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„Parlament und Parteien:

ein Blick auf Österreich seit 1989“

 

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Symposium

Montag, 13. Oktober 2014

Lokal VI

 

 

Stenographisches Protokoll


Programm

Begrüßung durch die VeranstalterInnen

Präsidentin des Nationalrates Doris Bures

stv. Institutsvorstand des Instituts für Politikwissenschaft
an der Universität Wien Josef Melchior

Einleitung

Bundespräsident Heinz Fischer: Parlament und Demokratie

Podien

Panel I: Politik in der modernen Demokratie

Anton Pelinka                Parteien in der Krise

Birgit Sauer                   Parlament als Ort der Repräsentation von Frauen?

Erhard Busek                Europa – Wahrnehmung in Politik, Parlament und Parteien

Harald Dossi                 Moderation

Panel II: Was sind und wozu brauchen wir politische Parteien?

Freda Meissner-Blau    Wie Neue Soziale Bewegungen zu Parteien werden

Manfried Welan             Repräsentation durch Abgeordnete – Fiktion oder Realität –
                                      österreichische Perspektive

Josef Melchior               Repräsentation durch Abgeordnete – Fiktion oder Realität –
                                      europäische Perspektive

Barbara Blümel             Moderation

PAUSE

Panel III: Parlamentarismus

Marion Löffler                Politische Kultur/Streitkultur im Plenum des Nationalrates
                                      der Zweiten Republik

Heinrich Neisser           Parlamentarismus aus Sicht des Mandatars

Andreas Koller              Parlamentarismus aus Sicht des Journalisten – zwischen
                                      Verantwortung der Institution gegenüber und notwendigem
                                      kritischem Hinterfragen

Susanne Janistyn-
Novák                            Moderation

Panel IV: Förderung des gesellschaftlich-kritischen Bewusstseins:
Czernys Arbeit an der Universität und der Katholischen Sozialakademie

Thomas Weninger        Czerny als Universitätslehrer

Alois Riedlsperger        Czernys Wirken an der Katholischen Sozialakademie Österreichs

Edith Riether                 Moderation

Moderation der Veranstaltung: Helmut Kramer


 

 

Symposium zum 90. Geburtstag von Dr. Wilhelm F. Czerny

Hon.-Prof. Dr. Wilhelm F. Czerny (4.9.1924–5.10.1989) gehörte der Parlamentsdirektion von 1948 bis 1989 – von 1973 bis 1989 in der Funktion des Parlamentsdirektors – an.

In den Jahren 1960 bis 1973 arbeitete er maßgeblich auch in der Katholischen Sozialakademie; Dr. Czerny hat mit seinen Publikationen und Vorträgen in der Frühphase der Einführung der Politikwissenschaft in Österreich – als akademisches Fach erst 1971 an den Universitäten Wien und Salzburg etabliert – eine wichtige Pionierfunktion ausgeübt. 1982 bis 1989 lehrte er als Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Als er 1989 kurz nach seiner Pensionierung verstarb, hinterließ er umfangreiche Schriften, die sich mit der Politik in der modernen Demokratie ebenso beschäftigten wie mit dem Parlamentarismus im Allgemeinen und der Rolle der Parteien im Besonderen. Nicht zuletzt war der Themenkomplex „Kirche und Staat“ für ihn von Interesse.

Auch 25 Jahre nach seinem Tod sind seine Texte interessant – zum einen, weil sie sich mit damals ganz neuen Themen, wie den neuen Kommunikationstechnologien oder auch Neuen Sozialen Bewegungen beschäftigen, zum anderen, weil sie eine fundierte Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen der Demokratie darstellen und damit zeitlos sind.

Das Symposium versucht, diese Fragen für heute erneut zu stellen, Denkanstöße zu geben und die Antworten weiterzuentwickeln.


 

Beginn des Symposiums: 14.05 Uhr

Präsidentin Doris Bures: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie sehr herzlich zum heutigen Symposium „Parlament und Parteien: ein Blick auf Österreich seit 1989“, das dem Gedenken an den langjährigen Parlamentsdirektor Honorarprofessor Dr. Wilhelm Czerny gewidmet ist.

Ich selbst habe Prof. Wilhelm Czerny persönlich nicht kennenlernen dürfen, aber unserer heutigen Einladung sind viele seiner Freunde und viele seiner langjährigen Wegbegleiter gefolgt. Allein anhand der großen Zahl an hochrangigen Politikern und Politikerinnen, Experten und Expertinnen lässt sich die Wertschätzung ablesen, die ihm heute noch, 25 Jahre nach seinem Tod, zu seinem 90. Geburtstag entgegengebracht wird.

An der Spitze des offiziellen Österreich begrüße ich mit großem Respekt einen dieser Freunde und Wegbegleiter Czernys: Herzlich willkommen, Herr Bundespräsident Dr. Heinz Fischer! (Beifall.)

Ich begrüße den Nationalratspräsidenten außer Dienst Dr. Andreas Khol (Beifall), den Vizekanzler außer Dienst Dr. Erhard Busek (Beifall), die Bundesministerin außer Dienst Eleonora Hostasch (Beifall), den Bundesminister außer Dienst Dr. Peter Jankowitsch (Beifall) und die Präsidentin des Bundesrates außer Dienst Anna Elisabeth Haselbach. – Herzlich willkommen! (Beifall.)

Ich glaube, noch nicht unter uns ist – ich habe ihn nicht gesehen – der Zweite Nationalratspräsident außer Dienst Dr. Heinrich Neisser. Aber er kommt, er hat auch eine Paneldiskussion übernommen.

Ich begrüße die Klubvorsitzende der Grünen in einer spannenden Zeit, die Czerny noch mitbegleitet hat, nämlich als der Grüne Klub im österreichischen Parlament begründet wurde. – Herzlich willkommen, Freda Meissner-Blau! (Beifall.)

Ich begrüße den Volksanwalt und Klubobmann außer Dienst Dr. Peter Kostelka recht herzlich. (Beifall.) Und selbstverständlich – heute geht es um einen großen ehemaligen Parlamentsdirektor – begrüße ich auch den amtierenden Parlamentsdirektor. – Herzlich willkommen, Dr. Harald Dossi! (Beifall.)

Die Verbindung von Wissenschaft und Praxis, die Prof. Czerny immer wichtig war, spiegelt sich auch darin wider, dass das heutige Symposium in Kooperation mit dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien veranstaltet wird. Daher möchte ich eine Begrüßung auch mit Dank verbinden. Ich begrüße und ich bedanke mich bei Prof. Helmut Kramer und Prof. Josef Melchior, die dieses Symposium angeregt und organisiert haben. – Herzlich willkommen und herzlichen Dank! (Beifall.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Prof. Czerny gehörte 41 Jahre der Parlamentsdirektion an, davon 16 Jahre als Parlamentsdirektor. Es gibt kaum einen anderen, der mit der parlamentarischen Praxis so vertraut war wie er und der dem Parlamentarismus in so vielfältiger Art und Weise so eng verbunden war.

In zahlreichen Artikeln beschäftigte er sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Fragen der Demokratie und mit Fragen des Parlamentarismus. Er war sieben Jahre als Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Wien tätig. Das 1994, fünf Jahre nach seinem Tod, von Edith Riether und Günther Schefbeck herausgegebene Buch mit dem Titel „Parlament und Parteien“ illustriert eindrucksvoll die Breite seines wissenschaftlichen Wirkens. Mit dem heutigen Symposium möchten wir gewissermaßen genau daran auch anknüpfen und 25 Jahre nach seinem Tod einige der von ihm behandelten Fragen wieder aufgreifen und aus aktueller Perspektive beleuchten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Demokratie und Parlamentarismus sind dynamische Prozesse, die in dauernder Bewegung sind und von ständiger Reflexion und der Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten begleitet werden müssen.

Erst vor wenigen Tagen hat der Hauptausschuss des österreichischen Nationalrats in diesem Zusammenhang die Einsetzung einer Enquete-Kommission mit dem Thema „Stärkung der Demokratie in Österreich“ beschlossen. Es geht um die Frage der Stärkung der Demokratie, der Stärkung der parlamentarischen Demokratie und auch um die Frage direktdemokratischer Elemente, wobei wir diesmal erstmals auch die Zivilgesellschaft einbeziehen werden, und zwar über moderne Kommunikationstechnologien, aber auch durch direkte Beteiligungen von Bürgerinnen und Bürgern an diesem Prozess.

Es freut mich, dass die parlamentarische Demokratie im Zentrum der heutigen Veranstaltung steht. Wilhelm Czerny hat in seinen Schriften wiederholt auf die zentrale Rolle, die Parteien in einer Demokratie als unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Demokratie zukommt, hingewiesen. Czerny hat dies pointiert dahin gehend formuliert, dass den Parteien gewissermaßen die Demokratie als solche anvertraut ist.

Bundespräsident Heinz Fischer hat in seinem Geleitwort zum Buch „Parlament und Parteien“ über Prof. Czerny geschrieben: „Czerny war ein überzeugter Demokrat, ein leidenschaftlicher Anhänger des Parlamentarismus und ein ausgezeichneter Parlamentsdirektor.“

In diesem Sinne und davon ausgehend wünsche ich Ihnen für die nächsten Stunden interessante, informative und ertragreiche Diskussionen. – Herzlich willkommen beim Symposium! (Beifall.)

Assistenzprofessor Dr. Josef Melchior: Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin! Sehr geehrter Herr Parlamentsdirektor! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Sie im Namen des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Wien zu diesem Symposium begrüßen zu dürfen. Ich freue mich besonders, dass dieses Symposium in den Räumlichkeiten des Parlaments stattfindet, in dem Wilhelm Czerny, wie gerade gehört, sehr lange gewirkt hat.

Wilhelm Czerny war nicht nur ein loyaler Fachbeamter, sondern er war zugleich engagierter Bürger und kritischer Intellektueller. Er besaß eine breite Bildung, die er sich durch Studien der Philosophie, der Germanistik, der Rechtswissenschaften und der -philosophie erworben hatte. Er war Mitbegründer der Katholischen Sozialakademie Österreichs, in der und für die er sich zeitlebens engagierte.

Wie schon angemerkt beschäftigte Wilhelm Czerny sich sehr intensiv mit dem Parlament, dem Ort seines Wirkens, und dem Parlamentarismus in Geschichte und Gegenwart. Er analysierte kritisch die Rolle der politischen Parteien in der modernen Demokratie, und er stellte sich grundsätzliche Fragen zum Funktionieren demokratischer Politik und auch zum Verhältnis von Kirche und Staat.

Wilhelm Czerny war auch mit dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien eng verbunden. In gewisser Weise war er mit diesem Institut sogar bereits verbunden, noch ehe es gegründet worden war. Er gehörte nämlich zu den Ersten, die bereits Ende der fünfziger Jahre öffentlich über die Möglichkeit des Studierens von Politik an österreichischen Universitäten nachdachten, und auf diese Weise gab er Anstöße, politikwissenschaftliche Studien an den österreichischen Universitäten einzurichten.

Durch seine Studien zur Politik und seine intimen Kenntnisse des österreichischen Parlamentarismus qualifizierte er sich zum akademischen Lehrer. Zweieinhalb Jahrzehnte nachdem er der Einrichtung politikwissenschaftlicher Studien das Wort geredet hatte, begann er am inzwischen etablierten Institut für Politikwissenschaft zu unterrichten, zuerst als Lehrbeauftragter und dann, wie wir gehört haben, als Honorarprofessor.

Leider war es auch mir nicht vergönnt, Wilhelm Czerny als Universitätslehrer kennenzulernen, obwohl es einige Überschneidungen zwischen seiner Lehrtätigkeit und meiner Studienzeit an der Universität Wien gab. Umso mehr freue ich mich, dass das heutige Symposium sich mit Themen beschäftigt, mit denen sich auch Wilhelm Czerny intensiv und systematisch auseinandergesetzt hat.

Vieles von dem, was Wilhelm Czerny über das Wesen von Politik, von Staat und Demokratie geschrieben hat, ist auch heute noch lesenswert, und manches verdient, wiederentdeckt zu werden. Dazu zählt vielleicht die Bedeutung der Integration, die Wilhelm Czerny an vielen Stellen seiner Schriften als wichtige Aufgabe von Politik, aber insbesondere auch von Staat, Demokratie und Parteien einforderte.

Gerade in Zeiten, in denen neue gesellschaftliche Brüche sichtbar werden, Solidarität zu einem knappen Gut wird und das Konkurrenzdenken zum herrschenden Prinzip in allen Lebensbereichen geworden ist, darf daran erinnert werden – und jetzt zitiere ich Wilhelm Czerny –, dass „eine Gesellschaft von nach gut gelernten Spielregeln konkurrierenden Egoisten (…) noch kein demokratischer Staat“ ist.

Ebenfalls vor 35 Jahren hat Wilhelm Czerny in einem Artikel über die Krise der Demokratie Folgendes geschrieben:

Könnten im Zeitalter der Ideologien noch große Zukunftsvisionen und ein positives Wollen einander gegenübergestellt werden, so ist heute das zunächst Wissbare und auch anscheinend zwangsläufig Herbeizuführende fast unbestritten. Aus der Diskussion über große politische Zielsetzungen wird also heute entweder ein Methodenstreit oder im meist eintretenden schlechteren Falle eine gegenseitige Herabsetzung, weil man sich vom Gegner kaum mehr anders als durch dessen Unfähigkeit abheben zu können glaubt. – Zitatende.

Wilhelm Czerny hat es verstanden, kritische Diagnose und positives Engagement zu verbinden und hat diese Haltung an Generationen von Studierenden weitergegeben. Ich bin überzeugt davon, dass das heutige Symposium in eben diesem Geiste abgehalten wird, und wünsche allen Beteiligten ein gutes Gelingen.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, an die verstorbene Nationalratspräsidentin Barbara Prammer zu erinnern, die den Dialog zwischen Politik und Politikwissenschaft gesucht und den Weg für diese Veranstaltung geebnet hat. Mein Dank gilt auch der amtierenden Nationalratspräsidentin Doris Bures, die diesen Weg fortsetzt und die Durchführung dieses Symposiums nicht nur ermöglicht, sondern aktiv mitgestaltet.

Besonders bedanken möchte ich mich bei Professor Helmut Kramer, auf dessen Initiative und dessen Ideen diese Veranstaltung beruht. – Herzlichen Dank!

Ein Dankeschön gebührt nicht zuletzt den MitarbeiterInnen der Parlamentsdirektion und Herrn Schreier vom Sekretariat für Politikwissenschaft für ihren Einsatz und die organisatorische Unterstützung. – Herzlichen Dank! (Beifall.)

*****

„Parlament und Demokratie“

Bundespräsident Dr. Heinz Fischer: Hoch geschätzte Frau Präsidentin des Nationalrates! Sehr geehrter Herr Altpräsident Andreas Khol! Meine sehr verehrten langjährigen Präsidenten des Bundesrates, Professor Schambeck und Anneliese Haselbach! Verehrte Mitglieder früherer Bundesregierungen, Klubvorsitzende, Referenten des heutigen Tages! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich erfahren habe, dass diese Veranstaltung geplant ist, habe ich mich wirklich von Herzen gefreut. Es ist ja nicht nur das Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen – Parlament und Parteien –, interessant und wichtig, sondern es ist eine begrüßenswerte Idee, diese Beschäftigung mit dem 90. Geburtstag des leider viel zu früh verstorbenen langjährigen Parlamentsdirektors Dr. Wilhelm Czerny zu verbinden, die sehr, sehr viele persönliche Erinnerungen weckt, Erinnerungen an einen – ich glaube, das darf man sagen – Beamten der alten Schule, mit all jenen guten Eigenschaften, die diesen Menschentyp beziehungsweise Beamtentyp ausgezeichnet haben, nämlich korrekt, pflichtbewusst, loyal, engagiert, am Gemeinwohl orientiert, gebildet und anderen Menschen positiv zugeneigt.

Wilhelm Czerny ist, wie wir schon gehört haben, 1924 geboren. Ich versuche, so etwas immer ein bisschen in die Zeitgeschichte einzureihen. Vom März 1933 wird er als Neunjähriger wahrscheinlich nicht allzu viel mitbekommen haben, obwohl ihn das später sehr beschäftigt hat. Beim Anschluss im Jahr 1938 war er schon 14 Jahre alt, bei Kriegsende 1945 war er großjährig, mit damals 21 Jahren, und drei Jahre später, 1948 – Stichwort Berliner Blockade in einem anderen Teil Europas –, ist er in die Parlamentsdirektion eingetreten. Er hat das alles mit wachen Augen beobachtet.

Einige Herren, die vor ihm in die Parlamentsdirektion eingetreten sind, hat er köstlich beschreiben können, etwa den damaligen Parlamentsdirektor Dr. Rosicky, der, wenn Budgetgelder fürs Parlament übrig geblieben sind, was damals noch häufig der Fall war, die Teppichsammlung des Parlaments vergrößert hat, oder den damaligen ÖVP-Klubdirektor Dr. Smekal, wo ein Anruf von Julius Raab genügt hat, und Dr. Smekal ist ins Parlament eingetreten und dann dem ÖVP-Klub zugeteilt worden. Sehr freundschaftliche Beziehungen hat er auch zu Leopold Gratz gepflegt, der ihn sehr geschätzt hat.

Im Jahr 1962 bin dann ich in die Parlamentsdirektion aufgenommen und dem damaligen Zweiten Präsidenten Friedrich Hillegeist dienstzugeteilt worden, der ja, wie wir wissen, im Jahr 1938 bei der Frage, ob noch eine Volksabstimmung möglich ist und ob da eine geschlossene Haltung von Christlich-Sozialen und Arbeiterbewegung möglich ist, eine wichtige Rolle gespielt hat und der ein wirklich interessanter Gesprächspartner war.

Ich habe das Gefühl, Wilhelm Czerny hat mich auch irgendwie unter seine Fittiche genommen. Ich habe viel Kontakt mit ihm gehabt. Eine Augenzeugin, Frau Dr. Riether, ist ja hier anwesend. Einige Jahre später ist er an mich mit der Idee herangetreten, dass wir doch gemeinsam einen Kommentar zur Geschäftsordnung des Nationalrats schreiben sollten. Seit der Lektüre des jüngsten Buches von Erhard Busek weiß ich, dass es da anscheinend noch eine Vorgeschichte gegeben hat, die mir aber nicht bekannt war, die mich auch nicht stört und die nichts an unserem gemeinsamen Eifer, dieses Projekt durchzuführen, geändert hat.

Da 1965, als wir mit diesem Vorhaben begonnen haben, eine Zeit war, als die Koalition noch in größter Blüte gestanden ist, war es selbstverständlich, dass wir zuerst einmal bei Präsident Maleta einerseits und bei Präsident Waldbrunner andererseits sondiert haben, ob denn das auf allen Seiten auf Wohlgefallen stößt, und um das abzusichern, haben wir auch beide Herren um ein Vorwort gebeten, haben auch von beiden Herren eines bekommen, und so ist dieser Kommentar zur Geschäftsordnung mit Vorwort Maleta einerseits und Vorwort Waldbrunner andererseits erschienen, war damit für die Abgeordneten der beiden Parteien fast unangreifbar und hat eine gewisse Autorität bei der Praxis im Hohen Haus entwickelt.

Die letzten 16 Jahre seiner parlamentarischen Tätigkeit war Dr. Czerny Parlamentsdirektor, also von 1973 bis 1989. Das war eine Entscheidung, die von Anton Benya getroffen wurde, der damals Parlamentspräsident war. Ich will gar nicht irgendwelche Assoziationen wecken, ich sage nur, das spricht sicher für seine Qualität. Wahrscheinlich jeder Parlamentspräsident mit einiger Klugheit und mit dem Wissen, dass ein guter Parlamentsdirektor für einen Parlamentspräsidenten etwas Wichtiges ist, hätte ihn wohl in diese Funktion berufen, die er auch sehr verantwortungsbewusst wahrgenommen hat, als Mensch, der sich sowohl der Praxis als auch der Theorie des Parlamentarismus verpflichtet gefühlt hat.

Im Übrigen ist das Studium der Geschäftsordnung des Nationalrats nichts Trockenes, sondern etwas unglaublich Interessantes. Erstens wird man beim Suchen nach Präzedenzfällen mit den interessantesten Situationen, die es in Parlamenten gegeben hat, vertraut gemacht, weil ein Ruf zur Ordnung oder eine Geschäftsordnungsdebatte ja normalerweise in eher komplexen oder schwierigen Situationen erfolgt.

Zweitens habe ich zum Beispiel zu meiner großen Überraschung gesehen, dass der Übergang von der Monarchie zur Republik zwar staatsrechtlich gesehen ein tiefer Bruch oder Knick war – wir haben dann auch eine neue Verfassung bekommen –, dass aber für eine neue Geschäftsordnung niemand Zeit gehabt hat. Man hat einfach die Geschäftsordnung des alten Abgeordnetenhauses genommen, überall dort, wo „Abgeordnetenhaus“ gestanden ist, hat man „Nationalrat“ eingefügt, überall dort, wo andere Fachausdrücke der Monarchie verwendet wurden, hat man diese „republikanisiert“ beziehungsweise „demokratisiert“, aber eine wirkliche Veränderung hat es in den Jahren 1918/19 kaum gegeben. In allen Reden ist gesagt worden, das werde man demnächst nachholen, aber das „demnächst“ hat sich weder in den folgenden zwei noch in den folgenden fünf noch in den folgenden zehn Jahren ergeben. In Wirklichkeit hat es zum Beispiel im Jahr 1933 dieselbe Geschäftsordnung gegeben wie zum Zeitpunkt des Überganges von der Monarchie zur Republik, weil man sich in diesen bewegten, kontroversiellen Zeiten nicht einigen konnte.

Man hat das auch 1945 nicht gleich gemacht, sondern erst im Jahr 1947 oder 1948 hat es einen Drei-Parteien-Antrag gegeben, der auf Folgendes abgezielt hat: Wenn die drei Nationalratspräsidenten alle gleichzeitig verhindert sind – oder angeblich verhindert sind, Situation 1933 –, dann übernimmt das an Jahren älteste Mitglied des Nationalrates, das einer im Hauptausschuss vertretenen Partei angehört – die KP war nicht im Hauptausschuss vertreten –, den Vorsitz im Nationalrat und sorgt dafür, dass sofort ein neues Präsidium gewählt wird.

In Wirklichkeit hat die erste wirklich große Reform der Geschäftsordnung, an der Czerny mitgearbeitet hat, und zwar führend mitgearbeitet hat, erst Mitte der siebziger Jahre stattgefunden. Einen Vorgriff hat es durch die Einführung der Fragestunde gegeben, die ja auch etwas Neues war und die man in der Ersten Republik nicht gekannt hatte. Dieser Geschäftsordnungsreform des Jahres 1975 sind Verhandlungen in einem Geschäftsordnungskomitee vorangegangen, die sich über vier Jahre erstreckten. Der damalige Dritte Nationalratspräsident Dr. Probst hat darin den Vorsitz geführt, Dr. Czerny war der Sekretär des Komitees, und ich war damals als junger Abgeordneter auch dabei. Ich glaube, das war ein großer, wichtiger Schritt nach vorne.Ich möchte aber Dr. Czerny nicht als einen – unter Anführungszeichen – „nur“ aufs Parlament orientierten Beamten oder Wissenschafter verstanden wissen. Er hat sich ungeheuer für Zeitgeschichte interessiert und hat in diesem Bereich große Fachkenntnisse und Sachkenntnisse gehabt. Er war ja auch kein Jurist, sondern ein Historiker, und er hat sich mit Themen wie katholische Soziallehre, Katholische Sozialakademie oder Kirche und Staat beschäftigt. Er war sehr geschätzt vom damaligen Abgeordneten Kummer, der ja auch der Leiter des Kummer-Institutes war und der sich bemüht hat – das kann man ja auch in dessen Reden nachlesen –, die soziale Dimension in der Politik zu stärken.

Das Symposium, zu dem dankenswerterweise heute eingeladen wurde, steht unter dem Titel „Parlament und Parteien“. Czerny hätte seine Lust an diesem Thema gehabt. Es hätte ihm gefallen, auszubreiten, was er dazu meint, was er dazu zu sagen hat. In der Tat kann es ja keine Demokratie ohne einen Pluralismus der Parteien geben. Ich habe mir da aufgeschrieben: Keine Demokratie ohne Parlament, ohne Parteien oder ohne ein demokratisch gewähltes Steering Committee, denn das ist ja das Parlament in Wirklichkeit: eine demokratisch gewählte Institution. Die Art, wie man es wählt, kann unterschiedlich sein, aber es hat eine zentrale Rolle im Willensbildungsprozess.

Dieser Blick auf das Verhältnis von Parlament und Parteien wird sicher noch schärfer, wenn man in aller Kürze noch einmal ein bisschen in der Zeit zurückgeht und sich vor Augen hält, dass das Jahr 1945 zwar nicht das Jahr null der Republik Österreich, aber doch das Jahr null der Zweiten Republik war und dass dieses Jahr null provisorisch, aber doch erfolgreich mit einem politischen System begonnen hat, in dem es zunächst für die ersten sieben Monate noch kein Parlament gegeben hat.

Politische Parteien haben sich wieder gebildet, im Großen und Ganzen – mit Ausnahmen – mit jenen Strukturen, wie sie bis 1933 existiert haben, teilweise mit anderen Namen, aber auf den Parlamentarismus konnte man sich in dieser Stunde null der Zweiten Republik noch nicht stützen.

Die Gründungsurkunde der Zweiten Republik, die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April, war von keinem Parlament beschlossen oder bestätigt, sondern ein Dokument von Parteienvertretern, die in dieser historischen Stunde in Wien anwesend waren – es waren nicht alle führenden Persönlichkeiten aus den politischen Parteien – und die sich auf eine De-facto-Loyalität verschiedener politischer Gruppierungen mit mehr oder weniger deutlicher Identität mit Parteien aus der Ersten Republik stützen konnten.

Zwar hat sich das zunächst auf die drei Gruppen ÖVP, SPÖ und KPÖ beschränkt, aber man hat Persönlichkeiten wie Renner und Schärf oder Kunschak und Figl oder Honner und Koplenig wie Vertreter eines Parlaments oder Vertreter legitimierter politischer Parteien betrachtet, und sie haben auch als eine Art Regierung – wenn auch provisorische Regierung – agiert.

