logo

logo

 

Empfang zu Ehren von em. Univ.-Prof. Manfried Welan
im Namen der Margaretha Lupac-Stiftung

 

Vortrag von Frau Univ.-Prof. Dr.in Sonja Puntscher Riekmann

„Können nationale Parlamente die Europäische Union legitimieren?“

 

 

titelbild

 

 

(verfasst von der Abteilung L1.4 – Stenographische Protokolle)

 

Mittwoch, 21. Juni 2017

 

Empfangssalon

 

Univ.-Prof. Dr.in Sonja Puntscher Riekmann: Einen schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Herr Bundespräsident! Liebe Festgäste! Lieber Herr Jubilar – samt Familie –, lieber Manfried! Ich muss mich entschuldigen, aber die ÖBB waren gegen mich. Der Tiefpunkt meines Versuchs, hierherzukommen, war, als wir dann 10 Minuten in einem Tunnel in Meidling standen. Da war ich schon fast hier, aber ich durfte nicht aussteigen. Ich bitte also vielmals um Entschuldigung für die Verspätung und bedanke mich für die Einladung, zu deinen Ehren sprechen zu dürfen. Manfried und mich verbindet ja nicht nur eine lange Geschichte des Interesses an Demokratie- und Verfassungsfragen, sondern auch eine lange Geschichte gemeinsamen Wirkens in der Margaretha Lupac-Stiftung, wo ich unter deiner Präsidentschaft mehr oder weniger Sinnvolles zu den Projekten sagen durfte.

Ich habe diesen Vortragstitel, den die Frau Präsidentin schon erwähnt hat, zur Rolle der nationalen Parlamente im europäischen Entscheidungsprozess natürlich auch aus Déformation professionelle gewählt – jemand, der sich Tag und Nacht mit Europa beschäftigt, kommt dann auf solche Themen –, aber auch, weil ich glaube, dass nicht zuletzt mit der Finanzkrise die nationalen Parlamente eine Rolle bekommen haben, die sie vorher in dem Ausmaß nicht hatten. Das will ich nicht nur würdigen, sondern auch kritisch betrachten, im Hinblick auf die Frage: Legitimiert das tatsächlich die Europäische Union? – Das ist meine Fragestellung, und ich komme zu einer gemischten Antwort.

Ich glaube, ich muss in diesem Hause nicht betonen, dass Parlamente im Zentrum jeder Debatte um Demokratie stehen und dass man sich eine Demokratie ohne ein Parlament überhaupt nicht vorstellen kann. Das ist sozusagen die erste Einrichtung, auf die man auch in den politologischen vergleichenden Studien schaut: ob ein Land, das sich demokratisch nennt, auch ein funktionierendes Parlament hat. Dies gilt umso mehr, wenn Entscheidungen für alle bindend sein sollen. Dann müssen Willensbildung und Entscheidungen in Parlamenten stattfinden, und das gilt auch dann, wenn es, wie es heute es ja immer mehr der Fall ist, eine außerparlamentarische Vorbereitung von Gesetzgebungsakten gibt, die Delegation von Macht an nichtmajoritäre Organe oder Agenturen, denken wir nur etwa an die Europäische Zentralbank. Was aber interessant ist, ist, dass die Zentralbank, gerade um sich selbst zu legitimieren, immer stärker in einen Dialog mit dem Europäischen Parlament getreten ist und dort im einschlägigen Ausschuss die Währungspolitik erklärt, wenn auch nicht in allen Details, und auch vorausschauend erklärt, warum Zinsen angehoben werden oder nicht angehoben werden, nicht immer zur Freude aller Parlamentarier, aber doch den Dialog mit den Parlamentariern suchend.

Wir haben in der Europäischen Union, auch das muss ich hier nicht weiter ausbreiten, eine völlig neue Dynamik, zumindest seit dem Vertrag von Maastricht mit der Wirtschafts- und Währungsunion als Kernstück, und schließlich mit der Finanz- und Fiskalkrise eine Politisierung der Europäischen Union erlebt, die sozusagen auch nicht mehr wegzudenken ist. Ich kann mich noch erinnern, wie Kollegen und Kolleginnen aus der Politikwissenschaft immer gesagt haben, man soll die Union nicht allzu sehr politisieren, denn das würde die gegnerische Haltung auch noch steigern. In Wirklichkeit hängt es nicht von uns ab, ob etwas politisiert wird oder nicht, sondern von Interessen, die dazu beitragen.

Wir haben in der politischen Theorie gerade Politisierung immer auch als Ergebnis von Legitimitätskrisen theoretisiert. Alle Politisierung ist immer auch eine Schlacht um die Legitimität einer politischen Einheit, eines politischen Systems. Das ist natürlich dramatisch gesteigert worden, nicht zuletzt im Zuge der Finanzkrise, denn wenn es in der Politik immer darum geht, zu fragen, wer was bekommt und warum, dann ist das, wenn es um solche Verteilungsfragen geht wie bei den Eurorettungsschirmen, wohl auf der Hand liegend.

In der Europäischen Union haben wir dann aber eine zweite Problematik, und das führt mich zum eigentlichen Thema: Es wird nämlich nicht nur hinsichtlich einer Entscheidung, je nachdem, ob man sie als richtig oder falsch perzipiert, politisiert, kritisiert, abgelehnt, sondern es geht immer gleich ums Ganze. Es ist dann die Union der Hort des Bösen, es sind die Unionsorgane, die sozusagen infrage gestellt werden, und das haben wir in den letzten Jahren massiv erlebt, nicht zuletzt ist Brexit ein Ergebnis dieser extremen Politisierung und Ablehnung, wie immer man dann die einzelnen Abstimmungsverhältnisse in den Wahlkreisen qualifizieren mag.

