Karin Liebermann
Feldstrasse 72
3420 Kritzendorf
Betrifft: Bildungsreform 2017
Beibehaltung des § 27a des derzeitigen Schulorganisationsgesetzes
Sehr geehrte Frau Minister!
Sehr geehrte politisch Verantwortliche!
Bildungsreform kann nicht nur strukturelle Maßnahmen in der Organisation und Verwaltung beinhalten, sondern braucht auch reformpädagogische Maßnahmen. Aus gesellschaftspolitisch aktuellen Gründen muss Bildungsreform auch Maßnahmen beinhalten, die zum einen den ständig steigenden Zahlen sozial und emotional beeinträchtigter Kinder und ihren besonderen Bedürfnissen entgegenkommt und Präventionsmaßnahmen beinhalten. Eine österreichische Bildungsreform muss eine differenzierte Betrachtung und somit bildungspolitische speziell orientierte Herangehensweise und Umsetzung beinhalten.
Wien ist anders
Eine Millionenstadt benötigt eine bildungspolitisch professionelle, komplexe Herangehensweise, die der soziokulturellen Vielfalt der Bevölkerung entgegenkommt.
Pflichtschule in Wien kann nicht nur mehr als ein Ort der Wissensvermittlung gesehen werden, sondern bedingt durch tiefgreifende Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen, muss es als ein Ort der „Gesamtbildung“ verstanden werden. Im Wesentlichen auch eine Institution der Erziehung zum friedlichen Miteinander vieler Kulturen, ein sicherer Ort der Vertrauensbildung und ein Ort an dem Kinder kompetente Unterstützung und Hilfe auf allen Ebenen erfahren. Alle Kinder brauchen ein Milieu des Schutzes, der Geborgenheit, der Verlässlichkeit und des Wohlwollens um sich positiv zu entwickeln. Für viele Kinder aus belasteten Familien ist die Schule dieser Ort.
Aufgrund meiner Erfahrungen und meines Wissens erachte ich eine Beibehaltung der Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik, dieses erprobte und erfolgreiche pädagogische System mit regionalen Kompetenzzentren als unverzichtbar.
Im Folgenden möchte ich Ihnen, den politisch Verantwortlichen, unseren Aufgabenbereich skizzieren: Im Zentrum unserer Arbeit als BeratungslehrerInnen und Psychagoginnen stehen Kinder, die ein erhebliches Maß an Vernachlässigung aufweisen, körperlicher und emotionaler Misshandlung und Missbrauch, somit großen Leid ausgesetzt sind. Sie wachsen in Familien mit schwerwiegenden Belastungen auf: Bildungsnotstand, existenzielle Nöte und Armut, schwierigste Wohnverhältnisse, , massive gesundheitliche Probleme der Eltern, Arbeitsprobleme aufgrund mangelnder Arbeitsfähigkeit, Arbeitslosigkeit und fast immer geringe Kompetenz zur Bewältigung des Alltags.
Unabdingbar für eine förderliche Beratung ,Betreuung und Entwicklungsverlauf der betroffenen Kinder ist der Aufbau einer stabilen Beziehung und einer gedeihlichen Vertrauensbasis mit deren Eltern und Lehrern. Absolut notwendig ist die Kooperation und Vernetzung mit Amt für Jugend und Familie, Kindergarten und Hort, außerschulischer Jugendbetreuung, Psychotherapeuten, Psychiatrischen Kliniken und Polizei. Diese Kooperation bedarf einer professionellen, achtsamen Beziehungs-und Gesprächskultur und ein kontinuierliches, kompetentes Engagement, erfordert hohe Präsenz,engmaschig mit leichter Erreichbarkeit. Diese Vernetzung ist durch regionale Kompetenzzentren bestmöglichst gegeben. Eine Zentralisierung durch eine Bildungsdirektion unter juristischem Aspekt kann dieser herausfordernden pädagogischen, psychosozialen und bildungspolitischen Aufgabe nicht gerecht werden.
Stützende, wertschätzende und verfügbare Beziehungen sind laut weltweiter Resilienzforschungen unverzichtbar für eine positive gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Ebenso haben Forschungsstudien nachgewiesen, dass Eltern vernachlässigter Kinder selbst besonders wenig Zuwendung, Aufmerksamkeit, Fürsorge und Liebe bekommen haben und Hilfsangebote und Therapien vorzeitig abbrechen. Es braucht viel psychologisches Wissen, Behutsamkeit, Geduld und Verständnis um solche Eltern zur Kooperation bewegen zu können.
Gesellschaftspolitisch wichtig ist ein wesentlicher Aspekt, der oft völlig ausgeblendet wird und dennoch immense Folgen für den Staat hat: Vernachlässigte Kinder werden älter und bekommen selbst Kinder. Wichtig ist für die politisch Verantwortlichen einer Bildungsreform sich diese Folgen bewusst zu machen.