Die Nationalratswahlen vom November haben diese Struktur in gewisser Hinsicht bestätigt – nachträglich bestätigt – und gleichzeitig einen Auftrag gegeben, wobei die Tatsache interessant ist, dass sich, je mehr man in die Archive dieser Zeit hineinschauen kann, umso deutlicher herausstellt, dass einer der maßgeblichen Gründe, warum die russische Besatzungsmacht in Österreich freie Wahlen erlaubt hat, darin gelegen hat, dass sie von den Kommunisten in Österreich fälschlicherweise – naiverweise, listigerweise, ich weiß es nicht – in die Richtung informiert wurden: Wenn es jetzt Wahlen in Österreich gibt, haben wir Kommunisten mindestens ein Drittel der Stimmen. In der Überlegung, dass ein guter Teil auch auf die Sozialdemokraten entfallen werde und dass man dann, wenn diese beiden Gruppierungen eine starke Mehrheit haben, alles andere an den Rand drängen kann, wurde diesen Wahlen zugestimmt, und das interessante Ergebnis war eine knappe absolute Mehrheit für die ÖVP, etwa 4 Prozent für die KPÖ – eine entsetzliche Enttäuschung – und der Rest für die Sozialdemokraten.

Dementsprechend war damals, in den ersten Jahren, der Einfluss der Parteien – wir sprechen ja über das Verhältnis Parlament und Parteien – enorm groß. Das wichtigste Gremium im Land war mit größtem Abstand, wenn ich jetzt von den alliierten Institutionen absehe, der Koalitionsausschuss. Das Parlament war schwächer, viel schwächer als das heutige Parlament, und Koalitionsabkommen der ersten Jahre nach dem Krieg – 1949, 1953 – waren reine Parteiabkommen, in denen Regelungen bis hinein in die Bezirkshauptmannschaften getroffen wurden.

Wenn in einer Bezirkshauptmannschaft der Posten des Bezirkshauptmannes in absehbarer Zeit neu zu besetzen war, findet man im Koalitionsabkommen aus dieser Zeit Festlegungen, wer der Bezirkshauptmann werden soll. Auch viele andere Funktionen sind damals eben in Koalitionsabkommen oder in Sideletters von den Parteien festgelegt worden.

Ich erzähle das weder besserwissend noch erschüttert. Es war offenbar eine Notwendigkeit, in einer Zeit, in der das Jahr 1934 gerade 14 oder 15 Jahre zurückgelegen ist – also so weit, wie aus heutiger Sicht das Jahr 2000 –, gemeinsam zu regieren. Da hat es dieser Disziplin und Disziplinierung offensichtlich bedurft, und das Parlament war wirklich ein reines Vollzugsorgan.

Als ich 1962 in die Parlamentsdirektion eingetreten bin – und auch noch etwas später; Kollege Busek wird das nicht anders erlebt haben –, war das so: Im SPÖ-Klub hat es einen Klubobmann gegeben – no na –, einen Klubsekretär, drei Sekretärinnen – ich kann Ihnen die Namen heute noch aufzählen: Frau Kresa, Frau Nothelfer, Frau Schrank –, einen Bürodiener, den Herrn Dolezal, einen Chauffeur. Und das war es! Jeder Abgeordnete hat einen Sessel im Klubsitzungssaal und ein Kasterl für die Post gehabt. Arbeitszimmer oder so etwas hat es nicht gegeben.

Es ist unvorstellbar, aber es war so, und eigentlich hat man daran erst nach 1966 etwas zu ändern begonnen, denn da war eine Partei in der Regierung und hat sehr viele Ressourcen gehabt, und die andere war in Opposition und wollte sich mit den 79 Sesseln und Postkasterln und der Frau Kresa, der Frau Nothelfer und der Frau Schrank nicht zufriedengeben. Da sind dann Aufstockungsmaßnahmen gesetzt worden, da hat dann auch der Druck hinsichtlich einer Reform der Geschäftsordnung begonnen, und da hat es jenen Innovationsbedarf gegeben.

Im Jänner 1967 ist Bruno Kreisky zum Parteivorsitzenden der SPÖ gewählt worden, und drei Monate später, im Mai 1967, hat er Leopold Gratz und mich beauftragt, nach Großbritannien zu fahren und anzuschauen, wie eigentlich ein British House of Commons funktioniert, wie das dort läuft, und am Rückweg nach Stockholm zu fahren und den Schwedischen Reichstag ein bisschen zu studieren. – Immer wenn sich der Kreisky in einer Sache nicht sicher war – wenn ich das so sagen darf, aber es ist wahr –, hat er gesagt: Fahrt einmal nach Stockholm und schaut euch das an, wie das die Schweden machen! Ich ruf’ den Torsten Nielsen an – das war der Außenminister –, er soll euch empfangen, und macht mir dann einen Bericht!

Wir haben damals, im Jahr 1967, das britische Parlament, das schwedische Parlament studiert, auch den Deutschen Bundestag. Dann ist ein Prozess eingeleitet worden, den ich Ihnen natürlich gerne schildern würde, doch dafür haben wir leider keine Zeit.

Tatsache ist, dass dann die große Veränderung erfolgte mit der Bildung einer Alleinregierung. Ich muss heute sagen: Das hat dem Parlament gutgetan. Das war ein Schub in Richtung Parlamentarismus, hat auch begonnen, das Verhältnis zwischen Parlament und Parteien zu korrigieren und sinnvoller zu gestalten; die Ära der Fernsehübertragungen hat begonnen, wobei meine Freunde heute noch hell lachen, wenn ich ihnen vorspiele, was sich in meinem Besitz befindet, nämlich eine „Zeit im Bild“-Sendung aus dem Jahr 1972, glaube ich, von der Klubtagung der SPÖ in Wels. Da heißt es:

Wir berichten ausführlich aus Wels. Zu Wort gelangt der Herr Klubsekretär der SPÖ, Dr. Heinz Fischer. Er wird den Herrn Vizekanzler über das Ergebnis der Klubtagung interviewen. (Heiterkeit.) Dann habe ich gefragt: Herr Vizekanzler, wie beurteilen Sie denn das Ergebnis der Klubtagung? Der Herr Vizekanzler hat geantwortet: Ja, wir haben uns sehr erfolgreich unterhalten, und wir werden jetzt eine Initiative zum Mietgesetz starten, denn das, was der Herr Minister derzeit macht, können wir nicht akzeptieren. – Danke schön. Wir geben zurück zum Funkhaus in Wien.

So hat damals Parlamentsberichterstattung – teilweise – ausgesehen; „Pressestunden“ oder Ähnliches hat es ja noch nicht gegeben.

Aber diese ganze Veränderung, die doch eingetreten ist, die Modernisierung des Verhältnisses zwischen Parteien und Parlament, liegt in der jüngeren Vergangenheit. Ich glaube, dass es natürlich ist, dass das Parlament stärker geworden ist. Ob es gut ist, dass die politischen Parteien als solche ziemlich schwach geworden sind, das ist eine Frage. Vielleicht werden Sie versuchen, auf diese Frage Antworten zu geben.

Auch die Idee, dass man die politischen Parteien in letzter Zeit zu stark subventioniert hat, muss doch vor dem Hintergrund gesehen werden, über welche finanziellen Mittel andere Faktoren im Spiel der demokratischen Meinungsbildung verfügen.

Meine Damen und Herren! Tatsache ist, dass Dr. Czerny, der im Jahre 1989 in den Ruhestand getreten ist, noch im gleichen Jahr, also viel zu früh, im 65. Lebensjahr verstorben ist – wo man heute sagt, das ist doch kein Alter –, aber das, was er an Erinnerungen in den Köpfen anderer Menschen hinterlassen hat, das, was er an Schriften hinterlassen hat, das, was er an Reden hinterlassen hat, ein so reiches Erbe ist, dass es gut ist – und nochmals vielen Dank, Frau Präsidentin des Nationalrates –, dass wir uns dieses ruhigen, gemütlichen, friedlichen und doch sehr pointiert denkenden und formulierenden Historikers, Beamten erinnern.

Dr. Czerny war wirklich ein Pluspunkt in der österreichischen Geistesgeschichte. – Danke vielmals. (Beifall.)

*****

Universitätsprofessor Dr. Helmut Kramer: Herzlichen Dank für dieses faszinierende Referat, Herr Bundespräsident, und ganz lieben Dank auch für diese so persönliche und warme Einführung durch die Frau Nationalratspräsidentin.

Ich habe die Ehre, hier allgemeiner Moderator des Symposiums zu sein. Ich möchte aber, bevor ich Herrn Parlamentsdirektor Dr. Dossi als Organisator und Koordinator des erstens Panels und die Referenten aufrufe, noch sagen, dass ich ein bisschen zu viel Blumen bekommen habe. Es ist meistens so, dass eine Person mit vielen akademischen Federn genannt wird. Dem Planungskomitee, dem wir jetzt seit zwei Jahren angehören, gehören auch folgende Personen an, ohne deren Initiative und Mitarbeit das Zustandekommen dieses Symposiums nicht möglich gewesen wäre: Frau Professor Riether, die als Herausgeberin der Schriften von Wilhelm Czerny ein ganz besonderes Verdienst hat, Politologin Mag. Barbara Blümel, Stellvertretende Leiterin der Abteilung Kommunikation hier im Parlament, und vor allem auch Mag. Valerie Watzek von der Veranstaltungsabteilung. Wir haben diese schöne Vorbereitungs- und Organisationsarbeit wirklich mit tatkräftiger Unterstützung durchführen können.

Es ist uns gelungen, die Crème de la Crème von Referentinnen und Referenten hier zusammenzubringen. Ich möchte mich auch bei den Referentinnen und Referenten bedanken, Freda Meissner-Blau ist schon hinausgegangen, denn sie mag Dank nicht, aber sie ist heute gekommen, obwohl sie Fieber hat. Wir haben sofort Zusagen erhalten.

Es war für mich besonders eindrucksvoll – ich habe Herrn Professor Czerny als Institutsvorstand in den achtziger Jahren persönlich sehr intensiv erlebt –, dass viele der älteren Referenten einen sehr positiven persönlichen Bezug zu Wilhelm Czerny ausgedrückt haben. Wir haben überhaupt keine Absagen bekommen. Ich möchte mich ganz herzlich bei den doch sehr viel gefragten Referentinnen und Referenten bedanken.

Ich darf jetzt Herrn Dr. Dossi und die Referentin sowie die Referenten des ersten Panels bitten, hier herauszukommen.

*****

Panel I: Politik in der modernen Demokratie

Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schönen guten Tag auch von meiner Seite! Ich freue mich, dass ich als einer der Nach-Nach-Nachfolger des Herrn Dr. Czerny hier durch das erste Panel führen darf. Das Generalthema dieses Panels ist „Politik in der modernen Demokratie“.

Ich freue mich weiters, dass wir drei ganz prononcierte Vertreter/Vertreterinnen der Praxis, aber auch der Wissenschaft gewinnen konnten, uns dazu kurze Statements abzugeben. Ich würde auch darum bitten, dass das, was im Vorfeld vereinbart war, nämlich die Statements der Referentinnen und Referenten auf 15 Minuten zu beschränken, eher noch unterschritten wird – ich bin für jede Minute kürzer dankbar –, weil ich es schon für spannend hielte, wenn wir zumindest Querbezüge zwischen den drei Statements vom Podium aus zu hören bekämen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass auch aus dem Publikum die eine oder andere Frage oder Bemerkung ansteht.

Vor diesem Hintergrund freue ich mich sehr, Frau Universitätsprofessorin Dr. Sauer, Herrn Universitätsprofessor Dr. Pelinka und Herrn Vizekanzler außer Dienst Dr. Busek begrüßen zu dürfen.

Generell würde mich auch interessieren – das würde ich ganz gerne allen drei ReferentInnen mitgeben wollen –, da ja das Generalthema „Politik in der modernen Demokratie“ lautet, was denn, wenn wir jetzt 25 Jahre zurückblicken, so modern im Vergleich zu der Zeit ist, als Dr. Czerny sich über diese Fragen Gedanken gemacht hat.

Zuerst erfolgt das Statement von Universitätsprofessor Dr. Pelinka.

„Parteien in der Krise“

Universitätsprofessor Dr. Anton Pelinka: Frau Präsidentin des Nationalrates! Meine Damen und Herren! Ich stolpere über das Wort „Krise“ – ich stolpere deswegen darüber, weil es mich an eine lange zurückliegende Fernsehserie erinnert. Da geht ein Reporter durch München und fragt die Menschen auf der Straße: Können Sie mir erklären, warum es uns so schlecht geht, obwohl es uns doch so gut geht? Das heißt, wir erleben eigentlich eine Erfolgsserie einer Demokratie, die Parlament und Parteien selbstverständlich voraussetzt, aber trotzdem reden wir alle von der Krise dieser doch so erfolgreichen Demokratie und dieses so erfolgreichen demokratischen Parteienstaates.

Ich gehe daher davon aus, dass wir nicht eine Krise der Parteien haben, sondern eine Krise der Wahrnehmung der Parteien. Wir stellen uns unter Parteien etwas vor, was es vielleicht gegeben hat und vielleicht nicht mehr gibt. Vieles von dem, was es bei den Parteien nicht mehr gibt, da ist es gut, dass es das nicht mehr gibt, zum Beispiel die eindeutigen Freund-Feind-Zuschreibungen im parteipolitischen Wettbewerb.

Meine Einstellung zu Parteien ist auch und wesentlich von Wilhelm Czerny geformt worden, den ich schon in den 1960er-Jahren kennengelernt habe und der mir deswegen aufgefallen ist, weil er zu einer Zeit, in der man etwa in den Lehrbüchern des Verfassungsrechts nicht von Parteien gesprochen hat – das war ein schmutziges Wort: „Parteien“ – und in der man in den Zeitungen immer nur von der eigenen Partei und uneingeschränkt positiv, von den anderen Parteien möglichst nichts, und wenn, dann nur Negatives, geschrieben hat, weil Czerny mir damals ein funktionalistisches Bild von Parteien, von Parteien schlechthin vermittelt hat, und nicht nur von der einen, der eigenen, die so gut ist, und von den anderen, die so schlecht sind.

Czerny und sein hier schon zitierter Ausspruch „Demokratie braucht Parteien, Demokratie ist unvermeidlich Parteienstaat“ war sehr wichtig. Ich habe Czerny deswegen so ein bisschen in einer Anlehnung an Karl Rahner als anonymen Politikwissenschafter wahrgenommen. Bevor es Politikwissenschaft in Österreich als Studienrichtung gegeben hat, war er eigentlich Politikwissenschafter. Und das war für mich persönlich wichtig. Ich glaube, das war auch für die damals Studierenden wichtig, und das war für die Weiterentwicklung der österreichischen Universitäten wichtig.

Die Zweite Republik – und darauf hat Heinz Fischer ja schon verwiesen – war eine Gründung der Parteien, genauso wie die Erste Republik eine Gründung der Parteien war. Das heißt, die Republik Österreich, ihre Verfassung, in die das Wort „Parteien“ ja nur indirekt durch die Hintertür hineingerutscht ist, ist eine Schöpfung der Parteien. Und es ist eben auffällig, dass die Parteien als die Mütter und Väter dieser Republik ihre Rolle zunächst nur verschämt deklariert haben.

Das wird dann ein wenig deutlicher in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, als die Unterzeichner ja ausdrücklich namens der Parteien die Republik für unabhängig erklärt haben. Aber es hat noch gewisse Zeit gebraucht, bis es zu einer allmählichen Konvergenz zwischen der Realität der Parteien und der Realität der parteienstaatlichen Demokratie und der Wahrnehmung dieser Demokratie, die zunächst nicht Parteienstaat sein wollte und nicht sein sollte, gekommen ist. Das heißt, die Versöhnung zwischen der real existierenden Demokratie und den real existierenden Parteien hat erst allmählich stattgefunden. Und kaum hat sie stattgefunden, reden wir schon von der Krise. Das überzeugt mich zunächst einmal überhaupt nicht.

Es ist sicher, dass wir in Österreich im internationalen Vergleich – und wenn wir von den Parteien in Österreich reden, müssen wir ja als Bezugspunkt nicht nur das British House of Commons und den Schwedischen Reichstag, sondern Parteien in anderen parlamentarischen Systemen, in anderen Mehrparteiensystemen überhaupt, nehmen –, dass die österreichischen Parteien in der Zweiten Republik das wahrgenommen haben, was man eine Überfunktion nennen konnte. Das ist auch über die Besetzung der Bezirkshauptleute, aber natürlich auch über jene der Landesschulräte gegangen, die interessanterweise gerade jetzt ein wenig ins Gerede kommen. Das heißt, die Parteien haben Funktionen übernommen, die anderswo nicht einfach so selbstverständlich von den Parteien wahrgenommen werden, etwa auch im Bereich der Wirtschaft.

Nach 1945 setzt der Brauch ein, dass etwa die eine Bank der einen, die andere der anderen Partei gehört. Das heißt, aus der Not heraus, aus dem Vakuum des Jahres 1945 heraus, etwa was denn die Republik Österreich mit dem deutschen Eigentum, mit der Herrenlosigkeit einer brachliegenden Industrielandschaft machen soll, ist über die Verstaatlichung der Einfluss der Parteien fixiert worden. Ich behaupte, das war erstens ohne sinnvolle Alternative und zweitens grundsätzlich gut für die Republik Österreich und die Demokratie – mag heute nicht mehr gut sein. Und es mag gute Gründe gegeben haben, dass man allmählich Abstand davon genommen hat, aber für die Vakuumsituation des Jahres 1945 war diese Überfunktion der parteienstaatlichen Demokratie verständlich und wohl auch die beste Option, die Österreich nach 1945 wahrnehmen konnte.

Was ist aber die Krise der Wahrnehmung der Parteien? – Diese äußert sich etwa in der abnehmenden Wahlbeteiligung. Diese äußert sich in der rückläufigen Zahl an Parteimitgliedschaften. Diese äußert sich in etwas, was ich so nennen würde: die Emanzipation der Gesellschaft vom Parteienstaat. Das ist zunächst einmal weder gut noch schlecht. Wenn wir davon ausgehen, dass die Zweite Republik Österreich eine stabile Demokratie und insgesamt eine Erfolgsgeschichte ist, dann können wir doch nicht davon ausgehen, dass die Zweite Republik das Omega der Demokratieentwicklung weltweit ist. Das heißt, wir müssen bescheidener sein.

Und wenn wir bescheiden sind, dann ist etwa die Abnahme der Wahlbeteiligung auf ein europäisches Durchschnittsmaß, von europäischen Spitzenwerten her gesehen, für sich allein genommen keine negative Botschaft per se, auch noch keine gute Botschaft, sondern eine Botschaft, die man auch interpretieren könnte: Österreich nimmt allmählich Platz in den normalen Demokratien Europas, dort, wo es Durchschnittswerte der politischen Beteiligung gibt.

Das gilt natürlich auch für die vorliegenden Daten von Parteimitgliedschaften. Wir wissen ja, dass eine der beiden Großparteien relativ präzise Parteimitgliedschaftsangaben macht, über deren Richtigkeit man geteilter Meinung sein kann, die andere macht sicherheitshalber überhaupt keine präzisen Angaben. Da kann man sich erst recht nicht eine präzise Meinung bilden. Aber wir wissen, dass die Zahl der Parteimitglieder der beiden, ich nenne sie einmal vereinfacht, staatsgründenden Parteien, republikgründenden Parteien innerhalb von 25 Jahren halbiert worden ist.

Und wenn wir weiter sagen, diese Halbierung ist nicht primär darauf zurückzuführen, dass verärgerte Wutbürger ausgetreten sind, sondern dass die junge Generation nicht mehr in die Parteien eintritt, so ist das eine bemerkenswerte, wichtige Entwicklung. Aber wiederum: Wenn wir das mit etablierten Demokratien anderswo vergleichen, ist das eigentlich das Eintauchen Österreichs in die Normalwelt der Demokratien und für sich allein genommen keine Katastrophe.

Das wird natürlich auch von der Dekonzentration des Parteienstaates begleitet. Dass vor 25 Jahren noch neun von zehn Wahlberechtigten entweder die SPÖ oder die ÖVP gewählt haben, war weltpolitisch ein Spitzenwert. War damals Österreich die Nummer eins in der Rangliste der Demokratien? – Ich behaupte nein. Wenn es aber nicht deswegen, wegen der extrem hohen Konzentration auf zwei Parteien, allein die Nummer eins im Ranking der Demokratien war, so ist ein Verlust dieser Poleposition auch noch kein negatives Zeichen. Das heißt, wir sollten gelassener sein, wenn wir von der Krise der Parteien sprechen. Und wir sollten vor allem akzeptieren, dass die Demokratie auch in Österreich einen Erfolgslauf hinter sich hat.

Gemessen an der Vorgeschichte der Ersten Republik, gemessen an den Katastrophen der Jahre 1933/34 und 1938, gemessen an dieser negativen Geschichte ist die Stabilität der Demokratie, ist die Stabilisierung eines Mehrparteiensystems im Rahmen einer parlamentarischen Ordnung für sich genommen ein großer Erfolg. Und zu diesem großen Erfolg sollte uns das Wort „Krise“ nicht zuallererst einfallen. – Danke schön. (Beifall.)

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Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Vielen Dank, Herr Professor Pelinka! Danke auch für die Zeitdisziplin, die die Chance wahrt, später noch zu diskutieren.

Ich möchte vorerst gar nicht viel kommentieren, sondern Frau Professorin Sauer bitten, zu einem Thema zu sprechen, das – wenn man in diese Buchpublikation des Dr. Czerny hineinliest, der ja vor dem Hintergrund der sogenannten 68er-Bewegung begonnen hat, sich mit Fragen der Geschlechterrepräsentation in der modernen Demokratie auseinanderzusetzen – so neu nicht ist.

Ich bitte nun um das Statement von Univ.-Prof. Dr. Sauer.

„Parlament als Ort der Repräsentation von Frauen?“

Universitätsprofessorin Dr. Birgit Sauer: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Anwesende! Auf Ihre Frage, was eigentlich das Moderne an Demokratie beziehungsweise an der Demokratie, wie wir sie heute kennen, ist, würde ich Folgendes antworten: Ein Element der Modernität ist, dass der österreichische Nationalrat eine Präsidentin hat – das würde ich schon so sehen –, und das schon seit einer Weile.

Ich möchte aber doch an das anknüpfen, was Anton Pelinka gesagt hat, und den Begriff der „Postdemokratie“ aufgreifen. Viele Phänomene, die Anton Pelinka gerade beschrieben hat – sinkende Wahlbeteiligung, die Erosion der Parteiidentifikation –, werden und wurden von Colin Crouch mit dem Begriff „Postdemokratie“, also der „Nachdemokratie“, gefasst. Mit diesem Begriff ist eigentlich schon so etwas wie ein Verfall von Demokratie verbunden, über den sich offenbar doch streiten lässt. Ich selbst würde den Begriff der „Postdemokratie“, der „Nachdemokratie“ in Frage stellen, weil er eigentlich voraussetzt, dass es ein Davor gibt beziehungsweise ein Davor gegeben hat – ein Davor sozusagen, das die Höchstform der Selbstbestimmung, die Höchstform der Volkssouveränität war. Wenn man das unter einer Geschlechterperspektive betrachtet, dann muss man doch eher skeptisch sein, dann muss man doch sagen, dass liberale, westliche Demokratien und auch die österreichische Demokratie gerade unter Geschlechteraspekten keine so erfolgreichen Demokratien waren, sondern seit ihrer Etablierung auch deutlich Demokratiedefizite aufweisen und aufgewiesen haben.

Formal gleiche politische Rechte für Frauen und Männer haben nicht automatisch die Transformation eines historisch seit dem 19. Jahrhundert männlich strukturierten politischen Feldes nach sich gezogen. Während beispielsweise in den skandinavischen Ländern die stärkere Erwerbsintegration von Frauen, aber auch öffentliche Kinderbetreuung beispielsweise dazu beigetragen haben, Bedingungen zu schaffen, dass Frauen sich auch politisch freispielen konnten, hat das in Österreich nicht in dem Maße stattgefunden. Obwohl Frauen in Österreich in den vergangenen 30 Jahren durchaus politisch sichtbarer geworden sind – nicht nur im Parlament, sondern auch in politischen Regierungsfunktionen sichtbarer geworden sind –, haben sie doch noch immer weniger Stimme als Männer oder wird ihre Stimme seltener gehört, sodass man sagen kann: Das, was Crouch beispielsweise als „Postdemokratie“ bezeichnet hat, ist eigentlich eine Situation, die die demokratische Situation von Frauen schon immer bestimmt hat und nach wie vor prägt.

Um die Bedeutung des Parlaments für die Repräsentation der Interessen von Frauen einschätzen zu können, möchte ich drei Dimensionen von Repräsentation unterscheiden. Die erste Dimension ist jene, die einem immer sofort einfällt, das ist die quantitative Verteilung der Sitze zwischen Frauen und Männern, also der Frauen- und Männeranteil im Parlament. Die zweite Dimension ist schon etwas schwieriger, diese würde ich organisationelle Dimension nennen, also die Organisationsweise politischer Institutionen. Und die dritte Dimension bezeichnet man in der Literatur als qualitative Repräsentation, die mehr auf das Handeln für Frauen oder für Geschlechtergleichheit zielt.

Ich möchte die Bedeutung des österreichischen Parlaments ganz kurz anhand dieser drei Dimensionen beleuchten.

Zur ersten Dimension, zur quantitativen Repräsentation: Man kann feststellen, dass seit den 1970er Jahren die quantitative Repräsentation der Frauen im österreichischen Nationalrat gestiegen ist, allerdings stagniert diese Repräsentation bei 30 Prozent; also da ist offenbar eine Betondecke eingezogen. Bei den ersten Wahlen 1919 lag der Frauenanteil bei 5 Prozent, und erst im Jahr 1986 hat der Frauenanteil die 10-Prozent-Marke überstiegen. Erst nachdem die Grünen im Jahr 1989 eine 50-prozentige Frauenquote eingeführt haben, stieg der Frauenanteil im Jahr 1994 auf 20 Prozent. Im Jahr 2002 lag er dann bei seinem Höchststand, nämlich bei fast 34 Prozent. Seither ist der Frauenanteil wieder im Sinken begriffen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die rechtspopulistischen Parteien hohe Anteile haben. Diese Parteien haben keine Quotenregelungen eingeführt, halten das auch nicht für notwendig und haben deshalb entsprechend geringe Frauenanteile in ihren Fraktionen. Aktuell liegt der Frauenanteil wieder bei 30,6 Prozent.

