Erläuterungen

Allgemeiner Teil

Das Protokoll Nr.15 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Protokoll) hat gesetzändernden und gesetzesergänzenden Inhalt und bedarf daher der Genehmigung des Nationalrates gemäß Art. 50 Abs. 1 Z 1 B-VG. Es hat nicht politischen Charakter. Es ist nicht erforderlich, eine allfällige unmittelbare Anwendung des Protokolls im innerstaatlichen Bereich durch einen Beschluss gemäß Art. 50 Abs. 2 Z 4 B-VG, dass dieser Staatsvertrag durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist, auszuschließen. Da durch das Protokoll keine Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereichs der Länder geregelt werden, bedarf es keiner Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 50 Abs. 2 Z 2 B‑VG.

Da seit der B‑VG‑Novelle BGBl. I Nr. 2/2008 die Änderung von Verfassungsrecht durch einen Staatsvertrag nicht mehr möglich ist, muss die Änderung der – in Verfassungsrang stehenden – Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) durch das Protokoll Nr. 15 durch bundesverfassungsgesetzliche Bestimmung in Verfassungsrang gehoben werden (vgl. RV 314 d.B. 23. GP 10). Dies erfolgt durch eine begleitende Novellierung des vorgeschlagenen Staatsverträge-Bundesverfassungsgesetzes.

Die hohe Zahl der beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) eingebrachten Beschwerden und der große Rückstau an anhängigen Verfahren stellt seit langem ein Problem des Rechtsschutzmechanismus der EMRK dar. Die Steigerung der Effizienz des EGMR war deshalb wesentliches Ziel des Protokolls Nr. 14 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention (im Folgenden: 14. ZPEMRK), BGBl. III Nr. 47/2010 (vgl. RV 996 d.B. XXII. GP 2 ff). Auf den „High level“-Konferenzen von Interlaken im Jahr 2010, von Izmir im Jahr 2011 und von Brighton im Jahr 2012 wurde innerhalb der Vertragsparteien der EMRK die Diskussion über weitere Reformmaßnahmen zur Steigerung der Effizienz des EGMR fortgesetzt.

In diesem Prozess hat Österreich darauf hingewirkt, dass das in der EMRK vorgesehene Individualbeschwerderecht an den EGMR nicht eingeschränkt, sondern zunächst das 14. ZPEMRK vollständig umgesetzt wird und weitere Änderungen des Konventionssystems von Fortschritten bei der Umsetzung der bereits beschlossenen Maßnahmen abhängig gemacht werden (vgl. die Entschließung des Nationalrates vom 27. Februar 2013 betreffend die Reform des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, 295/E XXIV. GP).

Bei der erwähnten Konferenz von Brighton war bereits absehbar, dass die durch das 14. ZPEMRK erfolgten Änderungen der Organisation des EGMR, insbesondere die Verkleinerung seiner Spruchkörper, diesen tatsächlich in die Lage versetzen, bestimmte Gruppen von Beschwerden zügig zu erledigen und so den bestehenden Rückstau an Beschwerden kontinuierlich abzubauen. Vor diesem Hintergrund haben die Vertragsparteien der EMRK vereinbart, ein weiteres Protokoll zur EMRK auszuarbeiten, das die organisatorischen und verfahrensrechtlichen Rechtsgrundlagen des EGMR nur insoweit ändert, als sich dies bei der Umsetzung des 14. ZPEMRK als wünschenswert herausgestellt hat.

In diesem Sinne wurde von Expertenkomitees des Europarats ein Zusatzprotokoll ausgearbeitet, das folgende Punkte umfasst:

–      ausdrückliche Erwähnung des Subsidiaritätsprinzips und des Ermessensspielraums der Vertragsparteien in der Präambel der EMRK;

–      Einführung eines Höchstalters für Kandidaten für die Wahl der Richter bei gleichzeitigem Entfall der Beendigung der Amtszeit mit Vollendung des 70. Lebensjahrs;

–      Entfall des Widerspruchsrechts der Parteien bei Abgabe einer Rechtssache von einer Kammer an die Große Kammer des EGMR;

–      Verkürzung der Beschwerdefrist von sechs auf vier Monate;

-       Entfall einer der beiden Voraussetzungen für die Anwendung des Unzulässigkeitstatbestandes der so genannten Bagatellbeschwerde.

