Sabine Bacher-Haslinger

Reinhold. 35/3

1220 Wien                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             29.04.2017

 

 

Stellungnahme zum geplanten Bildungsreformgesetz 2017

 

per mail an: 

 

Bundesministerium für Bildung 

begutachtung@bmb.gv.at

 

und

 

An das Österreichische Parlament

begutachtungsverfahren@parlament.gv.at

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

ich bin Mutter von Zwillingsburschen mit besonderen Bedürfnissen( SPF ), 10 Jahre alt!

 

Ich bin für INKLUSION und ich teile den Inklusionsgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention.

Inklusion von Kindern mit besonderen Bedürfnissen ist aber nur unter der Voraussetzung von genug PädagogInnen, PädagogInnen mit spezieller Ausbildung und großer Erfahrung = Sonderpädagoginnen, ErgotherapeutInnen, PhysiotherapeutInnen, Psychologinnen, SozialarbeiterInnen, persönlichen AssistentInnen, medizinisches Pflegepersonal für chronisch kranke Kinder, usw. und auch den dafür nötigen Ressourcen und baulichen Maßnahmen möglich!

 

Sonderpädagogik: Zu Z 29 (II. Hauptstück Teil A Z 3 lit. c, § 27a – Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik):

ZIS/SPF:

Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf sollen die Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik 

aufgelöst und deren Aufgaben unmittelbar von den Bildungsdirektionen wahrgenommen werden, die keine spezifischen, sonderpädagogischen Ausbildungen aufweisen (wird es in Zukunft auch nicht mehr geben, weil in der LehrerInnenbildung Neu nur mehr ein paar freiwillige Module in Inklusivpädagogik angeboten werden) und damit in fahrlässiger Weise mit den Bedürfnissen und Rechten der Kinder mit speziellen Bedürfnissen umgegangen wird.

 

An fast allen Regelschulen Wiens arbeiten LehrerInnen der Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik in dringend benötigten, pädagogisch unverzichtbaren Betreuungsstrukturen für SchülerInnen mit sozialen und emotionalen Bedürfnissen. 

 

Weniger als 10 % aller SchülerInnen werden nicht inklusiv betreut, alle anderen inklusiv an den Regelschulen. Durch das Autonomiepaket wären aber alle ambulant eingesetzten LehrerInnen wie Sonderpädagogische BeraterInnen, PsychagogInnen, BeratungslehrerInnen, SprachheillehrerInnen, HeilstättenlehrerInnen, IntensivpädagogInnen, AutistenmentorInnen, StützlehrerInnen, mobile LehrerInnen für sinnes- und körperbehinderte Kinder auf einen Schlag nicht mehr für die Unterstützung der Kinder und den RegelschullehrerInnen vor Ort zur Verfügung. Ein Vakuum ungeahnten Ausmaßes mit Beziehungsabbrüchen bei bestehenden Betreuungen von Kindern wäre die Folge.

 

Die Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik bieten fachlich hochkompetente, bewährte und vernetzte Unterstützungsstrukturen und sollen erhalten bleiben. Nur durch diese ist die individuelle Förderung aller Kinder mit besonderen Bedürfnissen möglich.

 

Der sonderpädagogische Förderbedarf darf nicht abgeschafft werden:

Das bewährte System unter Einbindung des schulpsychologischen Dienstes und der Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik, Kindern mit besonderen Bedürfnissen Unterstützung angedeihen zu lassen, wird nicht mehr existieren. Es wird ein qualitiativ hochwertiges Supportssytem abgeschafft und hoch qualifizierte SonderpädagogInnen sollen durch billige Assistenzkräfte („Hilfslehrer“) ersetzt werden. Sowohl Erziehungsberechtigte, als auch LehrerInnen und SchulleiterInnen verlieren dadurch ihre fachlich hochkompetenten AnsprechpartnerInnen in der Region. Leidtragende sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen, da die derzeit individuell abgestimmte Beschulung und Betreuung verloren gehen.