Eine umfangreiche Traumakostenfolgestudie durch Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch im Kindesalter ,die weltweite Untersuchungs- und neueste Forschungsergebnisse berücksichtigt, hat das deutsche Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012 in Auftrag gegeben und kam zu nachstehenden Ergebnissen; vergleichbare, so komplexe österreichische Studien existieren noch nicht
Traumatisierung, Vernachlässigung, Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist kein Randphänomen, sondern umgibt uns alle.11% der deutschen Gesamtbevölkerung ist davon betroffen. Wie die weltweiten Forschungsergebnisse zeigen, werden durch diese Erlebnisse in der Kindheit, Prozesse in Gang gesetzt, die im Erwachsenenalter zu folgenden psychischen und physischen Krankheiten führen: Depressive Störungen, Angststörungen, sämtliche Suchterkrankungen, Somatoforme Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltes, Posttraumatische Belastungsstörung, Übergewicht, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Ischämische Herzerkrankungen. Im Besonderen wird darauf hingewiesen, dass mehrere Störungen oft gleichzeitig vorliegen. Im Folgenden skizziere ich Ihnen Auszüge:
Depressive Störungen gehören weltweit zu den am meisten untersuchten Folgestörungen durch Vernachlässigung im Kindesalter .Depressive Störungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland mit Hinweisen auf eine stark steigende Tendenz. In Deutschland sind 5-6 Millionen Menschen betroffen. Der Verlauf ist in bis zu 30% der Fälle chronisch, sodass die Betroffenen über Jahre hinweg in ihrer Lebensführung stark beeinträchtigt sind. Aufgrund ihrer weiten Verbreitung und großen Beeinträchtigung wird den depressiven Störungen eine herausragende klinische, gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Bedeutung zugeschrieben.
Die dissoziale Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch fehlende Empathie und Mitgefühl und die daraus entstehende Missachtung sozialer Verpflichtungen. Die dissoziale Persönlichkeitsstörung findet sich überdurchschnittlich häufig bei Strafgefangenen, bei denen lt. einer aktuellen deutschen Studie eine schwere Traumatisierung durch Vernachlässigung in der Kindheit vorliegt.70% der Strafgefangenen leiden an einer diagnostizierten dissozialen Persönlichkeitsstörung.
Störungen des Sozialverhaltens sind gekennzeichnet durch eine massiv gestörte Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt, die durch Aggression und oppositionelles Verhalten geprägt ist. Diese Störungen sind die zweithäufigste psychiatrische Diagnose im Kindes-und Jugendalter.
Die Prävention von Kindesmisshandlung /-missbrauch und Vernachlässigung ist nicht nur aus ethischer Sicht die sinnvollste Maßnahme zur Reduktion einer großen gesellschaftlichen Last, sondern hat sich in internationalen Studien auch als ausgesprochen kosteneffizient erwiesen. Prävention mit Evidenz der Neurowissenschaft, Psychologie, Verhaltensforschung und Ökonomie wird als effektivere und weniger kostspielige Methode im Vergleich zur Behandlung der Folgen von kindlicher Misshandlung ausgewiesen. Das Projekt Schulsprechstunde, welches professionelle Hilfe in die Schulen bringt und an dem von Anfang an Lehrer, Eltern, Psychologen, Sozialarbeiter sowie Kinder und Jugendpsychiater beteiligt sind, wird in dieser Studie beispielgebend , erwähnt. In anderen Studien wurde nachgewiesen, dass schon kleine Erfolge in der gezielten Präventionsarbeit einen finanziellen Vorteil für die Gesellschaft brächten, ganz abgesehen von den menschlichen Gewinnen durch Verringerung persönlichen Leids.
In internationalen Studien kommt man zu folgenden Ergebnissen: Misshandlung im Kindesalter wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus und wirkt, unbehandelt, ein ganzes Leben lang. Die Folgen sind nicht nur individuell, sondern stellen aufgrund der hohen Kosten ein gesamtgesellschaftliches Problem dar. So werden in Deutschland die Kosten aufgrund von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung auf bis zu 30 Milliarden geschätzt.
Wir PädagogInnen an Wiener Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik haben ein Ziel!
Die Welt für Kinder und besonders für diejenigen, die körperlich und oder geistig und oder emotional und oder sozial benachteiligt sind, zu einem besseren Ort zu verändern. Als politisch Verantwortliche bitte ich Sie im Namen dieser Kinder - und die Zahl ist ständig im Wachsen begriffen- für diese Kinder mit ganz besonderen Bedürfnissen eine professionelle Bildungsreform zu gestalten.