Was zeigt einem diese Entwicklung? – Man kann sagen, dass die Quotenregelung durchaus ein Steuerungsinstrument ist, das geschlechtergerecht wirkt, allerdings – das muss man auch sagen – sind natürlich Quotenregelungen immer nur von begrenzter Reichweite. Es gibt noch weitere strukturelle Faktoren, auf die ich auch noch eingehen will, die die Implementation dieser Quoten auch beeinflussen. Ich denke, die Diskussion um den Fall – wenn ich das so sagen darf – Sonja Ablinger zeigt, wie ambivalent Quotenregelungen doch auch sein können.

Die zweite Dimension, die ich kurz diskutieren möchte und die eben viel schwieriger zu fassen ist als Zahlen, ist die Frage der Organisationsweise von Parlamenten, von politischen Institutionen. Auch da kann man feststellen, dass wir nach wie vor so etwas wie eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen haben; es gibt geschlechtsspezifische Ressortaufteilungen. Was aber, wie ich glaube, immer noch zentral ist für den Ausschluss von Frauen aus dem politischen System in Österreich oder für so etwas wie die Prägung eines männlichen Denk- und Handlungsstils auch des Parlaments sind konsensdemokratische – man nennt es auch verhandlungsdemokratische – Entwicklungen; auch diese hat Anton Pelinka bereits angesprochen. Diese führen nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen Demokratien zu Entscheidungsfindungen, zu Entscheidungsabsprachen im vorparlamentarischen Raum, und von diesen Absprachen sind Frauen oftmals ausgeschlossen. In diesen Absprachegremien wirken selbstverständlich auch keine Quotenregelungen.

Ich habe ein Projekt zur föderalen Struktur in Österreich, und auch da kann man feststellen, dass die Vernetzungen innerhalb der föderalen Struktur wie ein Ausschließungsmechanismus für Frauen wirken.

Die dritte Dimension ist das, was man in der Literatur als Policy-Geschlechtlichkeit von politischen Entscheidungen bezeichnet. Damit ist gemeint, dass Gesetze – nicht alle Gesetze – immer wieder dazu neigen, Frauen zu benachteiligen oder Männer zu bevorzugen. Ein klassisches Beispiel war lange Zeit die Sozialgesetzgebung, die ganz stark erwerbsbezogen war und durch diesen Erwerbsbezug Frauen benachteiligt hat, da Frauen weniger erwerbstätig sind, da sich über die Pflegearbeit – Pflege von Kindern und kranken Personen – kaum oder nur viel geringere soziale Rechte erwerben lassen. All das bezeichnet man eben als Policy-Männlichkeit und wirkt da als ein Filter, wo man sagen kann, dass einige Gesetze Frauen in der Demokratie nach wie vor benachteiligen.

Vielleicht haben Sie gehört, am 10. Oktober war der sogenannte Equal Pay Day, der deutlich machen soll, dass Frauen nach wie vor weniger verdienen, dass sie am Arbeitsplatz diskriminiert werden und dass Frauen statistisch gesehen ab dem 10. Oktober eigentlich unentgeltlich arbeiten.Diese Perspektive auf die Selektivität, die nach wie vor stattfindende Diskriminierung von Frauen durch Gesetze wirft aber eine Frage auf, nämlich die Frage, ob eine stärkere quantitative Repräsentation von Frauen für Gesetzgebungsprozesse beispielsweise einen Unterschied macht. Man könnte also fragen: Wurden politische Entscheidungen in Österreich durch die größere Anzahl von Frauen im Nationalrat letztendlich frauenfreundlicher? – Ich würde sagen, grosso modo kann man in Österreich durchaus einen geschlechterpolitischen Fortschritt feststellen, allerdings – und das zeigen ganz viele Studien – kann man nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass ein höherer Frauenanteil automatisch auch zu frauenfreundlicheren Politiken führt.

Deutlich wurde, dass es immer kritisches Handeln für Geschlechtergleichstellung – so wird es genannt – braucht, und dieses Handeln für Geschlechtergleichstellung ist kein Handeln, das nur Frauen im Parlament setzen, sondern das ist ein Handeln, das auch von Männern gesetzt wird.

Dieses kritische Handeln hat im österreichischen Nationalrat auch eine lange Geschichte, wie ich denke, denn dieses kritische Handeln setzte in dem Moment ein, in dem Institutionen für die Geschlechtergleichstellung in Österreich geschaffen wurden, beispielsweise ein Frauenministerium, also ganz zentrale Institutionen für das Handeln für Geschlechtergleichstellung. Wir haben ein Gleichstellungsgesetz, wodurch effektive Maßnahmen gesetzt werden können. Wir haben eine Gleichbehandlungskommission und eine Gleichstellungsanwaltschaft. Wir haben ein verfassungsmäßiges Gebot von Gender Budgeting, also der kritischen Überprüfung von Budgets – ganz wichtig für die Gleichstellung von Frauen und Männern.

Man kann also sagen, all das sind Institutionen, die Handeln für Geschlechtergleichstellung durchaus auch ermöglichen. Allerdings kann man immer wieder feststellen, dass das Institutionen sind, die auch prekär etabliert sind. Erinnern Sie sich etwa daran, dass das Frauenministerium im Jahr 2000 durch die blau-schwarze Regierung einfach aufgelöst wurde. Die Verschiebung der Agenden und die Subsumierung unter die Familienagenden ging dann vergleichsweise rasch. Es gibt also immer eine politische Auseinandersetzung um solche Institutionen, und sie sind nicht unbedingt ganz selbstverständlich gegeben.

Dennoch, denke ich – so viel abschließend –, braucht es für eine starke Repräsentation der Durchsetzung der Interessen von Frauen mindestens drei Elemente. Das erste Element sind meiner Meinung nach sanktionierbare Quoten für das Parlament, das zweite Element sind robuste gleichstellungspolitische Institutionen, und das dritte Element, so denke ich, ist eine Kooperation des Parlaments mit der Zivilgesellschaft, eben auch mit Frauengruppen. Diese Kooperation des Parlaments mit Frauengruppen ist etwas, was Barbara Prammer – so hat sie das einmal in einem Gespräch gesagt – erst hat lernen müssen. Ich denke, sie hat es gelernt, und das war auch ein Erfolgsfaktor für die österreichische Frauenpolitik. – Danke schön. (Beifall.)

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Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Vielen Dank, Frau Professor Sauer, für dieses sehr interessante Statement, das, wie ich glaube, auch noch das eine oder andere Material für Nachfragen vom Podium und vielleicht auch aus dem Publikum birgt.

Als Dritter und Letzter zu diesem Panel spricht Herr Vizekanzler außer Dienst Dr. Busek zu einem Thema, das, denke ich, tatsächlich in einer zeitlichen Überschneidung mit dem Ende der aktiven Tätigkeit des Dr. Czerny angesiedelt ist, der – wie wir gehört haben – 1989 in den Ruhestand getreten ist. Das ist meiner Erinnerung nach die Zeit, als in Österreich die Diskussion über die Perspektive einer Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union so richtig ins Laufen gekommen ist.

Es hat bereits in den fünfziger und sechziger Jahren eine sehr aktive innenpolitische Diskussion vor dem Hintergrund der Gründung der EWG gegeben, was dann neutralitätsbedingt in den frühen siebziger Jahren zu den Freihandelsabkommen geführt hat. Ich glaube aber, Europa als parlamentarisches Thema, als politisches Thema ist tatsächlich erst ab den späten achtziger Jahren bei uns aufs Tapet gekommen.

Vor diesem Hintergrund, Herr Dr. Busek, bitte ich um Ihr Statement.

„Europa – Wahrnehmung in Politik, Parlament und Parteien“

Dr. Erhard Busek: Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Parlamentsdirektor! Meine Damen und Herren! Sie gestatten mir, dass ich zunächst ein wenig aus dem Rahmen falle, aber es entspringt einem persönlichen Bedürfnis – und das Statement des Herrn Bundespräsidenten hat mir eigentlich die Sache selber erleichtert –, weil für meinen Lebensbogen das Parlament eine entscheidende Rolle spielt und es auch widerspiegelt, in welch hohem Ausmaß sich die Herausforderungen geändert haben.

Heinz Fischer ist 1962 hier eingetreten, ich bin am 1. Februar 1964 hier im Parlament eingetreten – die Art und Weise, wie das Haus heute ist, hat mit der damaligen Situation nichts zu tun. Wenn es heute Raumprobleme gibt, kann man nur sagen, damals hat es hier genügend Raum gegeben; es war ein gähnend leeres Haus, weil es die Bedürfnisse hier gar nicht gegeben hat. Wilhelm F. Czerny und ich waren beide auf verschiedene Arten davon Betroffene.

Ich habe, wie ich glaube, nicht der Sehnsucht des Klubsekretärs der ÖVP Dr. Smekal entsprochen, daher hatte ich meinen Amtssitz sozusagen in der Diagonale des ÖVP-Klubs, sodass allein schon die Überwindung der Distanz eine beträchtliche Anstrengung war. Heute ist das das Figl-Zimmer, das allerdings noch eine Zwischenwand hatte, und der wirklich sehr spannende Gebäudeverwalter des Parlaments Ing. Albrecht – faszinierend für eine Republik, er war ein bekennender Monarchist – hat mir mitgeteilt, in diesem Zimmer sei der Völkerbundkommissar Dr. Zimmermann für die Lausanner Anleihe gesessen. Ich glaube, dass die Zimmer völlig vergessen gewesen sind, nur etwa jeden zweiten Tag ist jemand von der Feuerwache aus einer Tür, die in die Tapete eingelassen war, erschienen, hat mich verwundert gemustert, was ich denn hier täte, und ist dann wieder entschwunden. Ich habe ihn verwundert gemustert und mich gefragt, wieso man durch Tapetentüren daher kommen kann. – Das war eine sehr, sehr spannende Angelegenheit, ein ganz anderes Parlament.

Die Situation hat mich mit Wilhelm Czerny sehr verbunden, denn sein Büro lag an einem Gang mit relativ kleinen Türen, der Gang war schwierig zu erreichen; ich glaube, er ist auch als „kalter Gang“ bezeichnet worden, was sozusagen für die dort Deponierten irgendwie kennzeichnend gewesen ist. Wir hatten also die Gemeinsamkeit, dass wir nicht im Kern des Geschehens des jeweiligen Apparates waren: er hier im Parlament, weil er Vorstellungen hatte, gestalten wollte, kritische Anmerkungen hatte, und mir ist es in dieser Hinsicht nicht viel besser gegangen, wobei ich altersmäßig und von der Erfahrung weit hinter Wilhelm Czerny gewesen bin.

Das war ein zweifaches Glück für mich: Ich hatte in dieser Zeit die Möglichkeit, eine Reihe von Dingen zu studieren, weil an meiner Arbeitsleistung niemand interessiert war. Ich habe mich der Geschäftsordnung gewidmet, um zu erfahren, was sich in diesem Haus hier tut, und das war für meine weitere politische Laufbahn ein ungeheures Glück. Dass Wilhelm Czerny eine Auskunftsperson von Graden war und damals schon begonnen hat, die Materialien für die spätere Geschäftsordnung zu sammeln, versteht sich von selbst.

Dann kam also das Jahr 1966 mit der absoluten Mehrheit der ÖVP, und dann erreichte mich ein Anruf des legendären Ministerialrats Dr. Kronhuber, den sehr viele von Ihnen nicht mehr kennen, der gesagt hat: Du bist eh mit allem immer unzufrieden – jetzt schreib einmal auf drei Seiten zusammen, was man mit einer absoluten Mehrheit alles machen kann! (Heiterkeit.) Das war 1966 unbekannt! Ich habe etwa das Instrument der Dringlichen Anfrage entdeckt, das allerdings vorher auch schon einmal sehr heiter verwendet wurde, nämlich bei der Fußach-Affäre hat man die Dringliche Anfrage gewählt. Aus welcher Erinnerung? – Das Instrument der Dringlichen Anfrage war ein Mittel in der Besatzungszeit, aktuelle Übergriffe der Besatzungsmacht hier öffentlich zu diskutieren, um den Österreicherinnen und Österreichern den Eindruck zu geben, dass man versucht, sie hier gegenüber der Besatzungsmacht zu vertreten. Das war die einzige Funktion der Dringlichen Anfrage. Das Dringliche war mehr oder weniger das In-Erscheinung-Treten, nicht aber eigentlich die Frage des Inhaltes, weil die öffentliche Beurteilung ohnehin schon stattgefunden hatte.

Ich habe dank der Kenntnisse, die ich durch Wilhelm Czerny erworben habe, dieses Papier zustande gebracht und dem designierten Klubobmann Hermann Withalm übergeben.

Eine kleine Korrektur erlaube ich mir in aller Devotheit gegenüber Heinz Fischer anzubringen: Dr. Smekal war wirklich Klubsekretär, aber warum? – Weil er der Sekretär des in der Provisorischen Regierung für Handel und Wiederaufbau zuständigen Julius Raab war. Raab wurde dann Klubobmann und hat sozusagen seinen Mann hierher mitgenommen, also eine relativ einfache Vorgangsweise, was später auch vorgekommen sein soll; in vielen Fällen gab es hier Transfers dieser Art.

Die wesentliche Veränderung aber, von der ich profitiert habe, war die Tatsache, dass wir nicht Parlamentsangestellte waren. Heinz Fischer war Parlamentsbediensteter, Bundesbediensteter, Smekal war Parlamentsrat, also Bundesbediensteter, wir waren Privatangestellte des jeweiligen Klubs. Ein anderer teilte noch mit mir dieses Schicksal, aber in seinem Klub, nämlich Hannes Androsch, der zur selben Zeit hier eingetreten ist. Wahrscheinlich war das sehr förderlich dafür, dass wir beide dann nicht im Bundesdienst geblieben sind, sondern uns in andere Bereiche begeben haben. Möglicherweise sind einige der Meinung, es wäre gescheiter gewesen, man hätte uns doch hier in den Bundesdienst übernommen, aber das ist eine zweite Frage.

Das ist die dramatische Veränderung, die es hier gegeben hat, wobei – und diese Ehrenrunde für Wilhelm F. Czerny möchte ich gerne drehen – er ein Mann der Unterscheidung der Geister war. Er wollte es sozusagen genau differenziert wissen, was ihm relativ wenig Freunde, aber umso mehr Feinde gemacht hat, und das habe ich auch wirklich faszinierend von seiner Seite her gesehen. Dem ist er eigentlich treu geblieben.

Über seine persönliche Geschichte im Verhältnis zu politischen Parteien ließe sich viel erzählen, aber das ist hier nicht der Gegenstand.

Ich schlage jetzt eine Ihnen vielleicht erzwungen scheinende Brücke zum eigentlichen Thema. Es ist vollkommen richtig, dass Europa in unserer Vorstellungswelt im Todesjahr von Wilhelm F. Czerny dramatisch interessanter geworden ist, aber beim Nachschlagen in den Büchern spielt die Frage der Relation zu dem sich integrierenden Europa eine große Rolle.

Es war das in der Besatzungszeit schon in den Programmen der Parteien zu finden. Naturgemäß habe ich eher bei der ÖVP nachgesehen, und dort war es eigentlich eine Art Überbrückungsvorschlag in Richtung gegen die Besatzungsmächte, um auf diese Weise in eine Einheit zu kommen und hier mehr Freiheit zu gewinnen; eine Dimension, die uns heute überhaupt nicht mehr zugänglich ist, es ist aber in den diversen Parteitagsreden und Erklärungen, die es dazu gegeben hat, sehr deutlich ersichtlich.

Dass die ökonomische Dimension natürlich auch eine Rolle gespielt hat, ist völlig klar. Ich möchte aber hier das Lob des langjährigen Handelsministers und Vizekanzlers Fritz Bock singen, der eigentlich nicht nur ökonomisch, sondern auch aus der europäischen Dimension heraus immer für einen Beitritt eingetreten ist, was ihm nicht nur Freunde, sondern auch eine Reihe von Schwierigkeiten beschert hat.

Da wir uns manchmal aufregen, dass in der EU alles so lang dauert: Ich erinnere daran, dass am 15. Dezember 1961 die Regierung Gorbach in Brüssel ein Assoziierungsansuchen gemäß Artikel 238 des Vertrags von Rom überreicht hat, das dann am 22. Juli 1972 – ich wiederhole: 1961 bis 1972 – mit der Unterzeichnung umgesetzt wurde. Das ist ein beträchtlicher Zeitraum, muss man sagen; man könnte auch sagen: Gut Ding braucht Weile. Naturgemäß trägt das die Unterschrift von Bruno Kreisky, das sei der Ordnung halber hier auch erwähnt.

Das ist sozusagen die europäische Dimension, wobei die Auseinandersetzung im Parlament darüber stattgefunden hat.

Hier gibt es auch eine Menge von Gesinnungswandel. Ich erinnere mich noch an die flammenden Erklärungen von Klub- und Parteiobmann Friedrich Peter zum Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ich weiß nicht, ob seine Nachfahren diese Reden noch lesen, aber auch das ist interessant.

Man könnte boshaft sein und sagen, die Grünen haben sich in dieser Frage auch rasch gewandelt, allerdings ist das, glaube ich, auch ein Erfahrungswert an deren Stelle gewesen, um heute wirklich überzeugte Europäer zu sein.

Wir würden einen neuen Wilhelm F. Czerny in der Frage Europa brauchen – damit bin ich beim eigentlichen Thema meiner Ausführungen –, weil die parlamentarische Erarbeitung des Europäischen nach wie vor noch nicht ganz geglückt ist.

Das Demokratiedefizit der EU ist hinreichend bekannt. Es waren schon alle sehr stolz – ich muss sagen, ich war darüber froh –, dass die Wahl quasi eine Abstimmung auch über den Kommissionspräsidenten war, wobei das noch weit von jeder „verfassungsrechtlichen“ – unter Anführungszeichen – Verankerung entfernt ist, denn Jean-Claude Juncker hat nicht kandidiert, sein Gegen- oder Konkurrenzkandidat schon, aber eigentlich war ja bei dieser Wahl nicht über die Kommission zu entscheiden. Also das Ganze stimmt in sich noch nicht zusammen. Das ist also Primärdemokratie – „Fleet in being“ könnte man sagen –, die hier deutlich festzustellen ist.

Das Demokratiedefizit ist noch tiefgreifender, etwa in der Frage der Gewaltentrennung. Die Europäische Kommission ist nicht nur verwaltend, sondern auch gesetzgebend tätig, ein, glaube ich, sehr unklares Prinzip. Das Parlament muss seine Rolle erst erkämpfen, was es mit einer ungeheuren Tapferkeit zweifellos auch tut. Und auch die Frage der Verfasstheit der europäischen Parteien ist so eine Frage, denn wir alle wissen ja, dass wir nach wie vor nationale Parteien ins Europäische Parlament wählen, es also in dem Sinn keine europäischen Parteien – die Grünen haben es einmal versucht – gibt. Es gibt Parteienfamilien, aber diese Klarheit gibt es bedauerlicherweise nicht.

Also wenn Europa eine Art politische Ebene darstellt, wäre es nur konsequent im Sinne des demokratischen Denkens, wenn es auch Parteienverfasstheit gäbe. Und damit könnte man auch noch auf die Frage des Wahlrechtes und Ähnliches hier eingehen, das wäre aber zweifellos zu lang für heute.

Ein wesentliches Element der Demokratie in Europa fehlt: die Frage der Öffentlichkeit, die ist sehr bescheiden. Natürlich gibt es die euronews, aber das ist mehr oder weniger die APA auf Europaebene, also quasi darauf abgestellt, ist aber kein Medium, welches heute eigentlich notwendig wäre.

Gehässigerweise behaupte ich immer, die Tatsache, dass es keine europäischen Talkshows gibt, ist schon einmal sinngebend. Ich habe die European Broadcasting Union aufgesucht und gefragt: Warum? Darauf hat man mir in schlanker Offenheit gesagt: Da müssten wir die Werbeeinnahmen teilen, und das wollen wir nicht! – Hinreichendes Argument, so etwas nicht zu führen. Wir haben Europameisterschaften in allen Disziplinen und Sportarten und so weiter, aber eine europäische Talkshow, etwas ganz Primitives, gibt es nicht.

Ich behaupte daher immer wieder, die einzige europäische Talkshow ist der Eurovision Song Contest, denn da stimmen jene, die zusehen, dann über die Einzelnen ab, und das ist politikwissenschaftlich von großer Bedeutung, weil Sie die Antipathien und Sympathien von Nachbarn untereinander genau registrieren können, wer für wen stimmt und wer für wen nicht stimmt. Das gibt die ganzen Spannungsverhältnisse europäischer Art wieder, ist also sozusagen ein pädagogisches Instrument. Ob das mit Conchita Wurst besser wird, werden wir sehen, aber man soll da die Hoffnung nicht aufgeben.

Damit bin ich beim letzten Teil meiner Ausführungen; ich versuche mich an die vorgegebene Redezeit zu halten.

Das österreichische Parlament – wie es die anderen Parlamente halten, habe ich nicht untersucht – ist mit der Existenz Europas eigentlich auch noch nicht ganz fertig geworden; nicht, dass es nicht diskutiert wird, aber die Relation zwischen den Vertretern der europäischen Institutionen aus Österreich kommend und dem österreichischen Parlament hält sich in Grenzen.

Die längste Zeit gab es nicht die Möglichkeit, dass die Repräsentanten hier im Parlament aufgetreten sind. Es gibt nur eine einzige Form einer Verbindung, diese verdanken wir dem Liberalen Forum, nämlich eine notwendige Zustimmung zu einer Zweidrittelmehrheit. Das ist der Versuch der Mitwirkung an der Entscheidungsfindung in Brüssel, und zwar in einer nicht praktikablen Form. Es ist ein einziges Mal gemacht worden, und das war ein Bauchfleck, um das hier klar zu sagen, weil sich das wahrscheinlich im Verlauf von Verhandlungen in Brüssel selbst gar nicht so machen lässt, wie das hier normiert ist.

Da liegt noch ein weiter Tätigkeitsbereich vor uns, und da kann man nur hoffen, dass es neue Wilhelm F. Czernys gibt, denn wir brauchen das für die Entwicklung Europas. (Beifall.)

*****

Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Danke schön, Herr Dr. Busek, vor allem auch für die einleitende Ergänzung mit ihren persönlichen Erinnerungen im Anschluss an das, was der Herr Bundespräsident dazu zu sagen hatte. (Dr. Busek: Das, was er zur Frage der Geschäftsordnung gesagt hat, stimmt, ich bin in den Wirtschaftsbund entwichen, und Heinz Fischer folgte mir nach!) Wir haben jetzt Gott sei Dank noch ein paar Minuten Zeit. Ich würde zuerst mit Blick auf das Podium die Frage nach weiteren Wortmeldungen stellen und habe schon registriert, dass Herr Professor Pelinka noch einige Bemerkungen hat. – Bitte, Herr Professor.

Universitätsprofessor Dr. Anton Pelinka: Zwei Anmerkungen, zunächst zu Birgit Sauer und dann zu Erhard Busek.

Bei Crouch stört mich, er spricht von der Postdemokratie und definiert nie, was er unter Demokratie versteht. Da hat man Schwierigkeiten, seine Postdemokratie zu verstehen.

Ich greife Birgit Sauers Ball auf, aber mit einer kritischen Anmerkung ihr gegenüber: Wenn Postdemokratie Verschlechterung der Demokratiequalität ist – und das meint ja Crouch –, dann setzt die Postdemokratie als Verschlechterung der Demokratie gerade dann ein, wenn der Frauenanteil in den Parlamenten steigt. Das ist auch eine ganz interessante zusammenhängende Dimension.

Meine kritische Anmerkung ist einer der vielen Gründe, warum ich mit Crouch nichts anfangen kann, um nicht missverstanden zu werden.

In einem Punkt bin ich ein bisschen vorsichtiger: Quotenregelungen fein, nichts dagegen zu sagen, aber wenn wir wirklich schauen, wann der Frauenanteil in den Parlamenten nicht nur Österreichs, sondern in allen Demokratien zu steigen begann, stellen wir fest, das war in den 1980er-Jahren, und das war nicht die Folge von Quoten, sondern die Folge des politischen Verhaltens von Frauen und der Antizipation dieses Verhaltens durch die Parteien. Die Parteien kommen aus Eigeninteresse darauf: Um bei Wahlen günstig abzuschneiden, müssen wir mehr Frauen an wählbare Stellen platzieren.

Das heißt, die Quote gut und fein, sekundärer Faktor, der primäre Faktor ist, dass in den 1980er-Jahren weibliches politisches Verhalten sich zu ändern beginnt, und die Parteien – die Demokratie funktioniert eben – reagieren opportunistisch darauf und schieben Frauen in den Vordergrund. Dann kommen die Quoten noch dazu, nichts dagegen, aber entscheidend sind die Frauen, ist das Verhalten der Frauen.

Zu Erhard Busek und zur Gewaltenteilung in der EU: Wer ist der Gesetzgeber in der Westminster-Demokratie? – Das ist der britische Premierminister. Also hier einen Montesquieu zu bemühen, der übrigens so in der Bundesverfassung gar nicht vorkommt, hier eine Gewaltenteilung von Legislative und Exekutive zu bemühen und das zum Zentrum der Kritik an Defiziten der EU – diese gibt es, keine Frage – zu machen, das kommt mir ein bisschen so vor, als würde man dieselben Standards nicht bei der nationalen Demokratie ansetzen.

Woher kommen denn die österreichischen Gesetze? – Fast ausschließlich aus dem Ministerrat. Wo ist denn hier die Gewaltenteilung? Darüber kann man lange reden, aber diesen Maßstab bei der Europäischen Union anzusetzen und nicht auch bei der Republik Österreich, nicht auch beim Vereinigten Königreich, das ist ein bisschen eine einseitige EU-kritische Haltung.

Ich würde weiter gehen und sagen, dieses Montesquieu’sche Denken entspricht dem Präsidentialismus. Wenn wir den haben wollen, kann man darüber reden, dann haben wir die Trennung von Legislative und Exekutive, aber wenn wir weiterhin ein parlamentarisches System haben wollen, dann haben wir eben die Verschränkung von Legislative und Exekutive in der EU und in der Republik Österreich. Das hat Vorteile und das hat Nachteile, aber das weist eigentlich die unvollkommene Demokratie der Europäischen Union als ziemlich normale parlamentarische Demokratie aus, wie sie in Österreich auch existiert.

Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Danke schön. – Sowohl Frau Dr. Sauer als auch Herr Dr. Busek möchten noch kurz darauf reagieren. – Bitte, Frau Dr. Sauer.

Universitätsprofessorin Dr. Birgit Sauer: Ganz kurz. Natürlich stimmt es, dass sich das Wahlverhalten der Frauen seit den Siebzigerjahren verändert hat, aufgrund von Bildungszugang, Erwerbsintegration, einer stärkeren Selbständigkeit hat sich das verändert. Was man früher, in Deutschland zumindest, Weimarer Muster genannt hat: Die Frau wählt wie der Ehegatte oder wie der Vater, das hat sich dramatisch verändert. (Dr. Pelinka: In Italien, wie der Pfarrer von der Kanzel predigt!) – Genau.

Und es hat auch die Rationalität der Parteien gegeben in dem Sinne: Wenn wir die Frauen gewinnen wollen, dann müssen wir auch mit Frauen werben! Aber dazu muss man sagen, na ja, wenn der Frauenanteil dann bei 30 Prozent stecken bleibt, dann sind die Parteien ja vergleichsweise irrational. Offenbar treiben sie es dann doch nicht so weit.

Das ist dann der Moment, in dem man sagen kann, da machen Quoten möglicherweise Sinn. Und bei den Grünen kann man es feststellen, die haben immer über 50 Prozent Frauenanteil in ihrem Klub, und da funktioniert es. Bei anderen Parteien funktioniert es nicht so gut.

Auch im Ländervergleich kann man das feststellen. Es gibt unterschiedliche Quotenmodelle, es gibt Länder, die gesetzlich vorgeschriebene Quoten für Wahllisten haben oder die so etwas haben wie „reserved seats“. Und man sieht, wo im Parlament Sitze für Frauen festgelegt sind, dort ist der Frauenanteil einfach höher.

Insofern würde ich sagen, Quoten sind ein steuerndes Instrument, wo man durchaus historisch und auch im Vergleich sehen kann, dass das funktioniert.

Zu der Frage der Postdemokratie: Ich glaube, wir stimmen durchaus überein in der Kritik an Crouch. Ich finde das auch kein sehr gelungenes Buch.

Ich finde das, was Sie gesagt haben, schon auch bemerkenswert, nämlich dass man in dem Moment, in dem der Frauenanteil im Parlament steigt, dann natürlich schon auch Elemente, Tendenzen feststellen kann, die Crouch schon auch benennt, dass möglicherweise politische Entscheidungen dann woanders getroffen werden als im Parlament.

Wenn man sich zum Beispiel internationale Gremien ansieht – und das ist auch ein Argument von Crouch, dem ich schon etwas abgewinnen kann –, wo sehr viele politische Entscheidungen „vorgetroffen“ werden, also den Währungsfonds oder auch Bankenaufsichten, dann kann man feststellen, dort ist der Frauenanteil vergleichsweise noch gering.

Jetzt möchte ich nicht sagen, das sind irgendwie kommunizierende Gefäße: Wenn im Parlament der Frauenanteil steigt, dann wird das alles woanders vorentschieden, ich würde da keinen Automatismus feststellen wollen, aber ich würde schon sagen, dass es eine Veränderung in diesem Zusammenspiel von nationalen und internationalen demokratischen und eben nicht demokratisch legitimierten Institutionen gibt und eben auch einen Zusammenhang mit dem Frauenanteil.

Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Danke schön. – Herr Dr. Busek, bitte.

Dr. Erhard Busek: Ja, Anton Pelinka hat mit diesen Feststellungen sicher recht. Die historische Entwicklung der Kommission ist ausgehend von der Hohen Behörde, wo es an sich die Vorstellung von einem Parlament dazu gar nicht recht gegeben hat. Es waren eine Art beratende Versammlungen, die dann existiert haben. Also es ist sozusagen ein Entwicklungsprozess.

Ich glaube, man muss sich anschauen, wie überhaupt die ganze Gesetzgebung und Verwaltung – ich tue mir mit den Begriffen schwer im europäischen Kontext, weil das, glaube ich, auch eine andere Entwicklung genommen hat – dort zu sehen ist. Es ist auch die Frage der Effektivität. Wobei man positiv erwähnen muss, dass an sich das Parlament im Sinne von Demokratie eine gute kämpferische Rolle innehat und auf diese Weise, glaube ich, auch sehr sichtbar wird, was dringend notwendig ist, damit wir die Bürger besser davon überzeugen können, dass es in diese Richtung geht.

Also da gebe ich dir recht, es ist aber ein Gebiet, wo zweifellos noch einiges notwendig ist.

Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Danke schön.

Wir haben eigentlich die dafür vorgesehene Zeit schon verbraucht, und es hat mich bereits ein ganz kritischer Blick von Professor Kramer erreicht, deswegen jetzt noch ein kurzer Kontrollblick meinerseits in die Runde: Gibt es von Ihnen im Publikum den ganz dringenden Wunsch, noch eine Bemerkung zu machen oder eine Frage zu stellen? – Bitte schön.

Dr. Katharina Krawagna-Pfeifer: Zum Vortrag von Birgit Sauer: Ich erinnere mich noch gut, als Johanna Dohnal – ich glaube, es war der Parteitag in Linz – die Quotenregelung vorgeschlagen hat, als sie enorme Streichungen in Kauf nehmen sollte. In der Folge kam es dann zu nachziehenden Entwicklungen, ganz grob gesprochen, der anderen Parteien. Und es kam zu einer ganz massiven praktischen politischen Auswirkung auch im österreichischen Nationalrat – Erhard Busek wird sich daran erinnern –: zum Schulterschluss der Frauen parteiübergreifend. In der Folge wurde verfassungsrechtlich das Pensionsantrittsalter der Frauen festgeschrieben, dass es bis zum Jahr 2014, glaube ich, nicht an jenes der Männer angepasst wird.

Also ich glaube, die innerparteiliche Quote hat ganz massive parlamentarische Auswirkungen und in der Folge natürlich auch auf die österreichische reale Verfasstheit der Menschen.

Parlamentsdirektor Dr. Harald Dossi: Vielen Dank. – Frau Professor Sauer nickt auch, also ich glaube, das war eine wertvolle Ergänzung, keine Frage.

Ich danke den drei ReferentInnen für ihre Beiträge, ihre Diskussionsbereitschaft und würde dann zum nächsten Panel überleiten. – Bitte.

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Panel II: Was sind und wozu brauchen wir politische Parteien?

Mag. Barbara Blümel: Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir gleich zu unserem nächsten Panel weitergehen können. „Was sind und wozu brauchen wir Parteien?“, haben wir es genannt. Das ist natürlich eine Frage, mit der wir permanent konfrontiert sind, vor allen Dingen auch wenn man hier im Haus arbeitet, was ich seit 15 Jahren tue. Das heißt, ich habe genau zehn Jahre nach dem Tod von Wilhelm Czerny begonnen, hier zu arbeiten, und hatte das Glück, noch eine enge Mitarbeiterin von ihm kennenzulernen, nämlich Edith Riether. Das ist auch so ein bisschen mein Konnex, warum ich bei der Organisation dieses Symposiums mit dabei war.

Wilhelm F. Czernys Schriften wurden herausgegeben von Edith Riether und Günther Schefbeck. Die Texte sind ja vor 1994, 1995 und zum großen Teil auch weit vor 1989 entstanden. Er hat sehr früh schon über Neue Soziale Bewegungen geschrieben und sich sehr kritisch damit auseinandergesetzt, was an den Neuen Sozialen Bewegungen neu sein soll. Er hat immer darauf verwiesen, dass es auch eine Arbeiterbewegung gegeben hat, et cetera. Diese wird nicht als Neue Soziale Bewegung tituliert, aber er hat sich natürlich, nachdem der Begriff so stark im Kommen war, auch damit auseinandergesetzt und unter anderem wortwörtlich geschrieben:

„Die Beschäftigung mit Neuen Sozialen Bewegungen ist immer wieder auch ein Anlass für zeitkritische Betrachtungen über Unzulänglichkeiten und Defizite der gesellschaftlichen und auch politischen Ordnung.“

Cerny hat gerade bei den Grünen beobachtet, dass es natürlich sehr schwierig ist, sich mit den Instrumenten der Neuen Sozialen Bewegung zu institutionalisieren und zu einer Partei zu werden. Deswegen freue ich mich jetzt ganz besonders, dass die erste Klubobfrau der Grünen hier bei uns ist und uns ein bisschen etwas über diesen Weg und wahrscheinlich auch Kampf wird erzählen können. – Bitte.

„Wie Neue Soziale Bewegungen zu Parteien werden“

Dr. Freda Meissner-Blau: Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den siebziger Jahren hat es auch bei uns in Österreich und fast in ganz Westeuropa so ein Klima des Aufbruchs gegeben. Zumindest haben wir es unten an den Graswurzeln gespürt. Aber ich glaube, es ging auch höher hinauf. Meine Theorie ist natürlich, dass es in Österreich aufgrund der Kanzlerschaft Bruno Kreiskys war. Aber das galt nicht für Frankreich und das galt natürlich nicht für Deutschland. Denn zu dieser Zeit ist überall plötzlich der Wunsch laut geworden, „Politik in der ersten Person“ zu machen, wie das hieß, und es taten sich Menschen zusammen und setzten eine Menge Experimente durch. Ich erwähne hier Kinderläden, Wohngemeinschaften, aber auch Reformpädagogik, Landgenossenschaften, überhaupt Genossenschaften. Die taten sich überall in Österreich zusammen, vor allem Landgenossenschaften; einige von denen aus den siebziger Jahren gibt es ja noch heute. Das waren so quasi die Pioniere einer Post-Wachstumsgesellschaft, würde ich sagen. Es klingt ein bisschen pathetisch, aber sie sahen sich als „Inseln des Neuen im kalten Meer des Status quo“.

Die Gründungen dieser Vereinigungen, Gruppen und Initiativen waren auf jeden Fall angepasst an ihre gefühlten Lebensbedürfnisse, was nicht heißt, dass nicht große Irrtümer und Fehler geschahen, gerade in der Zeit, und sehr viele von diesen Ideen dann auch scheiterten. Aber sie kritisierten vor allem, dass es den damals noch zwei großen Parteien links und rechts, wie das damals noch so definiert wurde, nicht gelungen ist oder nicht mehr gelungen ist, würde ich sagen, nicht mehr, eine Gemeinschaft zu formulieren und vor allem zu kreieren. Diese Sehnsucht nach Gemeinschaft war wirklich an den Wurzeln, an den Graswurzeln zu spüren. Ich nenne sie viel lieber Graswurzeln, denn „Soziale Bewegung“, das ist ein sehr viel späterer Schritt.

Es waren wirklich Hunderte, wenn nicht Tausende kleine Gruppen, die sich zusammentaten, Umweltgruppen, ich würde sagen, eben die Pioniere einer Post-Wachstumsgesellschaft: die neue Frauenbewegung, natürlich die Friedens- und die Umweltbewegten. Was sie zusammenbrachte, war vor allem der Kampf gegen irgendwelche ihrer Meinung nach gefährlichen und schädlichen Großprojekte, was natürlich im Kampf gegen die Atomenergie gipfelte, welcher nicht nur Zehntausende, sondern, ich denke an Wackersdorf, Hunderttausende Menschen auf die Straße brachte. Das war ein ungeheuer einigendes Vorgehen. Allerdings muss ich sagen, schon damals wurde aufmerksam gemacht auf die Gefahren der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Diese Gruppen waren natürlich um vieles flexibler und konnten viel besser auf die beginnenden Krisen antworten als die großen schwerfälligeren Parteien. Das liegt in der Natur der Sache.

Wie wurden sie zu Parteien? Persönlich habe ich nur das Werden von zweien hautnah miterlebt. Das eine Mal war in Bonn, wo es eine sehr starke Anti-AKW-Bewegung gab, unterstützt von allen Friedensfreunden und selbstverständlich allen Umweltschützern, organisiert vor allem durch Petra Kelly und ihren MitstreiterInnen, darunter der spätere Außenminister Deutschlands, Joschka Fischer. Ich war sehr befreundet mit Petra Kelly, und ich habe von Anfang an das begleitet und mitgemacht und dabei gelernt. Die Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Realos und Fundis war um vieles, vieles härter als bei uns in Österreich. Ich würde sogar sagen, sie war brutal – ich habe keinen anderen Ausdruck dafür. Vor allem diese Hamburger K-Gruppen, die sehr scharf vorgegangen sind.

Bei uns dauert es wie immer ein paar Jährchen länger. Ich erwähne jetzt nur einmal die zwei, drei größten Gruppen, die sich in Österreich zusammentaten, schon lernend von den Bundesdeutschen, und sie übernahmen auch Punkte ihres Programms: Das war erstens die ALÖ, die Alternative Liste Österreichs, die in Graz begonnen hat, zu einer relativ frühen Zeit. 1983 wurde die gegründet. Die hatte als Prinzipien aus dem deutschen Programm übernommen: ökologisch, basisdemokratisch, solidarisch und gewaltfrei.

Ihr Wiener Zweig, die ALÖ Wien, Alternative Liste Wiens, zerfiel sehr schnell in zwei Teile: Der eine war der sogenannte Montag-Teil, das waren die K-Gruppen und die Radikalen, die eine totale Systemveränderung proklamierten. Anders war für sie nichts zu machen. Und der andere Teil war die Donnerstag-Gruppe, die vor allem umweltorientiert und demokratiepolitisch orientiert war. Das waren Leute wie der Christoph Chorherr. Ich muss das hie und da einmal an Menschen festmachen, damit man eine Vorstellung hat.

Das war die erste größere Bewegung, die sich zur Partei formierte, mit der Absicht, bei Nationalratswahlen anzutreten.

Die zweite größere Gruppe waren die Vereinten Grünen Österreichs, VGÖ genannt, deren Ausrichtung wohl ökologisch war. Da waren sehr viele sehr konservative Elemente dabei und einige nationalistische.

Der Versuch dieser zwei größeren Gruppen, zu denen dann noch weitere kamen, sich zusammenzuschließen für Nationalratswahlen, scheiterte natürlich kläglich an den nicht in Übereinstimmung zu bringenden ideologischen Differenzen. Drei Bundesländer haben es dennoch versucht, und zwar Tirol, Salzburg und Vorarlberg, wobei die Vorarlberger schon damals Glück hatten – und nicht nur Glück, sondern tatsächlich vier Landtagssitze gewannen. Ihr Hauptanliegen und ihre Hauptforderung war die Umsetzung eines gescheiten Energieprojekts. Durchgeführt haben es jetzt die Oberösterreicher. Und dennoch scheiterte die Zusammenlegung der beiden Parteien.

Die ganze Geschichte bekam dann plötzlich eine ganz andere und veränderte Dynamik, und zwar nicht mehr durch den Kampf gegen die Atomenergie, das hatten wir sozusagen erledigt. Wir hatten verhindert, dass in Österreich Zwentendorf in Betrieb geht und mit Zwentendorf sechs weitere geplante AKWs; der Bau des zweiten war schon in St. Pantaleon geplant. Das war dem klugen Entscheid von Bruno Kreisky zu verdanken, per Verfassungsgesetz die Produktion von industrieller Energie durch Atomenergie in Österreich zu verbieten. Und das gilt noch heute.

Das war wie gesagt 1978, und 1984 begann die Geschichte um Hainburg, wo, wenn Sie sich erinnern, ein riesiges Kraftwerk geplant war. Was die Naturschützer dabei am meisten aufregte: Es wäre dazu notwendig gewesen, erst einmal die Donau zu entleeren und umzuleiten. Unsere Donau wäre dann nur ein kleines Bächlein gewesen, das dann sowieso vertrocknet wäre und die Au nie hätte ernähren können. Also es sprach für uns alles dagegen. Tausend gesunde Au-Bäume sollten gefällt werden, damit das Kraftwerk gebaut werden kann.

Dieser Kampf gegen das Hainburger Kraftwerk hat eine neue Dynamik in die ganze Geschichte gebracht. Und eine weitere Dynamik – jetzt muss ich mit mir anfangen – war die Tatsache, dass ich von Freunden, von Künstlern, Philosophen, Journalisten gebeten wurde oder geradezu „gepresst“ wurde, bei der nächsten Bundespräsidentenwahl als Kandidat anzutreten. Ich hatte damals schon weiße Haare, und man sagte mir, es muss eine Frau sein, und sie sollte möglichst weißhaarig sein, denn das lieben die Österreicher, das ist dann so eine Art „Mama“.

Zur Erinnerung: Bundeskanzler Vranitzky – eigentlich müsste ich das nicht in diesem Kreis erwähnen – hatte nach dem Haider-Putsch in Innsbruck abgelehnt, die kleine Koalition SPÖ mit FPÖ weiterzuführen, und rief im Oktober 1986 Neuwahlen aus. Und von da an liest sich die ganze Geschichte eigentlich sehr anders. Die geschriebene Geschichte der weiteren Entwicklung klingt so, als ob jetzt ein vernünftiger Einigungsprozess stattgefunden hätte. Es kam eine dritte große Gruppe dazu, die GRAS, die Grün-Alternative Sammelbewegung. Und im Spätfrühling 1986 die Bürgerinitiative Parlament, zu der seinerzeit noch Othmar Karas auf der einen und Josef Cap auf der anderen Seite dazugehörten.

Jetzt muss ich, die ich ja da jeden Schritt mitgelitten habe, mein subjektives Erleben schildern. Dieser Einigungsprozess wurde wohl knappest erreicht, nach wochen-, ja monatelangen unendlichen nächtlichen Sitzungen. Die Sitzungen fanden im NEUEN FORVM bei Günther Nenning statt. Dadurch wurde Günther Nenning plötzlich zu einer ganz zentralen Figur in der ganzen Angelegenheit, hat er ja auch als Au-Hirsch eine gewisse Rolle in der Hainburger Au gespielt.

Vielleicht ein Detail: Noch vor dem Sommer 1986 kam es zu einem Grundsatzvertrag zwischen VGÖ, ALÖ und besagter GRAS. Die Bürgerinitiative Parlament machte damals noch nicht mit.

Bei diesen Auseinandersetzungen bewiesen die K-Gruppen wie immer ein unendliches Sitzfleisch, während sich die Reihen der Umweltbewegten von uns um drei, vier lichteten. Sie aber blieben sitzen und kämpften um jeden Beistrich – hart! – einer ominösen Geschäftsordnung. Mir gingen diese wochen-, monate- und nächtelangen Sitzungen so auf die Nerven, dass ich immer wieder gefragt habe: Was ist das Ziel einer Grün-Alternativen Partei im Parlament? Was wollt ihr? – Darauf habe ich nie eine Antwort bekommen, denn es ging um die Geschäftsordnung und um ominöse Statuten. Und mir war es halt viel wichtiger, zu Inhalten zu kommen, aber die wurden nicht geliefert, zumindest nicht einheitlich.

Als nun der Ultimo für die Eintragung im Innenministerium nahte, stand ich eines Abends oder eines Nachts auf und sagte: Genug, ich gehe morgen ins Innenministerium und melde die Grüne Alternative für die Nationalratswahl im Oktober an! Es gibt ja Fristen. Das führte zu unglaublicher Empörung vor allem bei Nenning und den K-Gruppen. Ich hatte schon längst das Gefühl bekommen, dass Nenning die Sache hinauszog auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, und das bewies sich dadurch, dass er mit den K-Gruppen so wahnsinnig böse auf mich war. Er hat gesagt: Freda, du zerstörst alles! – Ich habe gar nichts zerstört. Wir einigten uns, und ich habe gesagt, alle, die den grün-alternativen Prinzipien folgen, sollen zur Eintragung ins Innenministerium mitkommen.

Nach langen Diskussionen beauftragten wir dann Pius Strobl mit der Eintragung, und in der darauffolgenden öffentlichen Pressekonferenz, um unsere Parteibildung anzukündigen, saß Nenning zunächst bei uns. Die K-Gruppen waren immer noch schrecklich böse auf mich, standen in der Tür und beobachteten das Ganze – bei uns herrscht ja das System, dass es jedem freisteht zu kommen –, und dann stand Nenning vom Podium auf, ging zur Tür und stellte sich zu den K-Gruppen. Das war das Letzte, das er in dieser Angelegenheit machte.

Jetzt vielleicht, um die Zeit nicht zu überschreiten, kurz mein Resümee zur Transformation von Aktivisten – Sie haben das so schön ausgedrückt, Frau Blümel – zu wählbaren Parteien.

In der Zusammenarbeit weltanschaulich sehr divergierender Gruppen ist es bei Ein-Punkt-Projekten wie Zwentendorf, AKWs oder Großbaustellen, die einen effektiven Schaden für die Umwelt und für die Menschen darstellen, notwendig, keine Fragen zu stellen in der Art: Woher kommst du? Was ist deine Überzeugung? Was ist deine politische Heimat? Ausgenommen sind Rechtsradikale, wenn die Vermutung besteht, oder auch sehr rechtsnahe Leute, das gehört einfach zum Credo grün-alternativer Parteien. Das heißt, man zieht an einem Strang und stellt keine Fragen. Nur so ist es überhaupt möglich, gemeinsam mit einer großen Anzahl an Bürgerinnen und Bürgern etwas durchzusetzen. Daran glaube ich auch heute noch.

In dem Augenblick, in dem Ämter angestrebt werden, Machtpositionen, zu denen auch immer finanzielle Ausstattungen gehören – und da hakt es ja meistens –, sind alle Details der Zusammenschlüsse dringend notwendig. Jedwede extremistischen Einfügungen, nenne ich es einmal, sind zum Scheitern verurteilt, brechen früher oder später auseinander; meistens früher. Es gibt nicht wenige Beispiele der großen Politik dafür, dass das passiert. Ich denke an Hitler mit Sowjetrussland oder an sonstige Dinge, die passiert sind.

Bei der Wahl im Oktober 1986 erhielt die Grüne Alternative – ich hatte 5,5 Prozent Zustimmung bei der Bundespräsidentenwahl bekommen – 4,7 Prozent, also genug, um ins Parlament einziehen zu können, und sie zog ein unter dem Namen „Die Grüne Alternative – Liste Freda Meissner-Blau“. Mein Name sollte der Unterscheidung von der angekündigten Gegenkandidatur, die auch durchgeführt wurde, die aber mit rund 1 Prozent scheiterte und auch nur in Wien stattfand, dienen. Dass ich dann plötzlich als einzige Mandatarin mit sieben Männern dastand, war eine unendliche Blamage für mich, sowohl innerlich als auch äußerlich, aber vor allem innerlich, denn wir hatten ja neun Bundesländer-Listen, unabhängig voneinander, mit Reißverschlusssystem vereinbart. Nachdem aber die Männer uns damals noch blauäugigen Frauen überlegen waren, setzten sie sich alle an die erste Stelle beziehungsweise wurden mit ihren Freunden, mit ihrer Gruppe dort hingesetzt. Das war ein Schock.

Ich hatte ein Grundmandat in Niederösterreich errungen; das, was angeblich unmöglich war, wurde plötzlich möglich. Deshalb war ich überhaupt als Frau da, sonst wäre ich nicht ins Parlament gegangen, denn ich habe gesagt, ich will keine Hängematte, kommt nicht in Frage, ein Restmandat akzeptiere ich nicht; entweder ein Grundmandat oder nichts.

Wir hatten keinen einzigen Juristen in der Gruppe. Das habe ich als großen Mangel empfunden. Ich habe gesagt, ich möchte nicht einem großartigen Professor Ermacora gegenübersitzen und mit ihm über Verfassungsrecht sprechen. Das ist ja absurd. Ich habe darauf bestanden, dass ich nicht ins Parlament gehe ohne einen möglichst Verfassungsjuristen, aber auf jeden Fall sehr guten Juristen.

Damals – und das, Frau Sauer, ist auch wichtig, da hat sich bis heute viel geändert – habe ich versucht, doch relativ prominenten Juristinnen ein Mandat anzubieten. Und was soll ich sagen? – Ich bin überall gescheitert. Am Anfang waren alle begeistert. Ich habe gesagt: Jetzt gehen wir durch die gläserne Decke, wollen Sie ein Mandat im Parlament? – Die Erste sagte: Möchte ich gerne, wunderbar, großartig! Am nächsten Tag rief sie mich an und sagte, sie müsse doch erst ihre Professur machen. Die Zweite hatte ein achtjähriges Kind und musste um 16 Uhr zu Hause sein. Ich habe ihr gesagt, das geht bei Plenarsitzungen nicht, da kommt sie vielleicht erst um 4 Uhr früh nach Hause. Das konnte sie nicht, sie musste ihr Kind von der Schule abholen. So ging es mir bei jedem Versuch. Und letztendlich bekam das Mandat natürlich ein Mann, nachdem die Tiroler – die waren g’scheit – mir ihr Mandat für einen Juristen geschenkt hatten, und das war Staatsanwalt Walter Geyer, den ich sehr schätze, nach wie vor.

Das zu verzeichnende Wachstum bei der heutigen Grünen Partei freut mich natürlich, vor allem in den Bundesländern, dass sie in meinen Augen und in den Augen vor allem der Aktivisten einen zu hohen Preis dafür zahlt, ist eine andere, schmerzhafte Erfahrung. Sie hat die ökologisch dringenden Notwendigkeiten ein bissel weggeschoben, um überhaupt hineinzukommen.

Noch 2004, möchte ich Ihnen sagen, fand beim Bundeskongress in Klagenfurt der Grundsatz „Sammlung und Einigung der Bewegung für Demokratie und Umwelt“ sehr breite Zustimmung. Dort hieß es weiter: Wir sind keine Parteiorganisation im traditionellen Sinn – und jetzt zitiere ich –, „sondern die gemeinsame demokratische Organisation jener Menschen, die sich in ökologischen, demokratischen, sozialen Bereichen, in der Kultur- und Friedenspolitik engagieren und für die Gleichberechtigung der Frauen in Beruf, Politik und in der Gesellschaft eintreten“. Die Autonomie der außerparlamentarisch Arbeitenden wird respektiert, deren Tätigkeit jedoch ist eine Voraussetzung für die eigene parlamentarische Arbeit. Es hieß damals, der Grüne Klub ist das Standbein und die Bewegung das Spielbein. Ganz so ist es nicht geworden, denn die Gruppen, die Aktivisten auf lokaler und kommunaler Ebene lehnen jede Art der Parteizugehörigkeit ab. Das ist sehr klug, denn im Waldviertel bei einem alten erfahrenen ÖVP-Bürgermeister zum Beispiel kann man nichts erreichen, wenn man auf wild tut. Da ist man eher „neutral“, dann geht es vielleicht besser.

