einer zwangsweisen Untersuchung oder Heilbehandlung die Genehmigung des Bundesministeriums für Justiz eingeholt werden.

Gemäß § 71 bzw. 167 StVG kann der Strafgefangene oder der Maßnahme-Untergebrachte im Falle, dass er in der Anstalt nicht sachgemäß behandelt werden kann, in eine öffentliche Krankenanstalt für Psychiatrie überstellt werden. In diesen Fällen gelten - mit bestimmten Einschränkungen - die Bestimmungen des Unterbringungsgesetzes.

Gemäß § 36 Unterbringungsgesetz bedarf eine besondere Heilbehandlung“ der Zustimmung des Gerichtes.

Gemäß 158 StVG können Maßnahme-Untergebrachte nach § 21 Abs 2 auch in Anstalten zum Vollzug von Freiheitsstrafen untergebracht werden. Tatsächlich sind wesentlich mehr Maßnahme-Untergebrachte in gewöhnlichen Haftanstalten als in den ursprünglich für den Maßnahmenvollzug vorgesehenen Sonderanstalten.

Eine bedingte Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug wird häufig unter Bezugnahme auf ein Gutachten eines Sachverständigen, der sich auf die Aussagen des behandelnden Arztes und auf die Stellungnahme der Anstalt stützt, mit der Begründung abgelehnt, es läge keine „Compliance“ vor. Eine rechtliche Definition von Compliance ist uns nicht bekannt. Im Bereich Medizin/Psychiatrie wird damit die Bereitschaft eines Patienten zur Mitwirkung an therapeutischen Maßnahmen beschrieben. Von einem Patienten, der mit einer ärztlich vorgeschlagenen Behandlung nicht einverstanden ist, Mitwirkung zu erwarten und die fehlende Mitwirkung zu sanktionieren, stellt eine Verhöhnung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten dar. Compliance beschreibt somit die Unterwerfung unter den ärztlichen Willen, die faktische Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts und negiert, dass grundsätzlich für jede medizinische Behandlung Einwilligung nach Aufklärung („informed consent“) einzuholen ist.

Aus diesem Grund stellen die unterfertigten Abgeordneten nachstehende

Anfrage:

 

1. Kann die über einen längeren Zeitraum erfolgende Verabreichung von Neuroleptika eine "Heilbehandlung" iSd § 69 StVG sein? 

2. Ist die Bekämpfung der Symptome psychischer Erkrankungen eine Heilbehandlung iSd § 69 StVG?

3. Ist die über einen längeren Zeitraum erfolgende Verabreichung von Neuroleptika auch in Anbetracht der erheblichen Nebenwirkungen wie etwa enormer Gewichtszunahme und psychischer Apathie -  nach Rechtsansicht des BMJ zumutbar“ iSd § 69 StVG?

4. Wird bei der Anwendung des § 69 StVG bedacht, dass die Langzeitfolgen bestimmter Neuroleptika auf einer schweren Körperverletzung entsprechende Ergebnisse hinauslaufen können?

5. Werden die Justizanstalten angewiesen, unerwartete Nebenwirkungen der verabreichten Arzneimittel und Medizinprodukte an das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen zu melden, und werden gegebenenfalls diese Informationen an das BMJ weitergeleitet?

6. Wie definiert das BMJ die zwangsweise Unterwerfung iSd § 69 StVG?

a. Bedeutet Zwang iSd § 69 StVG die physische Überwindung eines Widerstandes?
b. Bedeutet Zwang iSd § 69 StVG auch die bloße Androhung der physischen Überwindung des Widerstandes?
c. Bedeutet Zwang iSd § 69 StVG auch die Androhung sonstiger Nachteile?

7. Welche Abteilung des BMJ ist zuständig für die Genehmigung von Zwangsbehandlungen und Zwangseingriffen iSd § 69 StVG letzter Satz?

8. Hat der neu implementierte Chefärztliche Dienst der Generaldirektion eine Funktion in diesem Genehmigungsverfahren?
8.1 Wenn ja, welche?

