Sehr geehrte Damen und Herren,

 

Der Wunsch, Sterbehilfe in der Verfassung zu verankern und sie der weiteren Diskussion weitestgehend zu entziehen in der Annahme, eine objektive, ethisch und moralisch korrekte Grundlage zu besitzen oder erarbeiten zu können oder in der Annahme, eine absolute, transzendente Notwendigkeit für ein Sterbehilfeverbot zu erkennen, erzeugt aus mehreren Gründen eine demokratiefeindliche aber vor allem eine unethische Welt, in der der Respekt vor der individuellen Entscheidungsfreiheit verloren geht.

 

Zum einen deshalb, weil Objektivität immer eine Chimäre bleibt, solange alles was gesagt wird, von einem Beobachter und zu einem Beobachter gesagt wird. Die Grundlage für ein mögliches, in der Verfassung verankertes Verbot der Sterbehilfe wird niemals objektiv sein können. Der Physiker und Philosoph Heinz von Förster nennt Objektivität sogar eine Wahnvorstellung und sagt:

 

"Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung von Verantwortung - daher auch ihre Beliebtheit." Heinz von Förster zit. nach [Mat14] p35

 

Zum anderen, weil der Wunsch nach dem absoluten, dem richtigen Gesetz, die Sehnsucht nach dem archimedischen Punkt, das Streben nach "der" Weltformel, die alles erklären soll, nichts anderes darstellt, als die Sehnsucht nach einer Beruhigungsdroge, die unser Gewissen entlasten soll.

 

"Für mich ist diese Sicherheit des Absoluten, die einem Halt geben soll, etwas Gefährliches, das einem Menschen die Verantwortung für seine Sicht der Dinge nimmt." [HvF14] p34

 

Es kann kein ethisches, selbstverantwortliches Handeln ohne Freiheit geben. Jedes Gesetz, jedes Gebot, jede Forderung nach einem Imperativ verkehrt Ethik in Moral. Die Einhaltung von Regeln bekommt dann den Vorrang vor der Wahrnehmung der Bedürfnisse des Nächsten, hier des Sterbenden.

 

Dazu schreibt beispielsweise der bekannte Neurobiologe und Systemtheoretiker Humberto Maturana:

 

"Meine Auffassung ist, dass auch die sogenannten ethischen Gesetze und Imperative die Möglichkeit der Reflexion zerstören: Sie nehmen dem selbstverantwortlichen Handeln seine Basis, sie verlangen die Unterwerfung, sind also bei genauerer Betrachtung ein anderes Wort für Tyrannei. Man kann einem Menschen zeigen, was geschieht, wenn er diese oder jene Weltsicht oder Lebensweise wählt; man kann ihm die möglichen Konsequenzen, die in seinen Überzeugungen und Handlungen angelegt sind, vor Augen führen, aber das ist etwas völlig anderes, als ihn zu etwas zu zwingen und ihn mehr oder minder gewalttätig auf eine Sicht der Dinge zu verpflichten." [Mat14] p49f

 

So werden die legitimen Wünsche des Sterbenden oder des sterben wollenden Menschen im besten Fall übersehen, im schlimmsten Fall einfach missachtet und "overruled". Das Negieren des Individuums und seines Bedürfnisses nach Selbstbestimmung ist ein Zeichen totalitärer Systeme.

 

Die Entscheidung über die Gestaltung des Sterbevorgangs gehört dem Sterbenden und dem familiären Umfeld oder dem engsten Freundeskreis. Sie, und nur sie, dürfen hier eine individuelle Gewissensentscheidung treffen. Die Allgemeinheit hat das Umfeld zu schaffen, das eine freie Gewissensentscheidung möglich macht und respektiert. Heinz von Förster schreibt dazu:

 

"Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist - und immer auch anders agieren könnte - kann verantwortlich handeln. Das heißt: Wer jemand die Freiheit raubt und beschneidet, der nimmt ihm auch die Chance zum verantwortlichen Handeln. Und das ist unverantwortlich." [HvF14] p36

 

Es wiegt weiter sehr schwer, dass der Sterbende, sein familiäres Umfeld und der engste Freundeskreis bei einer Aufnahme des Verbots der Sterbehilfe in die Verfassung praktisch keine Möglichkeit zur Klage mehr haben. Ein Mensch, der nicht mehr klagen kann oder keine Möglichkeit zur Beschwerde mehr hat, wird zum funktionieren gezwungen, er wird zum frei verfügbaren Objekt, zum Sklaven.

 

"Bei einem sozialen System, das die Beschwerde und die Klage nicht gestattet und prinzipiell ausschließt, handelt es sich nicht um ein soziales System. Es handelt sich um eine Tyrannei." [Mat14] p114

 

Einige Weltanschauungen mögen behaupten, es gäbe eine transzendente Wahrheit, die Freitod und Sterbehilfe als Heilshindernis betrachtet oder behaupten, im Leiden läge ein verborgener Sinn, es sei eine Prüfung, die zu bestehen wäre. Sie mögen sagen, eine Leidensverkürzung sei unangemessen und stünde niemandem zu, und versuchen, ihre jeweilige Glaubensgewissheit quasi missionarisch durchzusetzen und das Thema so der Argumentationsgemeinschaft zu entziehen. Eine solche Haltung ist mehr als problematisch.

 

"Wer dann noch die anderen von ihrer vermeintlichen Ignoranz und ihrer falschen Wahrnehmung der Welt befreien will, der wird gefährlich: die Realitätsgewissheit dient dann dazu, Ausbeutung und Unterwerfung, Kriege und Kreuzzüge zu rechtfertigen." [Mat14] p45

 

Es gibt sie wahrscheinlich nicht, die einzige, umfassend richtige Antwort auf die Frage Sterbehilfe ja oder nein. Dem Sterbenden und seinem engsten Umfeld eine freie, verantwortungsvolle Entscheidung in dieser letzten intimen und individuellen Situation durch verfassungsverankerte Verbote zu nehmen, ist jedoch mit allergrößter Sicherheit unmenschlich und entwürdigend und daher kategorisch abzulehnen.


Hochachtungsvoll,

 

DI Dr. Alfred Seyr