 

Ziel ist, die Anzahl der SPF-Kinder zu senken durch Änderung und Verschlankung des Feststellungsverfahrens, nicht durch Frühförderung oder bessere Betreuung! Das ist ein verstecktes Sparpaket auf Kosten unserer Kinder!

Eine Senkung der SPF-Zahlen bei deutlich steigenden erhöhten Bedürfnissen bei vielen Kindern ignoriert die Realität!

Oft werden SchülerInnen, die einen SPF brauchen würden, um einen Integrationsplatz zu bekommen, in Regelklassen mit 25 SchülerInnen und nur einer PädagogIn durch die Grundschule mitgeschleppt.

Überforderte Kinder reagieren manchmal mit Verhaltensauffälligkeiten und Aggression – dies kann die Lehrerinnen und alle Kinder und das betroffene Kind bis zur Verzweiflung und zum Burnout bringen!

 

 

KlassenschülerInnen-Höchstzahl:

Die Streichung etwa der KlassenschülerInnen-Höchstzahl von 25 stellt keine Verbesserung der Betreuungssituation dar und darf nicht durchgeführt werden!

 

Wenn Kinder mit besonderen Bedürfnissen „inkludiert“ werden, sollte die KlassenschülerInnen-Höchstzahl von 20 bei max. 4 – 5 „Integrationskindern“ nicht überschritten werden!

 

Einer meiner Söhne geht in eine Integrationsklasse, die mit einer Sonderpädagogin und einer Pädagogin mit je einer vollen Lehrverpflichtung besetzt ist, an einer Schule mit sehr, sehr engagierten LehrerInnen mit vielen zusätzlichen Ausbildungen und der kompetenten Direktorin! Und trotzdem funktioniert Inklusion nur mit tatkräftiger Unterstützung vom ZIS und vieler Eltern! (Urlaubstage für Schule nehmen für Begleitung bei Ausflügen, Schwimmkurs, Radfahrtraining, Lesenacht, „Schulprojekten“ wie Forscherwerkstatt, Tätigkeit im Elternverein und Montessoriverein, der spezielles Fördermaterial für den Schulunterricht finanziert, usw.)

 

Schulversuche:

In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind in Österreich zahlreiche neue pädagogische Modelle als Schulversuch höchst erfolgreich erprobt, durchgeführt und etabliert worden, u.a. auch das Modell der reformpädagogischen Mehrstufenklasse in Wien. Das dahinterstehende Engagement und die Innovationskraft der beteiligten LehrerInnen als „zweckentfremdend eingesetzte Schulversuche“, die jetzt aufgrund der neuen Schulautonomie hinfällig sein sollen, ist eine nicht haltbare Unterstellung und hat in einem Gesetzestext nichts verloren!

Durch die Neufassung des §7 soll die Erprobung neuer fachlicher, pädagogischer und didaktischer Weiterentwicklung nur mehr vom Ministerium initiiert, gesteuert und genehmigt  werden. Dies ist ein Rückschritt, da kein Raum mehr für Innovation von der Basis aus ist.

 

Reformpädagogische Mehrstufenklassen:

Nett gemeint ist auch die Feststellung, dass jahrgangsübergreifender Unterricht mit den neuen Bestimmungen möglich ist. Ein „Dauer-jahrgangsübergreifender-Unterricht“, wie er in den Mehrstufenklassen derzeit stattfindet, ist aber ohne zusätzliche Ressourcen (derzeit vom Wiener Stadtschulrat) nicht denkbar. Dieses höchst erfolgreiche, bei Eltern wie SchülerInnen beliebte Modell darf nicht beendet werden!

 

Einer meiner Söhne geht in eine Mehrstufenintegrationsklasse  im 22. Bezirk und ist dort bestens gefördert!

 

Schulzeit:

Schulbesuch für behinderte Kinder jedenfalls bis vollendetes 19. Lebensjahr.

Die Sonderschulzeit endet derzeit mit der 9.Schulstufe (10.Schulstufe Berufsvorbereitung) und kann auf Basis von Entwicklungsplänen und Zustimmung von Land/Gemeinde um 2 Jahre verlängert werden. 