9. Wird die betroffene Person darüber informiert, wenn beim BMJ die Genehmigung der zwangsweisen Heilbehandlung beantragt wird und hat sie gegebenenfalls die Möglichkeit,

einen Arzt/eine Ärztin ihres Vertrauens und/oder ihre Rechtsvertretung beizuziehen und die Argumente für die Ablehnung der Behandlung vorzubringen?

10. Welche Informationen bekommt das BMJ für die Entscheidungsfindung?

11. Ist im Zuge des Genehmigungsverfahrens ein Augenschein der zuständigen BeamtInnen in der Anstalt vorgesehen, um etwa die Argumente des behandelnden Arztes /der Ärztin, der Anstalt, sowie der betroffenen Person zu hören?

12. Für den Fall, dass seitens der genehmigenden Stelle im BMJ kein Augenschein erfolgt: Hat die betroffene Person sonst in irgendeiner Weise die Möglichkeit, ihre Argumente für die Ablehnung der Behandlung vorzubringen?

13. Mit welchem medizinischen und psychiatrischen Fachwissen sind die mit der Entscheidung für oder gegen eine Zwangsbehandlung oder Zwangsmaßnahme iSd § 96 StVG beauftragten Beamten und Beamtinnen ausgestattet? Welche fachspezifischen Erfahrungen und Formalqualifikationen müssen diese BeamtInnen aufweisen?

14. Wird vom BMJ vor Erteilung der Bewilligung ein Arzt, der nicht in der Anstalt tätig ist, konsultiert und führt dieser Arzt gegebenenfalls ein Gespräch mit der betroffenen Person?

15. Wie oft wurden in den Jahren 2011, 2012, 2013, 2014, 2015 im BMJ Entscheidungen über Zwangsbehandlungen iSd § 69 StVG gefällt, und wie teilen sich diese Fälle auf Maßnahmen- Untergebrachte nach § 21 Abs 1, solche nach § 21 Abs 2 StGB, auf Strafgefangene und auf die einzelnen Justizanstalten auf?

16. Ist die Zustimmung des BMJ - abgesehen von Gefahr in Verzug - der Rechtsansicht des BMJ nach Voraussetzung für die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung?

17. Wie wird sichergestellt und überprüft, dass eine Zustimmung des BMJ zu Maßnahmen iSd § 69 StVG stets vorliegt?

18. Für die Verabreichung von welchen Medikamenten wurde in den letzten fünf Jahren die Zustimmung des BMJ erteilt?

19. Sind dem BJM Fälle bekannt, in denen die Höchstdosierung von Medikamenten überschritten wurde?

20. Wird der betroffenen Person die Entscheidung des BMJ zugestellt und hat sie die Möglichkeit, vor der Gewaltanwendung dagegen Einwand zu erheben?

21.1 Wird die betroffene Person gegebenenfalls über diese Möglichkeit informiert?

24. Wie oft wurde in den letzten drei Jahren von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Strafgefangene oder Maßnahme-Untergebrachte in Hinblick auf die dort anzuwendenden und wesentlich mehr Rechtsschutz bietenden Bestimmungen des UbG in ein Krankenhaus für Psychiatrie zu überstellen?

25. Wie teilen sich die Fälle einer solchen Überstellung Strafgefangener oder Maßnahmen-Untergebrachter in psychiatrische Fachabteilungen bzw. Krankenhäuser für Psychiatrie auf Maßnahmen-Untergebrachte gemäß § 21 Abs 1 und 21 Abs 2 StGB und Strafgefangene auf ?

26. Wie viele Maßnahme-Untergebrachte befinden sich derzeit in Anstalten für den Vollzug von Freiheitsstrafen?

27. In wie vielen Sachverständigengutachten der letzten drei Jahre wird wegen mangelnder Compliance“ eine Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug nicht empfohlen und wie wurde in diesen Gutachten dargelegt, worin die mangelnde Compliance“ besteht?

28. Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff "Compliance" und anhand welcher Kriterien wird festgestellt, ob "Compliance" eines Maßnahmen-Untergebrachten vorliegt?

29. Wird dem von einer Nichtempfehlung der Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug betroffenen Maßnahmen-Untergebeachten das ihn betreffende Sachverständigengutachten vor seiner Anhörung bei Gericht zugestellt?