Was die großen, inzwischen wirklich groß und stark gewordenen Umweltorganisationen wie Global 2000, Greenpeace, Friends of the Earth, „Rettet die Flüsse“, die „Erdgespräche“ betrifft, da fand man mit den Grünen selbstverständlich punktuelle Zusammenarbeit, es gelang auch, einige Sachen über den Grünen Klub in die Öffentlichkeit zu bringen, aber auch diese Organisationen kritisieren den wachsenden Pragmatismus der Grünen. Das ist natürlich irgendwo ein Bruch, der wohl stattfinden musste, weil sie eine normale Parlamentspartei geworden sind.

Ich bin ja wieder zu den Wurzeln zurückgekehrt, und zwar genau aus diesem Grund. Ich war ja eigentlich auch gegen die Parteigründung, und eines meiner Argumente wäre: Nie hätten wir die Atomenergie aus Österreich in dem Maß, wie sie geplant war: 6 AKWs, möglichst einen Schnellen Brüter und noch Schlimmeres, draußen gehalten, wenn wir damals schon im Parlament gewesen wären. Im Parlament wäre das nie gelungen, selbst wenn man 20 Prozent gehabt hätte, wäre das nicht gelungen. Das konnte nur von unten kommen, und aus diesem Grund bin ich zurückgekehrt zu den Graswurzeln. – Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Geduld. (Beifall.)

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Mag. Barbara Blümel: Ich bedanke mich ganz herzlich. Ich glaube, das war eine sehr eindrucksvolle Darstellung dessen, was auch Czerny immer wieder beschreibt, nämlich dieses Spannungsverhältnisses zwischen Bürgerbewegung – die er als „unkonventionelle Beteiligungsform“ tituliert – und Parteien.

Im Vortrag von Freda Meissner-Blau ist sehr schön herausgekommen, dass es für Parteien sehr wichtig ist, sich auseinanderzusetzen mit: Was bedeutet für mich Repräsentation?, Wer kommt ins Parlament?, Wer wird Parlamentarier?, Wer kann es auch bleiben?, und ich freue mich sehr, dass Manfried Welan sich jetzt genau diesen Fragen widmen möchte. – Bitte.

„Repräsentation durch Abgeordnete – Fiktion oder Realität –
österreichische Perspektive“

Em. o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Manfried Welan: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt nichts Spannenderes, als Zeitgeschichte durch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählt zu bekommen. Das haben wir jetzt erlebt. Es sind jetzt in einem Jubiläumsjahr in Bezug auf Hainburg einige Dinge gesagt worden, die mich sehr stark an die damalige Zeit erinnert haben, weil die Universität für Bodenkultur durch Studierende und Professoren sehr beteiligt war, aber es ist auch etwas herausgekommen, nämlich: Domestikation durch Partei und Parlament, und das ist, glaube ich, eine sehr wichtige Erkenntnis, die uns Frau Meissner-Blau mitgegeben hat.

Wir haben schon einiges über Repräsentation gehört. Frau Professor Sauer hat ihre Ausführungen besonders auf die Frauenfrage konzentriert, und ich möchte zum Allgemeinen zurückführen. Was heißt eigentlich „Repräsentation“? Das Wort ist nicht so einfach zu definieren; meistens sagt man, es heißt „etwas vergegenwärtigen“. Man kann in Bezug auf die Abgeordneten sagen, dass sie das abwesende Volk präsent machen, und das Parlament ist dann eben der konstituierte Ort des organisierten Volkes.

Wir sind das Volk! – Kann das Parlament das sagen? Jedenfalls ist das Parlament die erfolgreichste Institution im Zusammenhang mit der Errichtung einer Demokratie, und ich glaube auch, dass es das bleiben wird. Ich bin auch kein großer Krisenanhänger, da ich alt genug bin, durch mehrere Jahrzehnte hindurch immer wieder Krisen der Demokratie erlebt zu haben. Wenn Crouch „Postdemokratie“ sagt, dann kann ich sagen, das habe ich auch schon immer erlebt, denn die Demokratie ändert sich so wie die Gesellschaft permanent. Daher können wir immer wieder von einer „Postdemokratie“ oder sonstigen „Post-...“ sprechen.

Ich glaube, dass der Parlamentarismus und die Repräsentation durch Abgeordnete auf einer bestimmten Vorstellung beruhen, und zwar auf der Vorstellung, dass das Parlament mit seinen Mitgliedern das Volk als Gemeinschaft darstellt, dass das Parlament eine Volksvertretung ist und nicht eine Vertretung lokaler, regionaler oder wirtschaftlicher Interessen. Diese Vorstellung liegt zumindest der Verfassung zugrunde und ist auch in der politischen Bildung vertreten, auch wenn sie mehrfach eine Fiktion ist.

Noch einmal möchte ich sagen, Repräsentation ist nicht selbständig existenziell, also sozusagen, philosophisch gesprochen, ontisch. Sie ist nicht feststehend und feststellbar, sondern sie ist ein Gegenstand von Vorstellungen, und daher gibt es verschiedene Repräsentationstheorien, weil es eben verschiedene Vorstellungen gibt.

In der parlamentarischen Demokratie ist politische Repräsentation realisiert, also die Vergegenwärtigung des abwesenden repräsentierten, als souverän gedachten Volkes durch den und in den Abgeordneten vor den beobachtenden Dritten – wer ist das?, kann man immer fragen – und die dadurch begründete verbindliche Handlungsbefugnis des Repräsentanten. Entscheidend ist dabei, dass der repräsentative Vorgang vom Dritten, dem regelmäßig die Angelobung obliegt, als solcher erkannt wird und weder Repräsentierter noch Repräsentant sich ausdrücklich dagegen wenden.

Aber das Ganze ist eine Vorstellung. Die Teilhabe aller an der Bestellung der Repräsentanten in Form von allgemeinen und gleichen Wahlen – wir haben heute auch schon über die Probleme gesprochen –, die Darstellung der Einheit, der nationalen Einheit – auch das ist heute mit Fragezeichen zu versehen: haben wir noch ein allgemeines Wahlrecht, wenn eine Million kein Wahlrecht hat? –, die Ungebundenheit des Mandats und die Gewissensbindung der Repräsentanten, das sind die Instrumente, mit welchen unsere Verfassung das Prinzip der Repräsentation de jure realisiert.

Ich möchte noch einmal auf die Frage hinweisen, wie das Parlament als politische Institution zu verstehen ist: als Ort, wo die geregelte Ausübung der politischen Rechte in einem Staat stattfinden kann. Um einen Staat zu bilden, braucht es einen juristischen Raum, und da kann dann der politische Witz des Parlaments aufleuchten. Es entspricht in der Qualität einer sozialen und symbolischen Institution. Wir alle wissen, dass im Parlament der gesellschaftliche Konsens nicht wirklich immer hergestellt wird und dass der in der Gesellschaft bestehende Dissens nicht immer adäquat zum Ausdruck gebracht wird, aber das Parlament kann doch immerhin der Ort sein, an dem das geschieht.

Das Parlament ist also eine politische Institution, aber diese politische Institution ist von den Parteien getragen, und man muss dazusagen, dass die Parteien – darauf kommt es mir besonders an – für die Demokratie nach wie vor lebensnotwendig sind, vor allem deshalb, weil sie für den Nachwuchs in der Politik und für die Auslese der Politiker verantwortlich sind. Sie sind die Schule und die Praxis der Politik. In ihnen müssen sich die zukünftigen Politiker bewähren. Und die Suche nach den Richtigen ist die große Aufgabe der Parteien, das ist die große Schwierigkeit.

Da die Abgeordneten das Parlament bilden und die Parteien die Abgeordneten bilden, sind die Parteien also für das Parlament verantwortlich und aus dieser Verantwortung nicht zu entlassen.

Interessant: die Realität Österreichs. Und da bin ich der Meinung von Anton Pelinka: Ich glaube eben nicht an die Krise. Österreich ist klein, aber die Herrschaft der Parteien ist noch immer groß, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie die Schule und die Monopolisierung der Politik für die Politiker sind, denn ohne sie kann man weder politisch etwas werden noch politisch etwas bleiben.

Der Weg in die Politik und in der Politik ist wenig geregelt, und ich glaube, man kann sagen, dass die Politik als Beruf geradezu ein Freiberuf ist, vielleicht noch einer der letzten freien Berufe. Dazu kommt, dass die Abgeordneten ja auch frei sind, fast so ähnlich unabhängig wie Richter und auch unabhängig wie Wissenschaftler. Trotzdem stehen sie unter viel größeren Abhängigkeiten als Richter und Wissenschaftler – beides erlebt, kein Vergleich! Insofern ist es auch interessant, wenn man sich fragt: Wie lange braucht man, bis man hinaufkommt?

Das ist eine interessante Frage, weil heute ja verlangt wird, dass möglichst Quereinsteiger genommen werden. Das ist ein Problem. Es fehlt da meines Erachtens oft an Vertrauen und an der Leistungserfahrung, und deshalb ist der Weg nach oben – die „Ochsentour“ oder wie immer man das bezeichnet – etwas sehr Wesentliches, denn das erzeugt das Vertrauen. Man kann sich dann doch verlassen.

Allerdings ist es auch eine Frage der Anpassung im lokalen Bereich, Bezirksbereich, Ortsbereich und so weiter. Der Weg über Funktionen als Personalvertreter, Betriebsrat, Gewerkschafter, Kamerad und so weiter, muss gegangen werden, weil es eine Bewährung ist, und entsprechend wird repräsentiert.

Und so kommen wir zur Realrepräsentation – von der von mir vorher genannten Idealrepräsentation –: Jede und jeder ist auch Realrepräsentant seiner Herkunft – das merkt man manchmal sogar am Dialekt – und seines Weges, und daher ist es so schön, zu beobachten, wie sozusagen die Buntheit einer föderalistischen Gemeinschaft sich im Parlament widerspiegelt.

Wir vergessen manchmal, dass die repräsentative Demokratie und überhaupt die Demokratie aus einer Antistellung kam und kommt. Das heißt, der Parlamentarismus war ursprünglich gegen etwas. Ja wogegen? – Die Repräsentanten sind heute an die Stelle des Kaisers gerückt. Man kann sogar sagen, dass dem Parlament, den Repräsentanten der Feind abhandengekommen ist, der sie früher motiviert hat und in verschiedener Weise auch zur Gemeinschaft geschmiedet hat. Über das Verhältnis unserer Repräsentanten zum Kaiser könnte man Geschichten schreiben. Er wurde abgeschafft, aber er ist noch präsent, und zwar in vielfacher Weise.

Da ich an der Universität Wien Jus studiert habe, bin ich jeden zweiten Tag die „Juristenstiege“ hinaufgegangen und habe dort den Franz Joseph gesehen. Es ist ihm zwar der Kopf im 45er-Jahr heruntergeschossen worden, dieser ist aber sofort im 45er-Jahr wieder aufgesetzt worden. Ansonsten ist die Universität nicht besonders berücksichtigt worden beim Wiederaufbau, aber ich war ja auch bei der Eröffnung des Burgtheaters dabei, und das war immer das Leitmedium, Oper und Burgtheater. Das war die Universität leider nie.

Aber zurück zu dem Kampf gegen den Monarchen. Ich glaube, er ist noch immer präsent, in vielfacher Weise. Er ist auch hier im Repräsentantenhaus, und zwar in der krönenden Attika über dem Zentralportikus des Parlaments, dargestellt als römischer Imperator, der die Völker einlädt, mit ihm gemeinsam zu regieren – auch wenn die Realität ganz anders war. Auch wenn man hier hinaufschaut, hat man wieder den Franz Joseph vor Augen. Und ich glaube, es ist eine große Frage, inwieweit es den Parteien und dem Parlament jemals gelingt, die Republik als Republik zu konstituieren und nicht die Monarchie in der Republik fortzusetzen. – Danke schön. (Beifall.)

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Mag. Barbara Blümel: Mich würde jetzt interessieren, was Wilhelm Czerny so ad hoc dazu sagen würde.

Ich kann auch beisteuern: Wir sitzen unter den 17 Kronwappen der österreichischen Reichshälfte. Also es ist ein sehr geschichtsträchtiges Haus, wo man auf Schritt und Tritt an das Abgeordnetenhaus und das Herrenhaus erinnert wird.

Ich darf trotzdem eine gewagte Überleitung probieren: Es geht jetzt um ein Thema, zu dem Czerny natürlich persönlich nicht sehr viel gesagt haben kann, weil das Europäische Parlament zu seiner Zeit die heutige Rolle nicht innehatte, aber er hat unter anderem auch geschrieben, dass Parteien idealerweise BürgerInnen integrieren und damit an den Staat heranführen. Ich glaube, das ist ein schönes Bild – wie wir gerade gehört haben, für Österreich nicht immer ohne Sprünge –, aber ich glaube, es ist auch eine gute Idee, sich das als Grundlage zu nehmen für eine Annäherung an die Europäische Union und insbesondere an das Europäische Parlament. Und die Frage, wie Repräsentation im Europäischen Parlament erfolgt, ist eine, der sich jetzt Josef Melchior widmen wird. – Bitte.

„Repräsentation durch Abgeordnete – Fiktion oder Realität –
europäische Perspektive“

Assistenzprofessor Dr. Josef Melchior: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte vorausschicken, dass das Thema der Repräsentation meiner Ansicht nach sehr gut gewählt ist, gerade auch im Zusammenhang mit der Debatte über die europäische Integration, auch aus dem Grund, weil sich gerade im Zusammenhang mit der Frage des Demokratiedefizits auf europäischer Ebene die Wissenschaft in den letzten zehn Jahren sehr intensiv mit dieser Frage der Repräsentation auf europäischer Ebene auseinandergesetzt hat. Und wie man sich leicht vorstellen kann, ist das auf der europäischen Ebene noch um einiges schwieriger und komplexer zu fassen als auf der nationalen Ebene.

Die grundsätzliche Frage, die ich thematisieren möchte, ist jedenfalls, ob das europäische Regierungssystem und speziell das Europäische Parlament in der Lage ist, den Repräsentationsanspruch, den wir in den modernen Demokratien haben, zu realisieren, oder ob es da zu systematischen Verzerrungen kommt. Aus Zeitgründen werde ich versuchen, diese Frage in sechs Thesen zu konzentrieren.

Man muss natürlich, wenn man über Repräsentation spricht, wissen, worüber man spricht, und das ist nicht so einfach. Wie Herr Kollege Welan schon angedeutet hat, ist Repräsentation ein komplexes Phänomen, es ist ein dynamisches Phänomen, und es ist auch ein sehr umstrittenes Phänomen. Das merkt man sofort, wenn man sich nur die wissenschaftliche Literatur dazu ansieht. Wahrscheinlich findet man, ähnlich wie vom Konzept der Demokratie, hundert verschiedene Definitionen davon. Ich möchte aber anschließen an eine Konzeption von Repräsentation, die das Verhältnis von Repräsentierten und Repräsentierenden als ein komplexes und dynamisches versteht, und zwar auch als eine Interaktion – nicht etwas, was stabil ist und was einmal passiert, sondern was immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Das heißt, es gibt jemanden, der einen Repräsentationsanspruch stellt, und der wird beantwortet von jemandem oder auch abgelehnt von jemandem. Und das heißt, dass gelungene Repräsentation eben in einem positiven Zusammenspiel von Repräsentationsansprüchen und Repräsentationsnachfrage, wenn man so will, zustande kommt.

Man muss das natürlich konkretisieren, wenn man das jetzt messbar machen möchte, zum Beispiel für die europäische Ebene, und da würde ich vorschlagen, dass es zur Beurteilung der Qualität von Repräsentation hilfreich ist, zwischen formaler, deskriptiver und substanzieller Repräsentation zu unterscheiden.

Bei der formalen Repräsentation ist das gemeint, was wir normalerweise damit verbinden: Es gibt ein bestimmtes Verfahren in Demokratien, die eben durch Wahlen zustande kommen, in denen Repräsentation stattfindet. Es kommt also auf eine bestimmte Form der Autorisierung an. Wenn die Wahlen frei, gleich, und was man alles noch für Kriterien anlegt, durchgeführt werden, dann gehen wir davon aus, dass eine Repräsentation, eine sinnvolle Repräsentation stattfindet, und das ist dann auch sehr gut kompatibel und vereinbar mit der Vorstellung des ungebundenen Mandats. Wenn die Autorisierung stattgefunden hat, ist es dann die Aufgabe des Abgeordneten, dem Gemeinwohl zu dienen und das Beste für die Gemeinschaft zu realisieren. Das Schlagwort hierzu lautet „elektorale Demokratie“, das entspricht diesem Modell.

Bei der deskriptiven Repräsentation schaut man vor allem darauf, inwiefern Repräsentierende und diejenigen, die repräsentiert werden, bestimmte Merkmale miteinander teilen, womit dann quasi eine Gewähr dafür gegeben sein soll – zumindest in der Vorstellung –, dass die Interessen auch die gleichen sein werden. Wenn man in der Gesellschaft eine ähnliche Stellung hat, wenn man das gleiche Geschlecht hat oder bei ähnlichen Charakterisierungen eine gute Korrespondenz hergestellt wird zwischen dem Repräsentationsorgan, zum Beispiel dem Parlament, und eben der Gesamtheit der zu Repräsentierenden, dann ist gute Repräsentation gegeben.

Es ist klar, dass das nur eine relativ eingeschränkte Verwirklichungsmöglichkeit hat, denn es bedarf immer einer Feststellung, nämlich was die relevanten Kriterien sind, die in dieses Korrespondenzverhältnis gesetzt werden sollen. Darauf komme ich dann zurück.

Das dritte Konzept, die substanzielle Repräsentation, orientiert sich stärker an den Inhalten und an den Outputs des politischen Prozesses. Das heißt, gute Repräsentation liegt dann vor, wenn die Interessen, die Positionen, die von den Parlamentariern vertreten werden, auch den in der Bevölkerung vorkommenden Prioritäten entsprechen.

Das Rollenverständnis, das sich daraus ergibt, ist eher das eines Treuhänders oder auch eines Delegierten, wo eben diese Person quasi im Namen derjenigen, die repräsentiert werden, auf der politischen Ebene handelt.

Damit komme ich zur These 3, und zwar versuche ich jetzt die Literatur, die es zum Europäischen Parlament gibt, zusammenzufassen und eine kleine Bewertung abzugeben. Daher These 3: Im Hinblick auf die formale und die deskriptive Repräsentation schneidet das Europäische Parlament eigentlich recht gut ab.

Es gibt immer noch Kritik an dieser Form der Autorisierung, also wie die Wahlen stattfinden. Ich möchte zwei Kritikpunkte hervorheben, die, glaube ich, auch heute schon angeklungen sind, nämlich zunächst das fehlende einheitliche Wahlsystem auf europäischer Ebene und zusätzlich dann das Prinzip der degressiven Proportionalität im Europäischen Parlament. Beide Faktoren werden unter dem Prinzip oder der Vorstellung des „one person, one vote“ kritisch gesehen. Ich gehöre allerdings zu denjenigen, die meinen, dass diese Kritik eigentlich verfehlt ist. Man könnte jetzt in die Details gehen. Es gibt, was das Wahlsystem betrifft, einen bestimmten Rahmen, bestimmte Rahmenbedingungen, die erfüllt werden müssen, daneben gibt es aber eine große Palette von Parametern, die jedes Land selbst wählen kann.

Um die Diskussion abzukürzen, würde ich meinen, dass diese Kritik so lange ins Leere läuft, solange es keine – um es plakativ zu sagen – europäische Identität gibt beziehungsweise die europäische Identität nur eine zusätzliche Dimension der nationalen Identität darstellt.

Wenn ich der Überzeugung bin, dass es wichtiger ist, dass zum Beispiel Österreicherinnen und Österreicher durch Parlamentarier vertreten werden, die ebenfalls diesem Staat angehören, dann ist es nur logisch, dass auch diese Grundgesamtheit, nämlich das österreichische Volk und seine Repräsentanten, selbst bestimmt, nach welchen Kriterien sie repräsentiert werden soll.

Im Hinblick auf die deskriptive Repräsentation im Europäischen Parlament wird vor allem ein Faktor immer wieder diskutiert, während andere mögliche Unterscheidungsmerkmale wie sozioökonomischer Status weniger in der Diskussion sind oder auch gar nicht in Frage gestellt werden. Das heißt, man geht davon aus, dass auf der europäischen Ebene kein großer Unterschied zu den Repräsentationsorganen auf der nationalen Ebene besteht. Aber wo es immer wieder diskutiert wird und wo es auch auf der europäischen Ebene eine große Rolle spielt, ist eben auf der einen Seite bei der Repräsentation von Frauen und auf der anderen Seite – und ich würde sogar sagen, dass das das wichtigste Kriterium deskriptiver Repräsentation ist, das auf europäischer Ebene angewandt wird – dort, wo es um die Frage geht, ob die Mitgliedsländer angemessen repräsentiert werden; und das bezieht sich nicht nur auf das Europäische Parlament, sondern auf alle Organe.

Auch hier kann man dem Europäischen Parlament, glaube ich, ein ganz gutes Zeugnis ausstellen, nämlich in der Hinsicht, dass, was die Frauen betrifft, der Anteil der Frauen ebenfalls stetig gewachsen ist und im Durchschnitt über dem Anteil in den nationalen Parlamenten liegt. Im Europäischen Parlament beträgt derzeit der Frauenanteil rund 36 Prozent und im Durchschnitt der nationalen Parlamente 21 Prozent.

Es gibt natürlich sehr große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern, die hier nicht berücksichtigt werden. In den meisten Fällen gilt auf der nationalen Ebene, dass die Frauen schlechter repräsentiert sind als auf der europäischen Ebene, aber es gibt auch umgekehrte Fälle; das deutlichste Beispiel dafür ist Italien.

Jetzt komme ich zur These 4: Im Hinblick auf die substanzielle Repräsentation fallen die Ergebnisse negativer aus, beziehungsweise die Ergebnisse sind sehr ambivalent.

Wenn ich jetzt versuche, ganz grob zusammenzufassen, was die empirische Forschung in dieser Hinsicht erbracht hat, gibt es fünf Punkte, die ich da anmerken kann.

Erstens: Im Hinblick auf die Repräsentation von sozioökonomischen Fragestellungen, die dann meistens in eine bestimmte Links-Rechts-Positionierung transformiert werden, herrscht – das ist für manche erstaunlich, aus anderer Sicht vielleicht weniger erstaunlich – eine relativ große Korrelation zwischen Europaabgeordneten, den europäischen Fraktionen und den Wählerinnen und Wählern.

Im Gegensatz dazu gibt es eine Dimension, wo es eine sehr deutliche Diskrepanz gibt zwischen den Europaparlamentariern und den europäischen Parteien beziehungsweise Fraktionen im Europäischen Parlament und der Haltung bei den WählerInnen, das ist die Dimension der europäischen Integration selbst. Das heißt, es ist eindeutig durch alle Untersuchungen hindurch festgehalten, dass die Europaparlamentarier und die europäischen Parteien in der Regel dem Integrationsprozess positiver gegenüberstehen als ihre Wählerinnen und Wähler.

Man sieht aber durchaus, dass auch hier eine dynamische Entwicklung stattfindet. Die letzten Wahlen haben ja dazu beigetragen, dass – wie immer man sie beurteilen möchte – viel mehr europaskeptische Parteien im Europäischen Parlament vertreten sind.

Da die Zeit knapp ist, würde ich vielleicht nur noch kurz anmerken, dass sowohl im Hinblick auf soziokulturelle Einstellungen als auch im Hinblick auf die Repräsentation bestimmter Gruppen, vor allem der weniger Gebildeten, der weniger Informierten und, wie man so traditionell sagt, der Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellten, eine schlechtere Repräsentation gegeben ist und gewisse strukturelle Defizite im Europäischen Parlament festgestellt werden können.

Damit komme ich zur These 5: Der auf der einen Seite relativ positiven Repräsentationsfunktion, die man im Europäischen Parlament feststellen kann, steht allerdings eine deutlich und systematisch abnehmende Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gegenüber. Das ist durchaus dramatischer – und zwar bedeutend dramatischer – als auf der nationalen Ebene: Im Laufe der Zeit hat sich die Wahlbeteiligung von über 60 Prozent auf knapp über 40 Prozent hinunterbewegt. Aus Repräsentationssicht bedeutet das, dass mehr als 50 Prozent der Bevölkerung auf eine Repräsentation im Europäischen Parlament und durch das Europäische Parlament verzichten.

Wie kann man das erklären? – Es gibt eine Reihe von Faktoren, die da eine Rolle spielen. Ein paar davon sind, glaube ich, wichtig, und die möchte ich kurz ansprechen.

Es ist, glaube ich, Common Sense, dass die Bedeutung des Europäischen Parlaments – auch das wurde heute schon angesprochen – immer noch relativ beschränkt ist, vor allem im Vergleich zur nationalen Ebene. Da habe ich vielleicht einen gewissen Dissens zu dem, was Anton Pelinka gesagt hat: Ich bin nämlich nicht der Meinung, dass das Europäische Parlament oder die europäische Ebene ein parlamentarisches Regierungssystem darstellt, und ich glaube auch nicht – das habe ich herausgehört zumindest aus der Stellungnahme vom Herrn Busek –, dass das das Modell wäre, das für die Europäische Union passend wäre. Auch diesbezüglich bin ich eher skeptisch.

Ein zweiter Faktor, der das erklärt, ist, dass sowohl die Parteien als auch die Öffentlichkeit und die Medien die Wahlen zum Europäischen Parlament als zweitrangig und weniger wichtig betrachten, was, wie ich glaube, insofern nicht sehr verwundert.

Ein dritter Faktor, der in der Debatte bisher weniger berücksichtigt wurde, der aber meiner Meinung nach durchaus wichtig ist, ist, dass das Europäische Parlament im Unterschied zu dem, was Herr Welan für die nationale Ebene festgestellt hat, eben kein wirkliches Repräsentationsmonopol mehr hat. Das heißt, es gibt eine Vielzahl von Repräsentationsansprüchen, die auf der europäischen Ebene institutionalisiert sind.

Wenn Sie die neuen Artikel 10 und 11 des Lissabonner Vertrags lesen, finden Sie darin sogar niedergeschrieben, dass der Ministerrat und der Europäische Rat den Anspruch erheben, nicht nur die Staaten zu repräsentieren, sondern auch die nationalen Völker.

