Betrifft: Persönliche Stellungnahme zum Bildungsreformgesetz 2017

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!                                                                           Wien, 2017-04-20

 

Ich bin pragmatisierte Volksschullehrerin mit 35 Dienstjahren und arbeite in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 146, an der „Ganztagsvolksschule mit sonderpädagogischem Schwerpunkt“. Ich sehe meine wertschätzende und am Kind orientierte Arbeit durch das Schulreformgesetz 2017 gefährdet. Meine großen Bedenken, meine Ablehnung des bis dato vorliegenden Gesetzesentwurfs veranlassen mich, schriftlich Stellung zu beziehen.

 

Allgemeine Bemerkungen

Die Erhöhung des derzeitigen Bildungsniveaus an unseren Wiener Grundschulen, geschweige denn eine Verbesserung der Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit im Bildungswesen lässt sich für mich aus dem Gesetzestext nicht erkennen, zumal darauf in weiterer Folge nicht näher eingegangen wird. Somit bleibt es Ankündigungspolitik, „ein frommer Wunsch“, ohne wirkungsmächtige Zusammenhänge aufzuzeigen.

Struktur- und Verwaltungsreformen allein verbessern den Unterricht der Kinder nicht.

Für qualitätsvollen Unterricht bedarf es stabiler LehrerInnenpersönlichkeiten – psychologisch, pädagogisch, fachlich gut ausgebildet und berufsbegleitend geschult. Jene bedürfen Rechtssicherheit, Entlastung von Administrationsarbeiten, ausreichend finanzielle Mittel, um ihren Unterricht zeitgemäß zu gestalten.

Ein Bekenntnis zu Diversität bleibt für mich das Überlebenskonzept für das Fortbestehen der Menschheit. Mit meiner Bildungsarbeit an der Grundschule trage ich entscheidend dazu bei, junge Menschen zu bilden und gleichzeitig ihnen würdevoll zu begegnen. Die Vereinbarkeit beider Ansprüche mit den Kindern zu leben, ist mir ein ethisches Anliegen. Darauf gründen meine Rufe und jene vieler KollegInnen nach ausreichend Personalressourcen!

Die fachliche Antwort darauf ist klar, dem Gebot der Differenzierung im Unterricht sehe ich mich didaktisch verpflichtet. Und wie können wir LehrerInnen den verschiedenen Neigungen der Kinder gerecht werden; hier bemühen wir uns, sie für ein vielfältiges Freizeitangebot zu gewinnen, auch unter Einbeziehung außerschulischer,  kostengünstiger Angebote der Veranstalter.

Das personalaufwändige, weil zeitintensive Gebot der Stunde ist, im langen Tagesablauf einer Ganztagesschule jedem Kind individuell Zeit zur Verfügung zu stellen: für Gespräche, für die persönliche Begegnung, den Austausch, das Beziehung knüpfen und pflegen; sind doch unsere jungen Kinder 8-10 Stunden von ihren Eltern fern.

 

 

KlassenschülerInnen – Höchstzahl

Die Streichung der KlassenschülerInnen-Höchstzahl (von 25 derzeit) stellt keine Verbesserung der Betreuungssituation dar. Wir laufen bald wieder Gefahr (anno 1960er Jahre) Klassengrößen von dreißig Kindern und mehr zu erreichen. Besonders in Wien sind wir mit stark steigenden SchülerInnen-Zahlen und dem zögerlichen Schulneubau konfrontiert.

 

Cluster und Autonomie

Clusterbildung mag für die Erhaltung von Kleinschulen auf dem Lande sinnvoll sein.

In Wien besuchen ohnehin meist mehr als 300 Kinder einen Volksschulstandort. Durch die Clusterbildung jener Volksschulstandorte (Zusammenschluss von bis zu 8 Schulen) entsteht eine große und komplexe Verwaltungseinheit, die den immensen Aufwand in der Logistik eines privatwirtschaftlichen  Großbetriebes gleicht.

Im Gesetzestext wird nicht ausformuliert, bleibt für mich somit unklar: entspricht das Anforderungsprofil einer ClusterleiterIn jenes einer pädagogischen Führungskraft mit Managementqualitäten? Oder liegt die Schwerpunktsetzung in deren Umsetzungsstärke, also, sollen pädagogische Entscheidungen zurückgedrängt werden? 

Cluster können gebildet werden, die Teilnahme an einem Cluster ist freiwillig, heißt es im Text.  An anderer Stelle ist jedoch zu lesen, dass Cluster auch gegen den Willen der betroffenen LehrerInnen gebildet werden können – offensichtlich ein Widerspruch!