Das Protokoll bedarf gemäß seinem Art. 7 zu seinem Inkrafttreten der Ratifikation durch alle Vertragsparteien der EMRK.

Anlässlich der 123. Ministertagung am 16. Mai 2013 hat das Ministerkomitee des Europarats den Text des Protokolls Nr. 15 angenommen. Das Protokoll wurde am 24. Juni 2013 zur Unterzeichnung bzw. Ratifizierung durch die Vertragsparteien aufgelegt. Die Vertragsparteien wurden zugleich aufgefordert, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit das Protokoll ehestmöglich in Kraft treten kann. Österreich hat das Protokoll gemäß dem Beschluss der Bundesregierung vom 28. Mai 2013 (vgl. Punkt 6 des Beschl.Prot.Nr. 189) am 25. Juni 2013 unterzeichnet.

Bisher haben 44 Staaten unterzeichnet, 33 von ihnen ratifiziert (darunter Deutschland, Finnland, Frankreich, Liechtenstein, die Niederlande, Norwegen, Schweden, Tschechische Republik, Türkei und das Vereinigte Königreich).

 

Besonderer Teil

Zu Art. 1 (Präambel):

In die Präambel soll ein neuer Beweggrund eingefügt werden, der das Subsidiaritätsprinzip und den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Art und Weise der Erfüllung ihrer Verpflichtung zur Gewährleistung der in der EMRK bestimmten Rechte und Freiheiten ausdrücklich erwähnt.

Dadurch sollen diese beiden vom EGMR in seiner Rechtsprechung anerkannten Grundsätze der EMRK hervorgehoben werden:

Aus Art. 1 und 19 EMRK hat der EGMR geschlossen, dass in erster Linie die Vertragsparteien der EMRK die Verantwortung für die Achtung der in der EMRK niedergelegten Rechte und Freiheiten tragen und ihm selbst nur eine Kontrollfunktion zukommt. Aufgabe der Vertragsparteien ist es, durch eine entsprechende Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnungen eine Verletzung der in der EMRK niedergelegten Rechte und Freiheiten möglichst zu vermeiden und innerstaatliche Rechtsmittel gegen dennoch erfolgte Verletzungen bereitzustellen. Dadurch wird auch der EGMR entlastet. Zur Entlastung des EGMR trägt auch die umgehende und umfassende Umsetzung seiner Urteile durch die Vertragsparteien bei. Die in diesem Rahmen wünschenswerten Schritte hat der Europarat in zahlreichen Empfehlungen und Resolutionen näher präzisiert.

Die Vertragsparteien verfügen nach der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung und innerstaatlichen Durchführung der EMRK über einen Ermessensspielraum, der nach den Umständen des Einzelfalls sowie dem jeweiligen Konventionsrecht unterschiedlich ist. Die Ausübung dieses Ermessensspielraums unterliegt der Kontrolle durch den EGMR.

Zu Art. 2 (Art. 21 und 23 EMRK):

Nach dem geltenden Art. 23 Abs. 2 EMRK endet die Amtszeit der Richter mit Vollendung des 70. Lebensjahrs. Diese Bestimmung soll entfallen. An ihrer Stelle soll eine zusätzliche Voraussetzung für die Wahl eines Richters eingeführt werden: Die Kandidaten dürfen zu dem Zeitpunkt, zu dem die Liste von drei Kandidaten bei der Parlamentarischen Versammlung eingehen soll, das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.

Dadurch soll vermieden werden, dass Richter vor Vollendung ihrer neunjährigen Amtszeit nur deshalb aus ihrem Amt ausscheiden, weil sie das 70. Lebensjahr vollendet haben. Vielmehr soll ein gewählter Richter seine Funktion im Sinne der Kontinuität und Effizienz der Rechtsprechung möglichst für die gesamte Amtszeit von neun Jahren ausüben, zumal eine Wiederwahl nicht möglich ist.

Der Zeitpunkt, zu dem die Liste von drei Kandidaten bei der Parlamentarischen Versammlung eingehen soll, wird von dieser festlegt. Zur Wahrung der Transparenz des Auswahlverfahrens wäre es wünschenswert, dass die Parlamentarische Versammlung ihr Schreiben, in dem sie den vorschlagsberechtigten Vertragsstaat zur Vorlage dieser Liste bis zu einem näher bestimmten Zeitpunkt einlädt, veröffentlicht oder in anderer Weise die Publizität dieses Zeitpunktes sicherstellt.