Daneben gibt es eine Reihe von wachsenden Gruppen, von Interessengruppen, die auf europäischer Ebene aktiv werden und die man unter dem Begriff der „Funktionalen Repräsentation“ zusammenfasst und die eine immer bedeutendere Rolle auch im politischen Geschehen spielen.

Wenn man sich allerdings ansieht, wie sich das auswirkt – das heißt, kann man wirklich sagen, dass, je mehr Repräsentationskanäle, je mehr Wege es gibt, durch die Bürgerinnen und Bürger repräsentiert werden, sich dadurch die Gesamtrepräsentation des europäischen Volkes auf europäischer Ebene verbessert? –, wenn man sich also die Ergebnisse im Hinblick auf die Auswirkungen, auf die Kontrolle des administrativen Handelns auf EU-Ebene oder auch im Hinblick auf den Anspruch, dass dadurch eher politische Gleichheit erreicht wird, ansieht, ist das Ergebnis der meisten Untersuchungen eher negativ.

Ich darf noch die letzte These bringen, die jetzt vielleicht etwas provokanter ist oder auch zur Diskussion anregen soll, nämlich: Die Verbesserung der Repräsentationsqualität in der EU hängt meiner Meinung nach von drei Faktoren ab. Erstens von der Qualität der Repräsentationsangebote, zweitens von der Qualität des Repräsentationsdiskurses und drittens von der Qualität der Rückkoppelungsmechanismen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Das alles kann man nur verstehen mit dem als Hintergrund, was ich vorhin angesprochen habe, nämlich dass Repräsentation eine Art Kommunikation ist, dass man sie sich als Kommunikation zwischen Repräsentierten und Repräsentanten vorstellen muss.

Um kurz Beispiele dafür zu bringen, was ich damit meine:

Mit Repräsentationsangeboten meine ich, dass es ein gewisses Defizit im Wahlkampf und auch in der parteipolitischen Programmatik insofern gibt, als dass die europäische Ebene vielfach überhaupt weitgehend ausgeschlossen wird. Es ist ja auch eine bekannte Kritik an den Wahlen zum Europäischen Parlament, dass dabei hauptsächlich nationale Themen im Vordergrund stehen. Das hat sich zwar im Laufe der Zeit etwas verändert, aber es ist wenn, dann nur in die Richtung gegangen – wie man, glaube ich, auch bei den letzten Wahlen gesehen hat –, dass vor allem die pauschale Befürwortung oder Ablehnung der europäischen Integration quasi politisiert worden ist. Was aber meiner Meinung nach nach wie vor fehlt, ist, dass über spezifischere politische Projekte im Vorfeld von Wahlen diskutiert wird und dass die Bürgerinnen und Bürger dann wirklich das Gefühl haben können, sie können durch ihre Wahlentscheidung die Richtung, in die sich die europäische Politik bewegen soll, mitbestimmen.

Zur zweiten Dimension, der Qualität des Repräsentationsdiskurses: Da geht es vor allem um die Rechtfertigung dessen, was europäische Parlamentarier, europäische Parteien gegenüber ihrer nationalen Wählerschaft tun. Da, glaube ich, bedarf es mehr Visibilität, also Sichtbarkeit, mehr Präsenz auch der europäischen Abgeordneten in der nationalen Öffentlichkeit. Das setzt natürlich auch mehr Information und Transparenz voraus.

Damit zum letzten Punkt, also diesem Rückkoppelungsmechanismus: Lässt sich da etwas verbessern? – Ich denke, da muss man kreativ sein und Ideen entwickeln, wie man die Partizipations- und Wahlmöglichkeiten für potenzielle Wählerinnen und Wähler erhöhen könnte, um so auch die Responsivität der Repräsentanten mittelfristig zu verbessern und dadurch vor allem den doch um sich greifenden Ohnmachtsgefühlen von vielen Gruppen der Bevölkerung entgegenzuwirken. – Danke. (Beifall.)

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Mag. Barbara Blümel: Ich bedanke mich ganz herzlich.

Die Texte von Wilhelm Czerny, die ich gelesen habe, sind immer sehr dicht geschrieben, man kann quasi nichts „löschen“. Man kann daher die Quintessenz nur ganz schwer zusammenfassen, weil fast jede Zeile und jedes Wort wichtig ist. Das war jetzt bei den Vorträgen hier auch so, deswegen verzeihen Sie, dass wir im Zeitplan ein bisschen hintennach sind, aber ich glaube, die Beiträge waren sehr wichtig.

Damit freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir nach der nun folgenden kurzen Pause noch zwei weitere Podien zu wichtigen Themen vor uns haben.

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(Das Symposium wird um 16.47 Uhr unterbrochen und um 17.09 Uhr wieder aufgenommen.)

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Panel III: Parlamentarismus

Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn-Novák: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir setzen im Programm des Symposiums fort und konzentrieren uns nun ganz auf das Thema „Parlamentarismus“.

Wilhelm Czerny hat sich naturgemäß auf Grund seiner Tätigkeit sehr, sehr intensiv mit den Funktionen und der Arbeitsweise der Abgeordneten, aber natürlich auch mit dem klassischen Element des Parlaments, nämlich der Rede und der Gegenrede, auseinandergesetzt. Ich habe in der schon heute mehrmals zitierten Ausgabe der Beiträge von Wilhelm Czerny, von Mag. Riether und Dr. Schefbeck herausgegeben, eine Stelle gefunden, von der ich meine, dass sie dieses Panel sehr gut einleitet und die Referate der drei am Podium vertretenen ReferentInnen sehr gut in einer Klammer zusammenfasst.

Und zwar meint Wilhelm Czerny zum Thema „Parlament im Parteienstaat“:

„Die Ablöse der repräsentativen Demokratie durch die parteistaatliche Demokratie der Gegenwart hat zur Folge, dass das Parlament seine frühere und auch immer wieder hervorgehobene Unabhängigkeit verliert, weil es zu einer Stätte wird, in der einander sozusagen ‚Parteibeauftragte‘ treffen.“

Weiters führt Czerny aus:

„An die Stelle der klassischen Gewaltenteilung ist aber eine völlig andere getreten, nämlich die zwischen der regierenden Mehrheit und der kontrollierenden Opposition im Parlament. Dadurch haben aber auch die parlamentarischen Debatten einen völlig anderen Charakter angenommen: Die Diskussionen in den öffentlichen Parlamentssitzungen haben kaum noch den Zweck, daß die Abgeordneten einander durch Argumente noch im letzten Moment zu überzeugen versuchen; vielmehr geht es um die Gegenüberstellung der von der Regierungsmehrheit beschlossenen Lösungen mit den von der Opposition vertretenen Alternativen, damit sich die Öffentlichkeit ein Bild von den politischen Zielsetzungen der Fraktionen beziehungsweise Parteien machen kann.“

Frau Dr. Marion Löffler vom Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien hat sich ganz intensiv mit der politischen Streitkultur im Plenum des Nationalrates auseinandergesetzt, und ich ersuche sie jetzt um ihre Analyse zu diesem Thema.

„Politische Kultur/Streitkultur im Nationalratsplenum der Zweiten Republik“

Dr. Marion Löffler: Danke für die Einleitung und auch für die Einladung, hier sprechen zu dürfen.

Ausgehen möchte ich grundsätzlich von dem Dilemma, das vorhin in der Repräsentation schon angesprochen wurde, dass im parlamentarischen Plenum einerseits der Konflikt, der Dissens, der Streit dargestellt werden soll, andererseits eben auch der Konsens, also der Beschluss, der Kompromiss, ebenfalls demonstriert werden soll. Die Frage, die sich mir nun stellt, ist, ob es eine demokratische Rede- und Streitkultur im Plenum geben kann, die diesen grundsätzlichen Konflikt zumindest etwas entschärfen kann.

Beginnen möchte ich mit einer Beobachtung betreffend das schlechte Image der Parlamentarier und Parlamentarierinnen in Österreich.

Einer Umfrage aus dem Jahr 2012 zufolge hat nur ein Drittel der Bevölkerung ein positives Bild von der Arbeit des Nationalrates. Demgegenüber haben 53 Prozent der Befragten einen eher schlechten oder ganz schlechten Eindruck. Wohlgemerkt, gefragt wurde nach der Zufriedenheit mit der Arbeit des Nationalrates als Ganzem, nicht nach der Performance im Plenum. So gesehen entspricht die Einschätzung der Befragten wohl kaum der Realität, denn betrachten wir die Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich in der Zweiten Republik, so können wir drei große Phasen unterscheiden.

Erstens: die Phase der Konzentrationsregierung und der großen Koalition von 1945 bis 1966. Da gab es keine oder eine sehr schwache Opposition. Der Konsens zwischen den Lagern wurde wörtlich als Garant für politische Stabilität betrachtet, und die parlamentarische Tätigkeit wird in der Forschung als „Legitimationsparlamentarismus“ qualifiziert.

Zweitens: die Phase der Alleinregierungen und der kleinen Koalition von 1966 bis 1986. Da gab es eine starke Opposition, dennoch blieb der Konsens ein hoher politischer Wert, der nunmehr vorrangig in sozialpartnerschaftlichen Gremien verhandelt wurde. Auf Grund der starken Opposition stieg aber die parlamentarische Aktivität. In der Forschung spricht man hier von einem „Kontrollparlament“.

Drittens: die Phase der wechselnden Koalitionen. Vor allem haben wir seither aber auch eine Pluralisierung der Parteienlandschaft. Das heißt, wir haben eine starke, aber auch eine in sich stark fraktionierte Opposition. Es gibt eine sinkende Tendenz bei einstimmigen Beschlüssen, und zugleich gewinnt das Parlament aber an Bedeutung, es wird zu einem Arbeitsparlament.

Der heutige Nationalrat ist also ein Arbeitsparlament, trotz EU-Beitritt und entgegen der politikwissenschaftlichen Diagnose eines Bedeutungsverlustes nationaler Parlamente. Die Tatsache, dass im Nationalrat gearbeitet wird, ändert aber scheinbar nichts an der Einschätzung der Befragten in der genannte Studie. Kein Wunder, denn gearbeitet wird nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen, also unsichtbar hinter den Kulissen.

Sichtbar sind nur Plenarsitzungen, die im Fernsehen übertragen werden oder via Streaming verfolgt werden können. Da sieht es ganz selten nach Arbeit aus, und es bedarf keiner rosa Luftmatratzen, um den Eindruck von Untätigkeit zu erzeugen. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen der parlamentarischen Arbeit und dem, was öffentlich sichtbar ist.

Der Linguist und Parlamentarismusforscher Armin Burkhardt sieht darin das Ergebnis eines historischen Prozesses der Entwertung des Plenums. War einst im sogenannten Diskussionsparlament – Burkhardt meint damit die Frankfurter Paulskirche; also sehr einst – das Plenum der zentrale Ort politischer Entscheidungsfindung, so wird das Plenum zunehmend zur Bühne, auf der Politik nicht stattfindet, sondern lediglich inszeniert wird. Burkhardt nennt dies „Schaufensterparlament“. Der Hauptgrund für diese Entwertung sind die Medien, die es den Abgeordneten ermöglichen, eine große Zahl ihrer potenziellen Wähler und Wählerinnen anzusprechen.

Man kann natürlich auch fragen, ob ein Diskussionsparlament überhaupt möglich und sinnvoll ist, also ob 183 Abgeordnete miteinander diskutieren und zu einer Entscheidung kommen können, ob alle in jeder Materie gleich spezialisiert sind und somit zu jedem Thema etwas Sinnvolles beitragen können, und schließlich, ob es nicht an der Realität der Parteiendemokratie vorbeigeht, so zu tun, als ob die Abgeordneten ein freies Mandat hätten. Wie auch immer.

Historisch setzte diese Entwicklung laut Burkhardt bereits mit der Zeitungsberichterstattung ein, und zwar in der Weimarer Republik oder gar davor. Für die Erste Republik in Österreich ist mir keine vergleichbare Studie bekannt. Aber dennoch würde ich behaupten, dass die Zeitungsberichterstattung zu der Zeit noch wenig Einfluss auf das Geschehen im Plenum hatte. Radio und Fernsehen hingegen stellen andere Anforderungen an politische Reden, zumal möglichst kurze, prägnante Sätze mit Nachrichtenwert bevorzugt werden. Mediale Aufmerksamkeit wird zu einer knappen Ressource, um die Politiker und Politikerinnen mit ihren Redebeiträgen und gewitzten Pointen konkurrieren. Das wirkt sicher auch auf die Debattenkultur im Plenum.

Aber wovon sprechen wir, was ist denn überhaupt eine Plenumsdebatte?

In der einschlägigen Forschung wird zunächst auf den hohen Regelungs- und Ritualisierungsgrad hingewiesen. So ist die Abfolge der Redebeiträge in der Tagesordnung fixiert. Die Nationalratspräsidentin hat eine moderierende Rolle, sie kann Ordnungsrufe erteilen, es gibt begrenzte Redezeiten und so weiter.

Das Hauptmoment der Plenumsdebatte sind die einzelnen Reden, womit wir eine vorrangig monologische Form der Kommunikation haben. Zugleich gibt es dialogische Elemente: Die anwesenden Abgeordneten reagieren mitunter auf die Reden, etwa durch Applaus oder Unmutsäußerungen, durch Repliken in ihren eigenen Reden, durch Zwischenrufe oder tatsächliche Berichtigungen. Aber vieles, was im Plenum gesagt wird, wird sozusagen zum Fenster hinaus gesprochen, ist also an die über die Medien präsente Öffentlichkeit gerichtet. Der Sprachwissenschaftler Walther Dieckmann bezeichnet daher die Plenumsdebatte als „trialogische Kommunikation“.

Zudem werden Doppelbotschaften an die verschiedenen Adressaten und Adressatinnen übermittelt. Dadurch ergeben sich recht widersprüchliche Anforderungen an Redebeiträge im Plenum: Zum einen sollen sachliche Argumente vorgebracht werden, die die eigene Meinung oder die Parteilinie repräsentieren, zum anderen sollen Gegenargumente entkräftet werden, und beides zusammen bildet zumindest potenziell ein Versatzstück im permanenten Wahlkampf. Daher geraten Wortmeldungen mitunter zu Attacken gegen die politischen Gegner und Gegnerinnen, was manchmal zu unschönen Szenen führt.

Diese Problematik ist freilich nicht neu. In Reaktion auf eine Umfrage aus dem Jahr 1998, in der die Diskussionskultur im Nationalrat kritisiert wurde, meinte der damalige Nationalratspräsident Heinz Fischer, „das Erscheinungsbild des Nationalrates können nur alle 183 Abgeordneten gemeinsam verbessern“.

In dieser Umfrage bemängelten 80 Prozent der Befragten die Streitereien und das Hickhack im Plenum. 85 Prozent wünschten sich aber schon, dass Interessenkonflikte offen ausgetragen werden.

Fischers Vorschlag war, „man sollte sich zwar eindeutig positionieren, aber die Debatte fair und ehrlich führen“. Mehr als zehn Jahre später, in einem Interview aus dem Jahr 2009, stellte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer fest: Das Bild, das wir vermitteln, ist ungünstig. Die Wähler empfinden den Verlauf der Sitzung oft als unangenehm. Den Menschen sind generell ruhige, gesittete Diskussionen am liebsten. Das merke ich anhand der Anrufe und Mails, die wir während der Plenarsitzungen erhalten.

Selbst wenn wir annehmen, dass Plenumsdebatten mehr oder minder sachlich abgeführte Diskussionen darstellen, kann ein solches Harmoniebedürfnis kaum befriedigt werden.

Der US-amerikanische Sprachwissenschafter George Lakoff hat darauf hingewiesen, dass wir quasi in Metaphern leben. In unserer metaphorischen Vorstellungswelt ist Diskussion Kampf, auch dann, wenn sachlich und rational argumentiert wird. Wenn wir diskutieren, attackieren wir. Wir kontern und wir holen zum Gegenschlag aus.

Das gilt allgemein für Diskussionen, für die politische Kommunikation aber ganz besonders. Denn selbst sachliche Argumente transportieren eine Doppelbotschaft: Ich vertrete beziehungsweise meine Fraktion vertritt diesen Standpunkt, und ich bin beziehungsweise meine Partei ist sachlich kompetent in dieser Frage. Das heißt kompetenter als die anderen.

Es geht also immer auch darum, das eigene Image zu wahren und zu verbessern. Zugleich kommen in Plenarreden Abwertungsstrategien zum Einsatz, mit denen gegnerische Positionen angegriffen werden mit dem Ziel, dem Gegner oder der Gegnerin einen Imageschaden zuzufügen. Solche Strategien verletzen zwangsläufig die Regel der Kooperativität, die ihrerseits Voraussetzung ist für konstruktive Kommunikation.

Kooperativ sein heißt einander verstehen wollen, einander guten Willen unterstellen, einander ernst nehmen und ein für beide Seiten positives Ziel erarbeiten wollen. Es ist anzunehmen, dass zumindest Ansätze eines derartigen kooperativen Handelns in der Ausschussarbeit des Nationalrates tatsächlich zum Tragen kommen. Im Plenum ist davon wenig zu merken.

Maria Stopfner, die eine linguistische Analyse der Streitkultur im österreichischen Nationalrat vorgelegt hat, verweist auf diese Kluft: Debatten im Nationalrat stellen die Inszenierung idealtypischer Diskussion dar, indem sie die Vorstellung transportieren, der politische Dissens könnte über themenzentrierte Argumente gelöst werden. Sie bemerkt jedoch auch einen groben Regiefehler in diesem politischen Schaustück, denn inszeniert wird weniger sachliche parlamentarische Diskussion als vielmehr ein von gegenseitigem Misstrauen getragener Beziehungsstreit.

Tatsächlich sind es sogenannte Beziehungskonflikte, die wohl zu einem großen Teil das Unbehagen an Plenardebatten ausmachen. Als Beziehungskonflikte bezeichnet man solche Debattenbeiträge, in denen die Streitenden das Thema hinter sich lassen und sich stattdessen persönlich attackieren, verteidigen und rechtfertigen, auch berechtigte Vorwürfe abstreiten und an den Angreifenden zurückgeben.

Beziehungskonflikte sind also nichts anderes als Abwehrstrategien und verbale Kampfhandlungen. Ergänzt werden sie durch den beliebten Aktionismus und verbale Entgleisungen, die einen Ordnungsruf zur Folge haben.

„Rohes Haus“ titelte das „profil“ in der Ausgabe vom 16. Juni. – Zitat: „Mitunter gleicht das Zentrum der repräsentativen Demokratie dem Spielzimmer in einer alternativ geführten Volksschule.“

Die Journalistin Rosemarie Schwaiger spricht auch von „Zirkusatmosphäre“.

Man könnte nun meinen, diese Inszenierungen seien dem Kampf um mediale Aufmerksamkeit geschuldet nach dem Motto: Politik in der Unterhaltungsgesellschaft muss Politainment sein. Dagegen sprechen freilich die langjährige Praxis sowie die formalen Regeln des Nationalrates. Nicht zufällig enthalten Kommentare zum Geschäftsordnungsgesetz seit der Pionierarbeit von Czerny und Fischer aus dem Jahr 1968 meist auch einen Hinweis auf die gröbsten Verbalinjurien, die einen Ordnungsruf verdienen.

„Wenn jemand, der zur Teilnahme an den Verhandlungen des Nationalrates berechtigt ist, den Anstand oder die Würde des Nationalrates verletzt, beleidigende Äußerungen gebraucht oder Anordnungen des Präsidenten nicht Folge leistet, spricht der Präsident die Missbilligung darüber durch den Ruf ,zur Ordnung‘ aus.“ – Das steht im § 102 der Geschäftsordnung.

Warum gibt es diesen und ähnliche Paragraphen schon in der Geschäftsordnung, auch in den alten Geschäftsordnungen, und zwar schon lange bevor von Politainment die Rede war? – Ich gehe davon aus, weil es eben in der Hitze des Gefechts zu Entgleisungen kommt oder das zumindest erwartet werden kann.

Tatsächlich werden sie aber auch von den Bürgern und Bürgerinnen erwartet. Hier ist ja überhaupt nichts los!, sollen Teilnehmer und Teilnehmerinnen an Parlamentsführungen enttäuscht festgestellt haben, als im Plenum eine ganz ruhige, sachliche Debatte lief. Es gibt also durchaus auch Bürger und Bürgerinnen, die sich nicht unbedingt eine ruhige und gesittete Diskussion erwarten, sondern eine durchaus lebendige Debatte, in der die unterschiedlichen Positionen nicht nur rational argumentiert, sondern auch emotional spürbar werden.

In meiner Vorstellung entspricht eine demokratische Rede- und Streitkultur dieser Idee einer lebendigen Debatte. Eine lebendige Debatte im Plenum ist sicher interessanter als eine scheinbar sachlich abgeführte Aneinanderreihung von Reden pro und kontra. Eine lebendige Debatte legt auch offen, dass es die vorgebliche Sachlichkeit nicht geben kann. Sie ist aber dennoch um gute und überzeugende Argumente bemüht. Eine lebendige Debatte kann mitunter humorvoll sein, ohne deshalb zum Kasperltheater zu werden. Eine lebendige Debatte muss Streit und Konflikt zulassen, braucht aber klare Grenzen des Zumutbaren.

Es kann aber nicht Aufgabe der Wissenschaft sein, zu klären, wo diese Grenzen liegen sollen. Denn demokratisch ist eine Streitkultur nur dann, wenn die Grenzen des Zumutbaren im demokratischen Widerstreit verhandelt und auch praktiziert werden. – Danke. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn-Novák: Frau Dr. Löffler, herzlichen Dank für Ihre überaus komplexe Darstellung der Debatte, einerseits der Mechanismen, die in einer Diskussion wirksam werden, aber vor allem natürlich auch der Wirkung nach außen.

Ich denke, es passt jetzt ganz ausgezeichnet, dass der ehemalige Zweite Präsident des Nationalrates, Klubobmann der Österreichischen Volkspartei und langjähriger Abgeordneter, nämlich mit Unterbrechung vom Jahr 1975 bis zum Jahr 1999, uns vielleicht eine Antwort darauf geben kann, ob ein Abgeordneter überhaupt in der Lage ist, diese hohen Anforderungen, die hier jetzt formuliert worden sind, zu erfüllen.

„Parlamentarismus aus Sicht des Mandatars“

Universitätsprofessor Dr. Heinrich Neisser: Das ist eine gefährliche Frage, und die Antwort ist vielleicht noch gefährlicher. Aber ich bedanke mich bei Frau Kollegin Löffler, denn sie hat doch einige Perspektiven dargestellt. Ich möchte versuchen, Sie auch ein bisschen, da Sie mich jetzt schon mit meiner parlamentarischen Vergangenheit apostrophiert haben, mit der Praxis des Parlaments zu konfrontieren.

Meine Damen und Herren! Die erste Frage, die ich stellen muss, ist: Welches Gefühl und welches Erlebnis hat ein Abgeordneter, der erstmals in dieses Haus gewählt wird?

Er betritt damit völliges Neuland, wenn er zum ersten Mal gewählt ist. Ich meine nicht die Wiedergewählten, sondern wenn er zum ersten Mal gewählt ist. Er betritt völliges Neuland, er kommt in ein System der Kooperation, in ein Entscheidungssystem, für das er sozusagen sozialisiert wird. Es findet für jeden Abgeordneten eine Art Sozialisierungsprozess statt.

Ich möchte vorweg sagen, das gilt, glaube ich, für beide Kammern des Bundes, für den Nationalrat und den Bundesrat. Für den Bundesrat fehlt mir die praktische Erfahrung, da habe ich zu wenig praktische Beispiele, aber ich überlasse es Ihnen zu sehen, wo es eine Parallelität gibt und wo Unterschiede sind.

Man kann natürlich auch die Frage für den Länderparlamentarismus stellen. Da müsste man überhaupt mit völlig anderen Zugangsbedingungen darangehen.

Also: Wie kommen Sie als Abgeordneter ins Parlament? – Normalerweise haben Sie auch keinen besonderen Bezug zu irgendeinem Fach, das Sie hier in diesem Haus vertreten. Es sei denn, Sie haben einen freien Beruf. Wenn Sie Arzt sind, werden Sie wahrscheinlich Gesundheitssprecher, und wenn Sie Anwalt sind, kommen Sie in den Justizausschuss. Hier gibt es keine fixen Regeln. In dem Augenblick, in dem Sie ins Parlament kommen, begeben Sie sich unter eine Schutzmacht. Das ist die Schutzmacht der Fraktion. Der Klub übernimmt so quasi alles für Sie. Er bestimmt Ihre Existenz. Er bestimmt Ihren parlamentarischen Ablauf. Er bestimmt, in welchen Ausschuss Sie kommen. Er bestimmt dann im Verlaufe des Geschehens natürlich, wann Sie reden können, wie die Rednerlisten ausschauen – mit ganz kuriosen Dingen. Das müsste die Wissenschaft auch einmal näher analysieren. Es gibt jetzt – verzeihen Sie, das ist keine pressefeindliche Äußerung – Gott sei Dank die „Wochenpresse“ nicht mehr. Warum sage ich das? – Die „Wochenpresse“ hat seit Jahren die Gewohnheit gehabt, am Ende einer Session quasi ein Ranking der Redner zu veröffentlichen. Und diejenigen, die am Schluss gestanden sind, weil sie in einem Jahr einmal, wenn es gut ging, zwei Mal geredet haben, das waren so quasi die Outlaws. Die haben dann um jeden Preis um ihre Ehre gekämpft, und die mussten reden, ob sie konnten oder nicht, ob sie was zu sagen hatten oder nicht. Die mussten reden, weil es dieses Ranking gab. Gott sei Dank gibt es das nicht mehr! Denn dieses Ranking, die Anzahl der gehaltenen Reden als Maßstab oder Indikator für die rhetorische und parlamentarische Qualität eines Abgeordneten heranzuziehen, halte ich für völlig verfehlt.

Sie kommen als Abgeordneter in eine neue Welt. Sie müssen innerhalb des Klubs kommunizieren, Sie müssen innerhalb des Parlaments kommunizieren, Sie müssen aber auch – das wurde bereits angedeutet – Ihre Kommunikation nach außen hin organisieren.