Schulautonomie laut Gesetzestext erkenne ich inhaltlich nicht an, weil sich für mich daraus lediglich  die Verwaltung von Mangelressourcen ableiten lassen.

Autonomie (lt. Gesetzestext) bedeutet für mich nicht, den zukünftigen ClusterleiterInnen die alleinige Entscheidungsgewalt zu geben, über

-          die SchülerInnenzahl einer Klasse

-          die SchülerInnenzahl einer Gruppe/ Fördergruppe

-          die Auswahl und Anstellung eines Lehrers/ einer Lehrerin

-          die Vorgabe des Pädagogischen Konzeptes – generell für eine Schule

-          die Vorgabe des Pädagogischen Konzeptes – punktuell für eine bestimmte Klasse oder Gruppe

-          die Fortbildung der LehrerInnen.

Schulautonomie bedeutet für mich den tagtäglich vor Ort verantwortungsvoll handelnden Fachkräften ihre Verantwortung endlich wieder zurückzugeben und sie ihre Selbständigkeit auch leben zu lassen.

Schulautonomie verlangt nach einem Schulleitungsteam unter Berücksichtigung einer Aufteilung der pädagogischen, administrativen und personellen Verwaltung und unter größtmöglicher Einbeziehung aller SchulpartnerInnen; vor allem auch der Elternschaft in beratender Funktion.                      

Zeitliche Flexibilisierung bezüglich der Unterrichtsstunden war und ist Gebot bei der praktischen Umsetzung von Projektunterricht, freien Lernphasen, offenem Lernen, Differenzierungsangeboten und wechselnden Input- Übungs- und Anwendungsphasen – seit Jahrzehnten – „also ein wichtiger, aber alter Hut“.

 

Schulversuche

In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche neue pädagogische Modelle als Schulversuch erfolgreich erprobt und etabliert worden, u.a. auch das Modell der „Reformpädagogischen Mehrstufenklasse in Wien“, möglich gemacht durch das Engagement und die Innovationskraft der beteiligten LehrerInnen. Dass dies jetzt aufgrund der neuen Schulautonomie hinfällig sein solle, ist für mich nicht nachvollziehbar und bleibt mir gänzlich unverständlich.

Die Erprobung neuer fachlicher, pädagogischer und didaktischer Weiterentwicklung soll nun allein vom Ministerium initiiert, gesteuert und genehmigt  werden (Neufassung des §7) – eine Vorgehensweise „top-down“? Bitte, wo bleibt da Raum für „Innovation von der Basis aus“ ?

Ich verneine die Feststellung (lt. Gesetzestext), dass jahrgangsübergreifender Unterricht mit den neuen Bestimmungen möglich ist. Ein so erfolgreiches, bei Eltern wie SchülerInnen beliebtes Modell steht vor dem „AUS“, denn derzeit bekommen die Mehrstufenklassen vom SSR für Wien hierfür zusätzliche Ressourcen!

 

ZIS/SPF/ Inklusion

Lt. Gesetzesentwurf sollen die Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik aufgelöst und deren Aufgaben unmittelbar von den Bildungsdirektionen wahrgenommen werden – werden jene BildungsdirektorInnen eine spezifisch sonderpädagogische Ausbildung aufweisen? Wenn nicht, unterstelle ich den Verantwortlichen, mit den Bedürfnissen und Rechten der Kinder mit speziellen Anforderungen in fahrlässiger Weise umzugehen.

Ein zynischer Denkansatz, den ich ablehne: Ziel ist, die Anzahl der SPF-Kinder zu senken durch „Verschlankung des Feststellungsverfahrens“.

In meinem Fokus steht der Ansatz in der Frühförderung und erweiterten Betreuung, um den heutzutage vermehrt auftretenden Entwicklungsstörungen und Sprachbehinderungen bei Kindern in effizienter Weise wirksam zu begegnen.                                                                                  Es

Inklusion ist dann möglich, wenn wir die nötigen Fachkräfte z.B. ErgotherapeutInnen und SchulpsychologInnen vor Ort in unsere pädagogischen Teams integrieren können.

 

Ich stelle fest: „Schule ist kein Wirtschaftsbetrieb – denn Bildung ist nicht leicht vergleich- oder messbar.“ Meine Ablehnung bezieht sich auch auf die generell verkürzte Betrachtungsweise von Bildung im Gesetzestext; sie ist technokratisch und übersieht dabei das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen, Talenten, Schwächen, Vorlieben und Interessen. Bildung ist für mich im Wesentlichen Herzensbildung, musische Bildung, Entwicklung von Wertvorstellungen – keinesfalls handelt es sich um leicht vergleich- bzw. messbare Parameter.

 

Es grüßt Sie sehr nachdenklich,

Martina Janecek