Nach der Übergangsbestimmung des Art. 8 Abs. 1 soll diese Änderung nur für Kandidaten auf Listen gelten, die der Parlamentarischen Versammlung nach dem Inkrafttreten dieses Protokolls vorgelegt werden. Die Amtszeit aller bereits gewählten Richter endet hingegen mit Vollendung des 70. Lebensjahres.

Zu Art. 3 (Art. 30 EMRK):

Nach dem geltenden Art. 30 EMRK kann eine Kammer eine anhängige Rechtssache, die eine schwerwiegende Frage der Auslegung der Konvention oder der Protokolle aufwirft, oder deren Entscheidung zu einer Abweichung von einem früheren Urteil des EGMR führen kann, nur unter der Voraussetzung an die Große Kammer abgeben, dass keine Partei widerspricht.

Dieses Widerspruchsrecht der Parteien soll entfallen, womit einem Wunsch des EGMR Rechnung getragen wird.

Somit soll in Zukunft, nicht zuletzt im Sinne höherer Konsistenz und Kohärenz der Rechtsprechung des EGMR und damit auch im Sinne größerer Rechtssicherheit, die Behandlung von Rechtssachen mit größerer Tragweite der Großen Kammer vorbehalten sein (vgl. Z 23ff der Erklärung von Brighton).

In solchen Rechtssachen soll dadurch auch die Verfahrensdauer reduziert werden, da vor Abgabe einer Rechtssache an die Große Kammer den davon betroffenen Parteien keine Möglichkeit zur Stellungnahme mehr eingeräumt werden muss.

Nach der Übergangsbestimmung des Art. 8 Abs. 2 soll diese Änderung nicht für Rechtssachen gelten, bei denen eine Partei bereits vor dem Inkrafttreten dieses Protokolls einen Widerspruch erhoben hat.

Zu Art. 4 (Art. 35 Abs. 1 EMRK):

Die in Art. 35 Abs. 1 EMRK normierte Beschwerdefrist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung soll auf vier Monate verkürzt werden.

Im Zeitalter moderner Kommunikationstechnologien wird kein Bedarf mehr für eine sechsmonatige Beschwerdefrist gesehen, zumal auf nationaler Ebene vielfach vergleichbare oder kürzere Rechtsmittelfristen gelten.

Nach der Übergangsbestimmung des Art. 8 Abs. 3 soll diese Änderung sechs Monate nach dem Inkrafttreten dieses Protokolls in Kraft treten. Sie ist nicht auf Beschwerden anwendbar, bei denen die endgültige innerstaatliche Entscheidung vor diesem Zeitpunkt ergangen ist.

Zu Art. 5 (Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK):

Durch das 14. ZPEMRK wurde zur Entlastung des EGMR in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK ein neuer Unzulässigkeitstatbestand eingeführt, der es dem EGMR ermöglichen soll, im Sinne des Grundsatzes „de minimis non curat praetor“ Beschwerden für unzulässig zu erklären, wenn dem Beschwerdeführer kein „erheblicher Nachteil“ entstanden ist (Bagatellbeschwerden). In der Praxis des EGMR findet dieser Unzulässigkeitstatbestand auch deshalb kaum Anwendung, weil die weitere Voraussetzung für eine Zurückweisung, dass die Rechtssache zuvor von einem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist, gerade in solchen Fällen häufig nicht erfüllt ist. Die zuletzt genannte Voraussetzung soll daher entfallen. Das Individualbeschwerderecht ist weiterhin durch das Erfordernis gesichert, dass eine Beschwerde nicht nach Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK zurückgewiesen werden darf, wenn die Achtung der Menschenrechte eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde erfordert.

Diese Änderung soll ab Inkrafttreten dieses Protokolls gelten.

Zu den Art. 6 bis 9 (Schluss- und Übergangsbestimmungen):

Die Art. 6, 7 und 9 entsprechen den Muster-Schlussklauseln des Europarates. Die Möglichkeit, Vorbehalte zu machen, ist nicht vorgesehen.

Das Inkrafttreten des Protokolls ist, wie bereits beim 14. ZPEMRK, von der Ratifikation (Annahme, Genehmigung) durch alle Vertragsparteien der EMRK abhängig.

Art. 8 enthält Übergangsbestimmungen, die im jeweiligen Regelungszusammenhang erläutert wurden.