Die Abgeordneten reagieren im Allgemeinen – das war meine Erfahrung, und ich wage fast zu sagen, es hat sich bis heute nicht viel geändert – relativ ergeben auf die Situation. Sie sind ganz folgsam, sie lassen sich für den parlamentarischen Betrieb einteilen und akzeptieren auch – was ja nicht unproblematisch ist –, dass sie die vorgegebene Linie einer Fraktion dann im Parlament umsetzen. Ich brauche Ihnen jetzt die Problematik des freien Mandates nicht näher zu erläutern. Theoretisch ist es sehr einfach, in der Praxis aber ist das ein unglaublicher Prozess der persönlichen Herausforderung für den einzelnen Abgeordneten.

Ist es überhaupt möglich, meine eigene Meinung, meinen Standpunkt unterzubringen in einer Fraktion, die im Regelfall ident ist mit einer politischen Partei, wo die Inhalte vorgegeben sind durch das Parteiprogramm, durch Parteibeschlüsse und so weiter? Habe ich überhaupt die Möglichkeit, hier noch Individualität zu zeigen? Der individuelle Abgeordnete, der immer als Wunschbild angesprochen wird, ist der überhaupt möglich? – Das ist ein sehr, sehr schwieriger Kampf. Und ich kann Ihnen sagen, der Großteil der Abgeordneten resigniert eigentlich oder versucht es gar nicht. Nur ganz wenige versuchen, hier ein bisschen ein Profil zu gewinnen.

Zwar können Sie das freie Mandat telquel nicht realisieren, das geht nicht, aber Sie haben die Möglichkeit, innerhalb einer Fraktion den innerfraktionellen Diskurs zu beleben, zu verstärken, der, glaube ich, Voraussetzung ist, dass man dann letzten Endes im Plenum auch einer gemeinsamen Linie folgen kann, der gegenüber man durchaus kritisch sein kann. Das heißt, ich glaube, es braucht den Abgeordneten, der immer auch im Hinterkopf den Gedanken trägt: Ist das jetzt richtig? Soll ich das ohne Widerspruch tun, oder soll ich dazu etwas sagen?

Der zweite Gesichtspunkt, den ich hier betonen möchte: Ich plädiere, auch das wird vielleicht missverstanden, für den sachkundigen Abgeordneten oder, wie man so schön sagt, für den kompetenten Abgeordneten.

Was meine ich damit, meine Damen und Herren? Sie sind in einem Parlament natürlich mit einer solchen Komplexität von Inhalten konfrontiert, dass es nicht möglich ist, dass Sie alles wissen. Michael Graff, der frühere Generalsekretär der ÖVP, hat einmal harte Schelte bekommen, weil er selbst gestanden hat, dass er einen Großteil der Gesetze nicht liest. Das ist völlig klar.

Auf der anderen Seite aber warne ich vor jeder Resignation, die darin besteht, dass der Abgeordnete das tut, was ihm von der politischen Seite aufgetragen wird, im Vertrauen, dass der Experte ohnehin weiß, was im Zweifelsfall das Richtige ist.

Ich kann Ihnen sagen, trotz eines perfekten Dialogs mit der Expertokratie in unseren Ausschüssen, vor allem mit den Auskunftspersonen, ist es absolut notwendig, dass Sie zumindest den Prozess rational nachvollziehen können, dass Sie ungefähr wissen, was Sie mit dieser Entscheidung bewirken, wie Sie diese Entscheidung auch in einen gesellschaftlichen Konnex einbinden sollen. Das heißt nicht, dass Sie überall Spezialist sind.

Ich glaube, dass es darüber hinaus den Fraktionen gut täte, wenn sie versuchten, ganz bestimmte Spezialisten herauszubilden. Da gibt es im Rahmen des Parlaments Kommunikationsformen, die sehr wesentlich sind. Für mich in meiner Praxis war das Wesentlichste die Existenz von Unterausschüssen und die Diskussionen in Unterausschüssen. Das ist eine Möglichkeit, damit Sie als Abgeordneter unglaublich viele Incentives bekommen können, dass Sie wirklich in einen Dialog mit den Experten treten können.

Ich bin jahrelang geprägt gewesen durch ein Erfolgserlebnis: Wir haben Anfang der achtziger Jahre das neue Mediengesetz in einem Unterausschuss verhandelt. Der Entwurf, der vom damaligen Justizminister Broda vorgelegt worden war, ist im Unterausschuss behandelt worden. Wir haben zwei Jahre lang verhandelt. Das war eine der fruchtbarsten, anregendsten und bewegendsten Diskussionen, die es gegeben hat. Die Abgeordneten haben mit allen diskutiert, mit dem Zeitungsherausgeberverband, mit dem ORF und was es sonst noch in der Medienlandschaft gegeben hat.

Aber die Abgeordneten müssen sich dann natürlich auch dort einbringen. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Der Abgeordnete soll sich nicht bemühen, dass er gescheiter ist als der Experte. Das darf er gar nicht sein, und das wird er auch nicht sein. Aber er muss zumindest die Möglichkeit haben, sich einer Materie mit Hirn, aber auch mit Sensibilität zu nähern. Das halte ich für ganz wichtig, damit das Parlament nicht zu einer Abstimmungsmaschinerie verkommt.

Dritter Gesichtspunkt, den ich anführen möchte, trotz aller gutmeinenden Ausbildungen: Ich habe auch, wie ich im Jahr 1975 ins Parlament gekommen bin, diese berühmten Medien- und TV-Lehrgänge auf der Politischen Akademie absolvieren müssen. Das ist sehr schön, wenn man lernt, dass man sich vor der Fernsehkamera nicht schnäuzt und nicht in der Nase bohrt und durch die Haare fährt. Aber lassen Sie sich dadurch nicht Ihre Authentizität nehmen! Es ist ganz wesentlich für die Glaubwürdigkeit, die auch nach außen hin übertragen wird: Ein Teil Ihrer Persönlichkeit muss rüberkommen. Ich habe die Diskussionen in diesem Haus, in denen die Bauern aufgestanden sind und in einer eher groben Art manchmal diskutiert haben, unglaublich geschätzt. Und Sie müssen auch Gefühle zeigen können!

Ich erinnere mich noch an eine Begebenheit, das war noch lange bevor ich ins Parlament gekommen bin. Damals war ich, es erinnert sich niemand daran, Staatssekretär beim Josef Klaus, und ich saß bei der ersten Südtirol-Debatte 1969, wo es um den Operationskalender gegangen ist, auf der Regierungsbank. Da hat ein Osttiroler Abgeordneter im Laufe seiner Rede geweint. Das war für mich keine Peinlichkeit. Das war ein berührender Moment. Was jetzt nicht heißt, dass 183 Abgeordnete im Plenum zu plärren beginnen sollen. Die Gefahr besteht ohnehin nicht. Aber zur Authentizität gehört natürlich auch ein Teil der Emotionalität. Das muss natürlich seriös sein, aber das kann auch manchmal zum Kasperltheater degenerieren. Hier muss ich Ihnen auch ein Beispiel bringen, wenn ich schon von der Praxis reden soll.

Ich glaube, es kann sich hier im Saal gar niemand mehr daran erinnern. Wir haben eine lange Diskussion gehabt, ob der ORF und wie er übertragen kann, ob er selektiv vorgehen soll oder ob er alles übertragen kann. Und da gab es eine Phase Anfang der 60er-Jahre, in der man auf die Idee gekommen ist, eine rote Lampe am Rednerpult aufzustellen: Wenn die rote Lampe aufgeleuchtet hat, wusste man, jetzt wird aufgenommen und übertragen, und wenn sie finster war, wurde nicht aufgenommen.

Sie können sich nicht die Persönlichkeitsveränderungen bei den Abgeordneten vorstellen, die völlig normal dort gestanden sind, gefällig, sympathisch, rational argumentiert haben – und in dem Augenblick, wo das rote Licht geleuchtet hat, sind aus ihnen Giganten geworden, aber Giganten der Emotion. Also da gab es dann eine komplette Persönlichkeitsveränderung. (Heiterkeit.) Heute laufen die Diskussionen ja etwas anders ab.

Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, das habe ich zufällig gefunden. Ich habe mich auf die heutige Veranstaltung eigentlich nicht vorbereitet, aber ich krame manchmal in meinem Archiv. Ich habe ein Privatarchiv über das österreichische Parlament. Und da habe ich ein paar Dokumente gefunden, die ganz interessant sind. In der Legislaturperiode zwischen 1995 und 1999 – Frau Dr. Janistyn, ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern können – gab es eine Initiative junger Abgeordneter. Da haben sich junge Abgeordnete aus allen Fraktionen – die FPÖ hat da nicht mitgetan, ich weiß nicht einmal aus welchen Gründen – zusammengetan und haben quasi für eine Reform der Parlamentsarbeit plädiert. Sie haben interessanterweise selbst von sich aus angesetzt und eine Ausweitung des Petitionsrechtes und der Behandlung der Petitionen verlangt. Das ist ein lebhafter Dialog gewesen. Das ist übrigens eine ganz interessante Perspektive, die auch für die Zukunft nicht unwesentlich ist.

Es wird ja jetzt in der Enquete-Kommission die Diskussion über die Instrumente der direkten Demokratie stattfinden, aber es gibt Entwürfe, wo erstmals vorgesehen werden soll, dass die Vertreter des Volksbegehrens nicht nur im Ausschuss, sondern im Plenum ein Rederecht haben. Ich weiß nicht, ob das Parlament sich dazu entschließen wird. Aber das ist interessant, da kommt es zu einem direkten Dialog zwischen den Abgeordneten und dem Volk – das ist so ein Mittelding von Repräsentationsprinzip und direkter Demokratie.

Ein letzter Gesichtspunkt, den ich noch sagen möchte – Kollege Melchior hat es mit Recht mehrfach angesprochen, und ich stimme seinen Analysen voll und ganz zu –, ist die europäische Frage. Sie dürfen nicht vergessen, die nationalen Parlamente haben im Laufe der Zeit eine Rolle bekommen oder sollten eine Rolle wahrnehmen, die für sie und für uns ganz wichtig ist. Der Vertrag von Lissabon sagt im Artikel 12: Die nationalen Parlamente wirken aktiv am europäischen Integrationsprozess mit.

Es ist eigentlich noch gar nicht darüber nachgedacht worden, was das heißt. Man sagt immer nur, das ist die Subsidiaritätsklage und das ist die Subsidiaritätsrüge – also diese Wächterrolle, die ihnen zugeordnet wird. In Wirklichkeit ist es viel mehr, nämlich dass die Europäisierung eines nationalen Parlaments bedeutet, dass Europa ein zentrales Thema wird. Das halte ich für ganz, ganz wichtig.

Ich möchte jetzt nicht wieder in das Lamento einstimmen, aber die Diskussion im österreichischen Nationalrat, ob Europaparlamentarier mitreden dürfen oder nicht, war eine eher befremdliche Geschichte. In anderen Ländern geht man an diese Sache etwas lockerer und selbstverständlicher heran.

Mein Wiener Kollege Wolfgang Müller hat – es ist, glaube ich, schon 15 Jahre her – diese große Monographie über die Abgeordneten des Nationalrates geschrieben. Dabei hat er auch versucht, die Kompetenzen ein bissel zu quantifizieren, und ist dabei zum Schluss gekommen, es gibt höchstens 15 Prozent Abgeordnete im Nationalrat, die überhaupt in der Lage sind, über Europa ein Gespräch zu führen. Ich hoffe, das hat sich gebessert, ich weiß es nicht, aber ich glaube, das ist eine ganz, ganz wesentliche Aufgabe, die man vor allem denjenigen, die in Zukunft ins Parlament kommen, klarmachen muss. Das ist eine ganz neue, sehr wichtige Dimension.

Die paar Gedanken, die ich Ihnen hier geäußert habe, sind eigentlich getragen von einem Bekenntnis zu einem autonomen Abgeordneten. Nicht zu einem, der macht, was er will, nicht zu einem wilden Abgeordneten, aber zu einem autonomen, zur selbstkritischen Reflexion fähigen Abgeordneten. Wenn eine Fraktion aus diesen Leuten besteht, ist auch das Bild der Fraktion ein anderes – und letztlich das Bild des Parlaments. (Beifall.)

*****

Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn-Novák: Herr Dr. Neisser, herzlichen Dank für die Einblicke, aber auch für Ihren Appell für den autonomen Abgeordneten. Wir werden dazu beitragen, dass diese Botschaft möglichst verbreitet wird.

Herr Dr. Koller, Sie sind in Ihrer Profession schon mehrfach angesprochen worden. Was hat es denn mit den Stricherllisten auf sich, beziehungsweise ist der Journalismus verantwortlich für das Bild, das das Parlament in der Öffentlichkeit macht, oder kann der Journalismus auch dazu beitragen, mit der weitverbreiteten Meinung aufzuräumen, dass die Regierung alles beschließen würde?

„Parlamentarismus aus Sicht des Journalisten – zwischen Verantwortung der Institution gegenüber und notwendigem kritischem Hinterfragen“

Dr. Andreas Koller: Ich kann Ihre beiden Fragen mit Ja beantworten, und wir können uns auseinanderbewegen.

Erstens herzlichen Dank für die Einladung.

Es ist schon von meinen beiden geschätzten Vorrednern sehr vieles gesagt worden, das ich unterstreichen kann, vor allem auch die Wichtigkeit und die Gewichtung der Plenardebatten im parlamentarischen Prozess. Wir wissen alle, dass dort keine Entscheidungen mehr fallen. Man braucht wahrscheinlich Plenardebatten auch nicht mehr zur Kommunikation, wie es vielleicht in der „Paulskirche“ der Fall war, denn kommuniziert wird heute über SMS, das geht rascher und ist mit weniger Aufwand verbunden.

Jetzt kann ich auch noch ein persönliches Erlebnis beisteuern, das noch dazu mit dem Professor Czerny verbunden ist. Ich habe 1981 oder 1982 bei Professor Czerny eine Vorlesung über Parlamentarismus – klarerweise – besucht, und da ist sozusagen als krönender Abschluss unsere Studentengruppe von Professor Czerny ins Parlament auf die Besuchergalerie mitgenommen worden. Das war mein erster Live-Einstieg in den Parlamentarismus. Und mich hat damals schon dieser Showcharakter sehr beeindruckt, den das Ganze gehabt hat. Professor Neisser hat von Emotionen gesprochen – es waren Emotionen, es hatte Showcharakter. Es ist unten der Bundeskanzler Kreisky gestanden, und man hat sich schon sehr schwer getan, das, was dieser zu einem ÖVP-Abgeordneten gesagt hat, nicht als Götz-Zitat zu interpretieren. Da gab es große Aufregung. Jetzt will ich nicht sagen, dass das mein Parlamentsbild geprägt hat und es jetzt mein journalistisches Animo ist, solche Szenen zu verewigen, aber ich glaube schon, dass Szenen wie diese das Parlament in der Bevölkerung verankern.

Jetzt ist mir natürlich klar, das kann nicht alles sein. Der seriöse Journalismus ist der, der sich nicht auf Stricherllisten beschränkt, wer wie oft gesprochen hat. Ich sehe es ja fast umgekehrt: Vielleicht sollte man den loben, der nicht so viel im Plenum spricht, um zu strafferen Sitzungen zu finden. Aber es stimmt, eine Zeitlang war in der vom Kollegen Neisser angesprochenen Zeitschrift, die es nicht mehr gibt, der „Faulpelz des Jahres“ modern; das war immer der, der am wenigsten gesprochen hat. – Viel dümmer kann ein Ranking gar nicht aussehen.

Wie kann Parlamentsberichterstattung aussehen? Wie kann man es positiv formulieren? – Zunächst muss man sich schon die kritische Analyse erlauben, dass das Parlament dort, wo es sein sollte, nicht angekommen ist, nämlich im Zentrum der Macht. Wahrscheinlich schauen einige von Ihnen die ORF III-Sendung „60 Minuten Politik“. Da wird 60 Minuten Parlamentarismus in einer Fernsehsendung inszeniert, und der Moderator Christoph Takacs sagt zu Beginn immer – diese Sendung wird nämlich im Parlament aufgezeichnet –: Willkommen im Machtzentrum der Republik, im österreichischen Parlament! – Das klingt wunderbar, nur ich frage Sie, ob es überhaupt stimmt. Ich glaube, es stimmt leider nicht. Das Parlament ist immer noch nicht auf Augenhöhe mit der Regierung. Die Regierung kann mit einem Federstrich ihre Ressourcen verdoppeln, Referenten in die Ministerbüros setzen, et cetera. Das alles kann das Parlament nicht in diesem Ausmaß. Oder vielleicht könnte es das Parlament sogar, es hat ja, soviel ich weiß, die Budgethoheit, aber das Parlament tut es eben nicht, ist immer noch ein sehr sparsames Organ, vielleicht zu sparsam, um wirklich auf Augenhöhe mit der Regierung agieren zu können.

Jetzt habe ich aber elegant meine eigene Verantwortung, nämlich die des Journalisten, umschifft. Was können jetzt wirklich wir Journalisten tun? – Ich glaube, da gibt es schon einige Hebel, die ein Journalist betätigen kann, um das Parlament dorthin zu rücken, wo es sein soll. Beispielsweise wäre es ganz gut, wenn die Journalisten nicht immer in den Chor derer einstimmen, die die Politikverdrossenheit fördern, die Stricherllisten machen oder Parlamentarier als Faulpelze oder als Abkassierer darstellen oder die auch ständig die sogenannte Nebentätigkeit von Parlamentariern thematisieren und gleichzeitig skandalisieren.

Ich bin der Meinung, führt man sich den reinen Parlamentarismus vor Augen, dann sollte eigentlich das Parlamentsmandat die Nebentätigkeit sein – quasi ein Parlament von aufrechten Bürgerinnen und Bürgern, jeder hat einen Beruf und ist nebenbei auch noch Volksvertreter. Das ist ja die Idealvorstellung. Deshalb ist der Begriff der Nebentätigkeit von Parlamentariern für mich semantisch eigentlich schon sehr danebengegangen. Mir ist natürlich schon klar, dass ein professionelles Parlament auch professionelle Politiker braucht. Ich bin jetzt nicht sozusagen für die reinen Toren, die die parlamentarische Arbeit machen sollen. Wir wissen auch alle, dass Quereinsteiger im Parlament eine sehr kurze Erfolgsgeschichte sind – da kann jeder von uns fünf aufzählen, die erfolgreich waren, und wahrscheinlich 20, die nicht so sehr erfolgreich waren.

Natürlich geht es auch darum, den Parlamentarismus an seine Pflichten zu gemahnen. Wir Journalisten sind da ein bissel in der Zwickmühle. Denn schaut man sich die Geschichte des Parlamentarismus an, die vielleicht auch gewisse Parallelitäten mit der Geschichte der Pressefreiheit hat – es ging um die Erkämpfung bürgerlicher Freiheiten, das Wahlrecht, das Recht, seine Meinung zu äußern –, dann könnte man sagen, dass Journalisten und Parlamentarier eine Seite der Medaille sind. Auf der anderen Seite der Medaille ist die Staatsmacht, die Regierung. Das heißt, eigentlich sollten Journalisten und Parlamentarier Verbündete sein. Das ist die eine Seite des Problems.

Auf der anderen Seite ist das Parlament natürlich auch ein Teil der Staatsmacht, und die Journalisten haben das Recht und die Pflicht, das Parlament als Teil der Staatsmacht kritisch zu beobachten. Das ist ein Dilemma, das gar nicht so leicht zu lösen ist: Mache ich mich jetzt als Journalist zum „Komplizen“ des Parlaments gegen Strömungen in der Regierung, in der Staatsgewalt, oder betrachte ich das Parlament als Teil der Staatsgewalt und begebe mich als Journalist in Opposition zu diesem Parlament?Die Wahrheit wird wahrscheinlich in der Mitte liegen, vor allem auch deswegen, weil natürlich das Parlament nicht mehr in dem Gegensatz zum Herrscher steht, wie das vielleicht einmal konzipiert wurde. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Parlamentsmehrheit bei uns in der Regel der Regierung nahesteht. Das führt natürlich dann zu einer anderen Art der Berichterstattung.

Ein weiterer Aspekt, der vielleicht ein wenig problematisiert werden sollte, ist die Frage – das hat auch Heinrich Neisser schon angesprochen –, welche Aspekte des Parlamentarismus ich als Journalist darstelle. Wenn ich mich auf die Plenardebatten beschränke, dann sind wir bei der Showberichterstattung. Dann kann man sagen, der Bundeskanzler hat jemanden beschimpft, der Herr Pilz hat einen Witz gemacht oder dergleichen. Aber das ist keine sehr nachhaltige Berichterstattung, weil im Plenum keine Entscheidungen fallen. Das haben wir schon besprochen, das wissen Sie besser als ich.

Das heißt, man müsste als Journalist in die Ausschüsse gehen, auch in die von Neisser so gelobten Unterausschüsse. Jetzt ist es aber so: Das, was in den Unterausschüssen vorgeht, ist in der Regel nicht so für die Öffentlichkeit bestimmt wie das, was in den Plenardebatten vorgeht. Ich als Journalist wäre daran interessiert, bei Unterausschüssen dabei zu sein, alles schreiben zu können, was dort gesagt und getan wird. Mir ist aber bewusst, wenn ich das mache, dann muss man einen Unterausschuss zum Unterausschuss bilden, wo dann wirklich vertraulich gesprochen werden kann. Denn es ist ganz klar, dass im Beisein eines Journalisten oder einer Fernsehkamera nicht vertraulich gesprochen werden kann und in Wahrheit keine Entscheidungen fallen können.

Meine Forderung nach Transparenz beißt sich sozusagen in den Schwanz. Mir ist klar, diese Transparenz, die ich mir als Journalist eigentlich wünschen würde, kann ich mir als Bürger in Wahrheit nicht wünschen, weil dann Entscheidungen überhaupt nicht mehr fallen.

Ein allerletzter Aspekt, den ich Ihnen nahebringen will, ist folgender: Ich habe vor ungefähr 30 Jahren im Parlament als Berichterstatter begonnen. Damals war es üblich, dass man hingegangen ist, sich Plenumsdebatten angehört hat und am nächsten Tag in der Zeitung geschrieben hat, was im Plenum gesagt worden ist. Oder: Ein Politiker hat am Dienstag eine Pressekonferenz gemacht, man ist als Journalist dorthin gegangen, und am Mittwoch ist in der Zeitung gestanden, was in dieser Pressekonferenz zum Besten gegeben worden ist.

Es war damals relativ leicht für Politiker, Pressearbeit zu machen. Man hat ja nur eine Pressekonferenz oder eine Presseaussendung machen müssen. Im heutigen Journalismus kommen sie damit aber nicht mehr durch, denn für mich als Tageszeitungsjournalist ist das, was heute passiert, morgen eigentlich schon passé.

Um ein Beispiel zu nennen: Morgen, am Dienstag, ist im Innenministerium eine Tagung von Experten, bei der es darum geht, wie man Hass-Postings und diese ganzen Hassparolen im Internet in den Griff bekommen kann. Das findet morgen statt. Was habe ich heute schon getan? – Ich habe eine Kollegin von mir ersucht, sich darum zu kümmern, dass wir morgen, wenn diese Tagung stattfindet, also am Dienstag schon die Geschichte im Blatt haben, sodass wir nicht erst am Mittwoch schreiben müssen, was am Vortag passiert bist.

Warum tun wir das? – Nicht, weil wir so sensationsgeil sind, sondern weil sich schlicht und ergreifend die Massenkommunikation dermaßen rasant geändert hat, dass meine Leserinnen und Leser, wenn um 10 Uhr dort ein Experte das Wort ergreift, das schon um 10.01 Uhr wissen – wenn sie sich dafür interessieren –, weil ja das alles im Internet steht und auf jedem Smartphone nachzulesen ist. Wenn ich mit diesen Inhalten dann 24 Stunden später meine Zeitungsleser beglücke, dann werden sie die Zeitung nicht mehr lesen.

Das ist eine völlig neue Form des Journalismus, und ich glaube, das Parlament hat es noch nicht wirklich geschafft, auf diese neue Form des Journalismus wirklich zu reagieren. Jetzt könnte ich aber auch die Verantwortung zu mir zurückholen und sagen, wir Journalisten haben es noch nicht wirklich geschafft, sozusagen den Parlamentarismus in diese neue Form des Journalismus zu inkorporieren. Also wir sollten vielleicht noch darüber nachdenken. – Vielen Dank. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn-Novák: Meine Damen und Herren, damit haben wir die Impulse von Dr. Marion Löffler, Dr. Neisser und Dr. Koller zum Thema der Darstellung des Parlaments gehört. Ich glaube, gerade Ihre Abschlussbemerkung, Herr Dr. Koller, würde eigentlich eine weitere Tagung rechtfertigen, denn bei allen drei Referaten ging es ja sehr wesentlich darum, dass es nicht am Inhalt mangelt, der hier im Parlament bewältigt wird, sondern möglicherweise an der Darstellung.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Panel IV: Förderung des gesellschaftlich-kritischen Bewusstseins: Czernys Arbeit an der Universität und der Katholischen Sozialakademie

Mag. Edith Riether: Guten Abend, meine Damen und Herren! Wir sind beim letzten Panel angelangt. Last but not least, hoffe ich. Hier geht es hauptsächlich um die außerparlamentarischen Tätigkeiten von Dr. Czerny, der ja immer über den Tellerrand seiner Beamtentätigkeit hinaus gesehen und sich für viele Dinge interessiert hat. Aber insbesondere hat er sich von Anfang an mit Politikwissenschaft beschäftigt.

Es wurde heute ohnehin schon erwähnt, dass er mit einem Artikel im NEUEN FORVM unter dem Titel „Kann man Politik studieren?“ den Kick-off gegeben hat, dass dann endlich eine Diskussion in Österreich entstanden ist. Das war im Jahr 1962, als es an den ausländischen Universitäten überall schon politikwissenschaftliche Institute gegeben hat. Es hat dann sehr lange gedauert – ich glaube, es war unter der Wissenschaftsministerin Dr. Hertha Firnberg –, bis dann dieses Institut zunächst in Salzburg, dann in Innsbruck und dann endlich auch in Wien gegründet wurde. (Dr. Helmut Kramer: Salzburg und Wien waren gleichzeitig!) – Salzburg und Wien waren gleichzeitig. – Wie gesagt, da hat er schon den Anstoß gegeben, hat er sich doch für Politikwissenschaft immer sehr interessiert.