 Dadurch ist eine unverständliche Benachteiligung von Kinder mit besonderen Bedürfnissen gegeben. Ein „normales“ Kind, welches in Unterstufe und Oberstufe eine Schulstufe wiederholt, vielleicht dann noch zwischen Höherer- und Fachschule wechselt, kann kostenlos bis zum Alter von 20 oder 22 Jahren ausgebildet werden und ggf. danach noch studieren.

 

Da gerade die Betreuungs- und Ausbildungsplätze für behinderte Jugendliche – in Kombination mit Jugendschutzgesetz und Arbeitsrechtlichen Vorschriften- Mangelware sind, sowie bei vielen aktuellen Behinderungen Entwicklungsschritte erst sehr spät erfolgen (Ich spreche aus persönlicher Erfahrung), soll die Möglichkeit gegeben sein, zumindest bis zur Vollendung des 19. Lebensjahres die Sonderschule oder Integrationsklassen in der Mittelschule oder Gymnasium zu besuchen. Bei positiven Entwicklungsgutachten auch länger.

 

Recht auf inklusive Nachmittagsbetreuung  in der Sekundarstufe:

Das Schulpaket soll um ein gesetzlich verankertes und durchsetzbares Recht auf Nachmittags- und Ferienbetreuung erweitert werden. Jedes Kind soll am Schulstandort auch am Nachmittag einen Platz bekommen, der dem Grundsatz von Inklusion entspricht. Entsprechende Rahmenbedingungen müssen bereitgestellt werden.

Selbst wenn die Inklusion am Vormittag gut gelingt, so gibt es dann am Nachmittag kein Angebot, oder Kinder werden „exkludiert“ und mit einem Fahrtendienst weggebracht. Was würden Eltern von Kindern ohne Behinderung sagen, wenn man deren Kinder untertags „zwangsverschiebt“?

 

Wahlrecht für ein zusätzliches Kindergartenjahr:

Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen wird bereits beim Schuleintritt häufig völlig überfordert, wenn das Entwicklungsalter noch Jahre darunter liegt. Deshalb fordere ich:  Gesetzlicher Anspruch für ein zusätzliches Jahr im Kindergarten adäquat zum verpflichtenden letzten Kindergartenjahr ohne Reduktion des Anspruchs auf Schuljahre.

Wenn für "sommergeborene Frühchen" eine flexible Lösung angeboten wird, dann wünsche ich auch für Kinder mit besonderen Bedürfnissen eine entwicklungspassende Regelung.

 

Cluster und Autonomie

Die Einführung von Clustern mag vielleicht für die Erhaltung von Kleinschulen in diversen Bundesländern sinnvoll sein, für Schulen in Wien, wo ohnehin meist mehr als 300 Kinder eine Volksschule besuchen, wäre dies nicht förderlich. Eine Vielzahl an administrativen Arbeiten und Verwaltungsaufgaben belasten jetzt schon LehrerInnen und DirektorInnen. In einem Schul-Großbetrieb würden diese überhand nehmen, wo bleibt dann die Zeit für die Pädagogische Leitung? Administrativer Aufwand verschlingt immer mehr Zeit, die für die Vorbereitung der individuellen Förderung der SchülerInnen fehlt!

 

Wie sollen an einem Großbetreib mit über 2000 SchülerInnen Konferenzen und Besprechungen durchgeführt werden?

 

Bildungsreform? JA, aber KEIN „verstecktes Sparpaket“!

 

Inklusion? Ja bitte, aber nicht auf dem Rücken der Zukunft unserer Kinder!

 

Mit der Bitte um Berücksichtigung meiner Bedenken in meiner Stellungnahme

 

Mit freundlichen Grüssen!                                                                                                               Sabine Bacher-Haslinger

 

Ich erkläre mich mit der Veröffentlichung dieser Stellungnahme auf der Homepage des Österreichischen Parlaments ausdrücklich einverstanden.

 

Sabine Bacher-Haslinger

Reinholdg. 35/3

1220 Wien

bacher.haslinger@a1.net