Die Moderation habe ich dankenswerterweise übertragen bekommen, weil ich nicht nur seine persönliche Mitarbeiterin im Parlament war, sondern auch bei seinen außerparlamentarischen Tätigkeiten. Mich hat das alles sehr interessiert, die Politikwissenschaft sowieso, aber dann natürlich auch die Katholische Soziallehre und so weiter. Wir haben auf meinen Vorschlag Herrn Dr. Weninger und Pater Riedlsperger eingeladen, damit sie über diese Tätigkeiten von Dr. Czerny außerhalb des Parlaments sprechen.

Ich kann mich an Herrn Dr. Weninger noch gut erinnern. Dr. Czerny hat damals, ich glaube, es war 1982, diese Honorarprofessur übernommen, aber sofort zu mir, die ich ihm sehr zugeredet habe, weil mich das sehr gefreut hat, gesagt, er könne das nur machen, wenn ich ihn dabei unterstütze, da es doch sehr viel Administratives und noch vieles andere, Recherchen durchführen et cetera, zu erledigen gäbe. Ich habe damals begeistert zugesagt, und da kann ich mich, wie gesagt, an Dr. Weninger noch gut erinnern, der jetzt Generalsekretär des Österreichischen Städtebundes ist und uns nun erzählen wird, wie er ihn als Universitätslehrer erlebt hat. – Bitte, Herr Dr. Weninger.

„Czerny als Universitätslehrer“

Dr. Thomas Weninger: Vielen Dank für die freundliche Einbegleitung und danke auch von meiner Seite für die Organisation dieses Symposiums.

Ich habe eigentlich sehr spontan zugesagt, als mich Helmut Kramer angerufen und gefragt hat, ob ich hier teilnehmen möchte, das war im Frühjahr. Zwar mit dem Vorbehalt, dass ich noch nicht weiß, was mein Präsident, der Wiener Bürgermeister, am 13. Oktober mit mir vorhat, aber ich habe gerne zugesagt, weil mir Wilhelm Czerny als Universitätslektor und Universitätslehrer sehr gut in Erinnerung ist. Es ist immerhin auch schon 30 Jahre her, es war 1983, dass ich Lehrveranstaltungen bei ihm besucht habe.

Das zeigt vielleicht auch schon sein Bild als Universitätslehrer, das ich gerne mit Ihnen teilen möchte. Er war nämlich durchaus ungewöhnlich in seinem Auftreten und Erscheinungsbild, letztlich auch nachhaltig prägend aufgrund seiner Herangehensweise an die Themen, und auch dabei, wie er mit den Studenten und Studentinnen umgegangen ist. 1983 war ich im 5. Semester. 1983 war das letzte Jahr von Kreisky als Kanzler, Waldheim und Haider waren noch weit weg, Österreich noch nicht in der Europäischen Union. Aber Österreich war international sehr präsent, und Lehrveranstaltungen bei Helmut Kramer waren viel mehr überlaufen, wenn ich das so sagen darf, Internationales und Theorie sowieso.

Man musste aber im Fach Politikwissenschaft auch etwas zum österreichischen politischen System machen, und das war eher weniger ansprechend oder sexy, wie man heutzutage wahrscheinlich sagen würde. Es war aber trotzdem notwendig, in diesem Bereich etwas zu absolvieren, und da gab es im Sommersemester 1983 zwei Lehrveranstaltungen im Vorlesungsverzeichnis: das eine ein Proseminar zum Thema Parlamentarismus in Österreich und das andere ein Seminar zur Parteienstaatstheorie. Ich habe das damals inskribiert, ohne den dabei angeführten Dr. Wilhelm F. Czerny zu kennen. Es war damals auch noch die Zeit, als Universitäten und so auch das Institut für Politikwissenschaften externe Lektoren und Lektorinnen engagieren konnten, um auch ein bisschen Praxis aus dem politischen administrativen System hereinzubringen.

Dann war der Vorlesungsbeginn, damals noch in der Währinger Straße. Der Seminarraum war nicht überfüllt, 20, 25 Studenten, Studentinnen haben gewartet. Und dann kam Dr. Czerny herein, ein sonorer älterer Herr – wenn ich das sagen darf – im Nadelstreif, mit Krawatte. Also eigentlich ganz untypisch für einen Vortragenden auf der Politikwissenschaft. Aber was sicher zutreffend ist: Er war von Beginn an der Chef im Ring – um das sehr salopp zu sagen –, er war einfach präsent aufgrund seiner Persönlichkeit und hatte vor allem auch etwas mitzuteilen. Das Thema „Parlament und Parteien“ war ja heute schon lange Gegenstand der Erörterung, aber auch wie er es in seiner ruhigen, unaufgeregten Art rübergebracht hat, das war – rückblickend – sehr einprägsam und hat mich dazu veranlasst, beide Lehrveranstaltungen bei ihm auch abzuschließen.

Er war aber durchaus auch einer, der von Anbeginn an etwas eingefordert hat. Er hat gleich in der ersten Lehrveranstaltung klar gesagt, wo es langgehen soll, was er sich erwartet, worum es geht. Er hat als gelernter Historiker natürlich von uns Politologen auch entsprechendes Quellenstudium verlangt, die Beachtung von Zitationsregeln, was auch sehr lehrreich war. Vielleicht war er dann doch ein bisschen zu einschüchternd, denn als er fragte, wer das erste Referat über die Märzverfassung, die Pillersdorfsche Verfassung hält, hat sich keiner gemeldet. Da habe ich mich gemeldet, wagemutig, und daraus ist von seiner Seite durchaus eine Mentoren-Funktion für mich entstanden, weil ich dann das Vergnügen hatte, ihn auch noch später das eine oder andere Mal jenseits der Lehrveranstaltungen zu treffen, und wir in losem Kontakt waren.

Er war sehr unterstützend bei der Vorbereitung. Frau Kollegin Riether war auch immer Ansprechpartnerin, er hat auch beim Referat seine Kommentare eingebracht, zur Diskussion angeregt und die Dinge hinterfragt und dies auch in seinem Seminar beibehalten. Ausgezeichnet hat ihn dabei nicht nur sein eigenes Wissen – sein historisches Wissen, sein Interesse an Zeitgeschichte wurden heute schon erwähnt –, sondern wirklich auch sein Zugang. Ich habe es in dem Kurzstatement für das Programmheft „Leidenschaft am Thema“ genannt. Diese Leidenschaft für das Thema Parlament und Demokratie und Parteienstaatstheorie hat er in seiner ruhigen und bestimmten Art sehr gut vermittelt.

Dr. Cerny war aus meiner Sicht und rückblickend auch einer jener Lehrer, die diese Neugier am Thema auch vermitteln konnten. Ich habe in Vorbereitung dieses kurzen Rückblicks meiner Erinnerungen auch meine Kinder gefragt – meine Tochter studiert inzwischen, mein Sohn geht in die 5. Klasse –, was für sie einen Lehrer oder eine Lehrerin ausmacht. Da haben sie gesagt: dass er weiß, wovon er spricht – es gab vorhin auch die Anregung an die Abgeordneten, dass sie wissen sollten, wovon sie sprechen; das gilt natürlich noch mehr für Lehrer und Lehrerinnen –, dass sie zuhören können, aber auch Fragen stellen können und letztlich die Neugier für den Gegenstand wecken können.

Ich glaube, das hat Dr. Czerny in hohem Maße vermittelt und damit letztlich auch ein Stück humanistischer Bildung weitergegeben, nämlich Bildung im Sinne von Bildung – und nicht Ausbildung, bei der wir dann zählen, wer wie lange spricht, und das ist dann sozusagen die wissenschaftliche Erkenntnis, ob jemand jetzt zehnmal oder einmal gesprochen hat –, weil er eben auch auf die Qualität geachtet hat.

Ich möchte vielleicht damit abschließen: Er hat Zeugnisse nicht nur unterschrieben, er hat sogar Kommentare dazugeschrieben. Ich habe meine Zeugnisse noch aufgehoben. Papier ist ja geduldig im Aufheben, bei elektronischen Dingen wäre ich mir da nicht so sicher. (Der Redner hält ein Schriftstück mit einem darauf angehefteten Zettel in die Höhe.)

Cerny hat die Gewohnheit gehabt, hinten so kleine Zettel dranzuhängen, was ich sehr geschätzt habe, hier eben zu meinem Referat. Eitelkeit ist ja bei Max Weber durchaus ein Nachteil für Politiker. Ich weiß nicht, inwiefern das für Generalsekretäre ein Nachteil ist, aber ein bisschen der Eitelkeit frönend: Er hat da über mich und mein Referat geschrieben: Die Beurteilung stützt sich auf die ausgezeichnete mündliche Leistung und nicht auf das abgegebene Manuskript. (Heiterkeit.) – Ich hoffe, meine wenigen Ausführungen, um ein Bild von ihm zu zeichnen, rechtfertigen diese Beurteilung.

Ich darf schließen mit dem, was auch in Ihrem Buch steht: Er hat sicher Anfang der achtziger Jahre zu jenen Vortragenden auf der Politikwissenschaft gehört, bei denen es wirklich ein Privileg war, sie zu hören, und es war sicher sehr interessant, bei ihm etwas zu lernen. Vielleicht ist das auch subkutan ein bisschen der Grund, dass ich jetzt auf der lokalen Ebene gelandet bin, wo ja letztlich Demokratie entstanden ist, und ich hier durchaus auch meine Erfahrungen mache, wie es denn um die Demokratie auf kommunaler Ebene bestellt ist. Aber das wäre Thema für ein anderes Symposium. – Danke. (Beifall.)

*****

Mag. Edith Riether: Vielen Dank, Herr Dr. Weninger. Ich weiß nicht, ob Sie auch bei dem Seminar dabei waren, wo Dr. Czerny ins Parlament eingeladen hat, um dort Jungpolitiker reden zu lassen. Das hat er auch einmal gemacht, das war recht interessant und für diese auch sehr lehrreich. Er hat damals je einen der jüngsten Politiker von allen Parteien eingeladen. Es war Haider, es war Cap, es war DDr. König von der ÖVP. Mehr Parteien waren, glaube ich, damals gar nicht im Parlament. Die haben dann über ihre Erfahrungen als Jungpolitiker und darüber, wie sie sich hier gerieren, gesprochen. Das war sehr lustig. Dr. Haider hat gesagt: Als Jungpolitiker sagt man irgendwas Provokantes, dann fallen alle über einen her, dann ist man eine Zeitlang wieder still, und dann sagt man wieder was. – Das hat er, glaube ich, bis zum Schluss durchgehalten.

Ich wollte damit nur sagen, so hat er immer verbunden. Wir haben das auch in der Pause besprochen, er war immer dafür, dass Politikwissenschafter vorher auch einmal in der Politik tätig waren. Er hat als Beispiel dafür immer den Kissinger angeführt. Und das war ja bei ihm so, dass er auch aus der Praxis kam und dadurch an der Politikwissenschaft natürlich auch sehr viel vermitteln konnte. Er hat ja Vorträge – nicht auf der Uni, aber außerhalb, vielleicht auf der Sozialakademie – gerne damit begonnen: „Ich als seichter Praktiker sage …“

Seine zweite außerparlamentarische Tätigkeit war eben an der Katholischen Sozialakademie. Er hatte große Affinität zu den Jesuiten und hat sich für die Soziallehre sehr interessiert. Er hat Pater Riener gekannt und bei diesem dann auch mitgearbeitet. Er war Referent an der Sozialakademie. Ich moderiere auch diesen Teil, weil Pater Riener dann auch mich eingebunden hat. Er hat mir sogar einen kleinen Vertrag gegeben, weil er den „Informationsdienst“ damals sehr geschätzt hat. Der wurde damals allgemein sehr geschätzt, man hat damals behauptet, bei jedem Minister liege der „Informationsdienst“ oben auf. Der war sehr informativ. Und mich hat er gebeten, dass ich ihm dabei helfe, und das habe ich sehr gerne gemacht. Das war redaktionelle Arbeit. Hie und da konnte ich auch einen Beitrag schreiben, aber die Beiträge waren alle nicht gezeichnet. Pater Riedlsperger war der Nach-Nachfolger von Pater Riener, also jahrelang Direktor der Katholischen Sozialakademie. Er hat Dr. Czerny persönlich gekannt und auch dessen Schriften. Und wir haben ihn gebeten, dass er über die Tätigkeit von Professor Czerny spricht.

„Czernys Wirken an der Katholischen Sozialakademie Österreichs“

Pater Dr. Alois Riedlsperger: Sehr geehrte Damen und Herren! Es mag überraschen, dass ich im Kontext dieses Symposiums zu Parlamentarismus noch einen Blick auf die Katholische Sozialakademie Österreichs, eine kirchliche Einrichtung, werfe. Wie kommt diese Einrichtung in dieses Themenfeld?

Dass Dr. Czerny mit Leib und Seele für die Demokratie und den Parlamentarismus eingetreten ist, das haben wir heute Nachmittag ausführlich gehört. Dazu gehört aber auch der Blick auf die konkrete Landschaft der Gesellschaft, nämlich die vielen Akteurinnen und Akteure, Bürgerinnen und Bürger, die die Demokratie leben – oder auch nicht. Und deshalb war ihm die Beteiligung an einer Einrichtung der politischen Erwachsenenbildung ganz wesentlich. Ich habe immer in Gesprächen mit ihm und auch in seinen Referaten wahrnehmen können, dass er mit Leib und Seele seine Anliegen vertritt, natürlich immer mit Querverbindung zum Parlament, zum Hohen Haus, in das er auch immer wieder eingeladen hat und wo dankenswerterweise Frau Mag. Riether auch viele Kontakte vermittelt hat, Besuche und so weiter.

Zunächst zum Kontext des Wirkens von Dr. Czerny in der Katholischen Sozialakademie. Es ist noch einmal eine Rückblende in die Geschichte der späten fünfziger Jahre. Es ging um nichts anderes als um eine Neupositionierung der Katholischen Kirche in der Zweiten Republik.

Zwei markante Daten: 1952 der Katholikentag mit dem Motto „Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft“ nach der Erfahrung des totalitären Systems, um da die Position der Kirche neu zu bestimmen, und zwar genau in einer Bewegung der sich freispielenden Positionierung.

Ein zweites Datum: der Sozialhirtenbrief von 1956, eben im freien Österreich die Frage: Und was soll die Kirche jetzt tun?

Es war klar, wenn sich Christen – damals hatte man nur Männer im Blick – in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft engagieren sollten, dann braucht es eben eine Einrichtung, die für die entsprechende fachliche Vorbereitung, Ausbildung sorgt. Das war das eine. Und das andere: dass es eine Einrichtung gibt, die die katholische Soziallehre als die Grundbotschaft der Kirche in den politischen Diskurs einbringt.

So beschloss dann die Österreichische Bischofskonferenz am 1. Oktober 1958 die Gründung der Katholischen Sozialakademie Österreichs. Und Dr. Czerny war von Anfang an dabei. Allerdings dauerte es Jahre, bis die Katholische Sozialakademie und auch andere kirchliche Einrichtungen sich zu dieser parteipolitisch unabhängigen Position entwickeln konnten.

Im Hinblick auf die Katholische Sozialakademie wurde zunächst die Sozialakademie der Arbeiterkammer in der Hinterbrühl als Konkurrenz gesehen. Auf der anderen Seite stand die Nähe zum christlich-sozialen Flügel in der ÖVP. Da schien es gar nicht einfach, eine eigenständige Position zu erarbeiten. Dazu kam Anfang der sechziger Jahre die Bewegung des Zweiten Vatikanischen Konzils, das 1965 mit dem Dokument „Kirche in der Welt von heute“ endete, also Positionierung der Kirche in der heutigen Gesellschaft. Das ist der Kontext.

Und in diesem Kontext, meine ich, besteht die Bedeutung von Wilhelm Czerny darin, dass er sich für die Unabhängigkeit, für eine überzeugende, parteipolitisch unabhängige Position eingesetzt hat, vor allem als Mitglied des Dozentenklubs der Akademie, in dem sich die an der Akademie Dozierenden zusammengesetzt und diskutiert haben, anfänglich zwei Mal monatlich, später seltener, wobei dieser Dozentenklub, und das ist auch bezeichnend, zum einen zunächst von Angehörigen der Bundeswirtschaftskammer, dem liberalen Flügel, und zum anderen von Mitgliedern des ÖAAB, dem sozialen Flügel, dem linken Flügel, wie es hieß, bestimmt war. Dr. Czerny verkörperte in diesem Umfeld die Position der Unabhängigkeit, der Eigenständigkeit. Und ich glaube, darin kommt sein persönliches Profil auch sehr gut zum Ausdruck.

Noch kurz – Frau Mag. Riether hat es angesprochen – zu seinem persönlichen Zugang zur Katholischen Sozialakademie. Aufgrund seiner Schulbildung im Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch war er immer den Jesuiten verbunden, war in der Gründungsphase der Akademie sofort zur Mitarbeit bereit und hatte das volle Vertrauen vom ersten Direktor Pater Walter Riener. Und noch über dessen Tod 1972 hinaus blieb er der Akademie verbunden, auch in der konkreten Erarbeitung des „Informationsdienstes“, und er achtete sehr darauf, dass der „Informationsdienst“ Qualität hatte. An dieser Stelle darf ich auch Ihnen, Frau Mag. Riether, für die gute Kooperation in all diesen Jahren sehr herzlich danken.

Damit bin ich neben der Kontextualisierung des Wirkens von Dr. Czerny in der Katholischen Sozialakademie bei seinen konkreten Tätigkeitsfeldern. Erstens die Redaktion des „Informationsdienstes“. Der „Informationsdienst“ erschien 22 Mal pro Jahr, also alle zwei Wochen, und enthielt sachliche Information, aktuelle Themen und Kommentare. Und speziell in diesen Kommentaren geschah sozusagen ein Monitoring der gesellschaftlichen Entwicklung, vor allem auch oft zugespitzt auf Vertreter des politischen Lebens, und so fand der „Informationsdienst“ durchaus Beachtung, wie Sie auch schon angedeutet haben, wenn auch nicht immer konfliktfrei, und wurde auch gelegentlich bei Sitzungen des Parlaments zitiert. Das Verdienst von Dr. Czerny in diesem Tätigkeitsfeld besteht meiner Meinung nach darin, dass er durch seinen eigenen Zugang zur Innensicht der Politik die hohe inhaltliche Qualität des von ihm entscheidend geprägten „ksoe-Informationsdienstes“ sicherte.

Eine zweite Tätigkeit – Sie haben es auch schon angesprochen – war seine Dozententätigkeit bei Lehrgängen. Mit der Gründung der Akademie wurde bereits 1959, also ein Jahr nach der Gründung, ein Lehrgang ins Leben gerufen, zwei Mal drei Monate, ein sogenannter Internatslehrgang im Bildungshaus Lainz, heute Kardinal König Haus. Es sollten die Teilnehmer zur Tätigkeit im konkreten politischen Alltag eines Betriebes, sprich Betriebsratstätigkeit, herangebildet werden, das war die Industrieklasse, wie es damals genannt wurde, und einige Jahre später in der Agrarklasse zum Engagement im ländlichen Raum, später dann mit dem Schwerpunkt Kommunalpolitik, Betriebs- und Gemeinderätereife, wie es hieß.

Und von Anfang an war Dr. Czerny bei diesem Lehrgang als Dozent tätig. Seine Themenschwerpunkte, Sie werden es leicht erraten, waren parlamentarische Demokratie und politische Parteien. Sein großes Anliegen, meine ich, war, den Teilnehmenden an den politisch-sozialen Lehrgängen der ksoe ein differenziertes Verständnis politischer Prozesse zu erschließen. Dabei kommen wieder seine persönliche Praxis im Parlament und sein Interesse als Politikwissenschafter zum Durchbruch.

Ein drittes Projekt seiner Tätigkeit waren seine Beiträge zum Katholischen Soziallexikon. Zur Bereitstellung von soliden Informationen zu relevanten Begriffen des gesellschaftlichen Lebens mit Bezug zur katholischen Soziallehre erschien ein sogenanntes Katholisches Soziallexikon, das sich dann als Standardwerk in diesem Feld erwies. Herausgegeben wurde es im Auftrag der Katholischen Sozialakademie. Die Schriftleitung hatte Alfred Klose, auch ein Mitglied des Dozentenklubs und später des Kuratoriums der ksoe, inne. Die erste Auflage erschien 1964 und eine stark erweitere Auflage 1980.

Die Beiträge von Dr. Czerny selbstverständlich: Parlament, parlamentarisches System, Parteien, politische Wissenschaft und anderes. Und wieder verbindet sich hier für Dr. Czerny sehr bezeichnend die politische Erfahrung im Parlament mit der Reflexion des Politikwissenschafters.

Damit komme ich zum vierten Punkt, dem vierten Tätigkeitsfeld von Dr. Czerny: Referate auf Studientagen der ksoe. Aus diesen Referaten entstanden immer wieder Publikationen in der Schriftenreihe der Katholischen Sozialakademie unter dem Titel „Fragen des sozialen Lebens“. Zwei möchte ich herausgreifen, weil hier Dr. Czerny das Profil gestaltet hat: das Symposion 1969: „Demokratie im Umbruch“. Der Beitrag von Dr. Czerny: „Krise der Demokratie?“ Und das Symposion 1970: „Gesellschaftspolitische Erwägungen zu einer politischen Theologie“. Hier finden Sie wieder die Entwicklung auch der Theologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und die wache Art von Dr. Czerny, sich auch mit diesen theologischen Fragen auseinanderzusetzen. Hier kommt er in seinem Referat auf Eschatologie und Futurologie zu sprechen, auf Institutionenkritik der Kirche und Ideologieverdacht, und das alles in einer Verknüpfung mit theologischer Reflexion – hier wird Rahner zitiert und Schillebeeckx und Käsemann auf evangelischer Seite – und seinem Zugang aus der Perspektive der Politikwissenschaft.

In diesem Beitrag werden die hohe fachliche Kompetenz und die kritische Reflexionsfähigkeit von Dr. Czerny deutlich, mit der er auch vor Auseinandersetzungen mit der Theologie und heiklen Fragen der Institution Kirche nicht zurückscheute.

Wörtlich an einer Stelle – und das fasst noch einmal das Anliegen von Dr. Czerny im Hinblick auf die politische Bildungsarbeit zusammen –: „Ziel (…) muss ein in jeder Hinsicht mündiger Christ sein, dann gehört die Bildung eines gesellschaftspolitischen und gesellschaftskritischen Bewusstseins zur Heranbildung des Christen.“

So weit ein Rückblick in die Zeit des Wirkens von Dr. Czerny an der Katholischen Sozialakademie.

Natürlich hat sich diese Institution in diesen Jahren weiterentwickelt. Die Themen, die ich angesprochen habe, sind eine Kirche, nicht nur mehr die Katholische Kirche, die man als selbstverständlich damals als die Kirche verstand, sondern inzwischen die Kirche im Verbund der anderen christlichen Kirchenökumene. Derzeit hat die Katholische Sozialakademie den Diskussionsprozess zu „Sozialwort 10+“ laufen, also zehn Jahre nach Erscheinen des ökumenischen Sozialwortes wieder diese Fragen in den Blick zu nehmen, also Kirche im ökumenischen Verbund.

Was den Blick auf die politischen Parteien, die Verflechtung und das Sich-Freispielen angeht, muss ich sagen, im Lehrgang der Katholischen Sozialakademie sind jetzt als Kooperationspartner das Renner Institut, die Politische Akademie der ÖVP und die Grüne Bildungswerkstatt vertreten. Sie sehen, da haben sich die politische Landschaft und auch die Institution der Katholischen Sozialakademie wesentlich weiterentwickelt, und es gibt hier keine Konkurrenzängste, sondern eher die Notwendigkeit, in diesen großen Anliegen der politischen Bildung bei aller Unterschiedlichkeit zu kooperieren.

Und schließlich politische Parteien: Hier hat sich das weite Feld, zum Teil unübersichtliche Feld der Zivilgesellschaft herausentwickelt. Und die Katholische Sozialakademie versucht mit ihren Bildungsprogrammen genau auch diese Gruppierungen zu adressieren und mit ihnen in Kampagnen und anderen Organisations- und Bildungsformen zu kooperieren.

Aber im Kern sehe ich immer noch das Grundanliegen und den entscheidenden Beitrag von Dr. Czerny gültig, nämlich dafür zu sorgen, dass eine solche kirchliche Einrichtung unabhängig, eigenständig und profiliert agiert. Dann wird sie auch ein interessanter Partner im politischen Diskurs sein. – Danke. (Beifall.)

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Mag. Edith Riether: Danke schön beiden Herren.

Ich darf nur noch ergänzen, dass Dr. Czerny noch ein großes Buch, eine Parteienlehre, schreiben wollte, er hat sich ja speziell für Parteien interessiert, aber leider ist es dazu nicht mehr gekommen. – Professor Pelinka soll einmal vor Jahren gesagt haben, wenn man etwas über Parteien wissen wollte, dann hat man bei Czerny nachgeschaut. Inzwischen hat sich das natürlich auch weiterentwickelt.

Jedenfalls ganz herzlichen Dank beiden Herren für ihre Referate! (Beifall.)

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Universitätsprofessor Dr. Helmut Kramer: Sehr geehrte Damen und Herren! Der Nachmittag war sehr dicht und hat auf einem sehr hohen wissenschaftlichen und politischen Niveau den Kontext zu Wilhelm Czerny hergestellt und jetzt im letzten Teil das hohe menschliche Niveau von Wilhelm Czerny sehr schön widergespiegelt.

Ich war damals Institutsvorstand in den achtziger Jahren, als Dr. Czerny Honorarprofessor wurde. Wir haben uns immer sehr gut verstanden. Dr. Cerny war eben – Thomas hat das sehr gut ausgedrückt – ein wenig ein Außenseiter mit seinen englischen Anzügen und ist uns auf den ersten Blick etwas „verdächtig“ vorgekommen. Aber ich muss sagen, ich bin auch der Tagung sehr dankbar, dass ich jetzt doch ein neues Bild von Wilhelm Czerny gefunden habe, das ich schon als sehr positive Ausrichtung in der österreichischen, aber vor allem in der Wiener Politikwissenschaft sehe, nämlich dass er die kritische Orientierung, auch die didaktisch offene Haltung sehr schön verkörpert hat.

In diesem Sinne darf ich Ihnen noch herzlich für Ihr Interesse und Ihre Teilnahme danken, natürlich auch unseren ausgezeichneten Referenten und Referentinnen und unserer Mag. Riether ganz besonders, und somit das Symposium schließen.

 

Schluss des Symposiums: 18.29 Uhr