Es gibt aber – und das ist interessant – auch eine Gegenentwicklung. Es gibt Wahlen, die Menschen an die Macht brachten, die dem Diskurs nicht folgen. Das gilt für Österreich, das gilt für die Niederlande und das gilt nicht zuletzt für Frankreich. Insofern sind Krisen gerade in der Europäischen Union immer auch Anlass zu Vertiefung, zu neuer Diskussion über die Weiterentwicklung.

Donald Trump hat dann auch noch das Seinige dazu getan, und ich bin ganz erstaunt, wenn ich neueste Umfragen lese, wie plötzlich die Liebe zur Europäischen Union wieder ansteigt.

Nun, meine Fragestellung war ja: Können nationale Parlamente einen Beitrag zur Legitimierung der Europäischen Union leisten? – Es ist, denke ich, unbestritten, dass nationale Parlamente nationale Politik legitimieren, aber es ist eine größere Schwierigkeit, das eindeutig festzustellen, wenn es um Europa geht.

Erlauben Sie mir, weil ich ja auch einen Hut als Lehrstuhlinhaberin für politische Theorie trage, dass ich ganz kurz definiere, was ich mit Legitimität meine. Ich beziehe mich auf einen Autor, der sehr viel dazu geschrieben hat, und zwar nicht nur theoretisch, sondern dann auch zur Europäischen Union, nämlich David Beetham, mit dem schönen kurzen, prägnanten Satz: „Where power is acquired and exercised according to justifiable rules, and with evidence of consent, we call it rightful or legitimate.“ Also der Wert und die Ausübung von Macht ist nur dann legitim, wenn sie rechtfertigbaren Regeln gehorcht und auf der Evidenz von Zustimmung beruht.

Rechtfertigung ist überhaupt ein Kernelement von Demokratie, von demokratischen Verfahren. Erst dann können nämlich rechtsunterworfene Normadressaten oder Wähler/Wählerinnen überhaupt Zustimmung signalisieren: wenn sie wissen, worum es geht und wie der Entscheidungsträger/die Entscheidungsträgerin das, was er oder sie entschieden hat, rechtfertigen kann.

In einer repräsentativen Demokratie ist das Parlament der erste Ort, an dem diese Rechtfertigung erfolgt oder zu erfolgen hat, und die Beschneidung oder Umgehung von parlamentarischen Verfahren ist daher das erste Anzeichen eines Demokratieproblems. Folglich kann es wenig überraschen, dass auch in der Union Parlamentarisierung mit der Lösung des Demokratiedefizits einhergehen soll, also zunächst Auf- und Ausbau des EP, sein kontinuierlicher Kampf um die Ausweitung von Rechten bis hinauf zum Vertrag von Lissabon, in dem es endlich zum gleichberechtigten Co-Gesetzgeber wurde, wenn auch nicht in allen Politikbereichen.

Trotzdem bleiben Probleme hinsichtlich der Wahrnehmung durch die Wähler dieses Parlaments bestehen. Eine relativ geringe Wahlbeteiligung beklagen wir jedes Mal, in manchen Staaten ist sie dramatisch niedrig, und schließlich ist auch die ewig von uns theoretisierte Second-order-election-Natur dieser Wahlen ein Thema, also es geht de facto immer um nationale Themen, auch in EP-Wahlen, ob uns das gefällt oder nicht.

Die Kommunikation der Mitglieder des Europäischen Parlaments mit ihren Wahlkreisen ist auch nicht immer überzeugend, sie ist allerdings auch proportional zur Entfernung, proportional zur Arbeit, die man im Europäischen Parlament zu erfüllen hat. Der Zeitfaktor ist in der Politik immer ein unterschätzter. Die Unzufriedenheit des Volkes, der Wähler/Wählerinnen mit den Abgeordneten oder anderen Amtsträgern kennen wir zur Genüge, und da ich ja auch einmal kurz die Ehre hatte, diesem Haus anzugehören, weiß ich, was das heißt. Wenn man viel im Hause arbeitet, bleibt naturgemäß weniger Zeit für die Kommunikation, und das verschärft sich in dem Augenblick, wo wir vom Europäischen Parlament reden, weil da noch einmal ganz andere Verpflichtungen und Dynamiken vorherrschen.

Seit geraumer Zeit  ich würde sagen, mindestens seit dem Vertrag von Amsterdam, dann immer stärker nach Nizza  taucht diese Idee auf, die nationalen Parlamente als Kompensation für das, was das EP nicht zu leisten vermag, einzusetzen, um die Legitimationsgrundlage der Union zu erweitern. Ich trage hier Eulen nach Athen, Artikel 12 des EUV in der Fassung von Lissabon ist Ihnen allen bekannt, mit der berühmten Formulierung, die nationalen Parlamente tragen zur guten Arbeitsweise der Union bei, einmal durch die beständige Informationspflicht über die Gesetzgebungsakte der Union und dann durch die Möglichkeit der Subsidiaritätsprüfung nach bestimmten Regeln, wie sie im Protokoll zum Vertrag festgelegt sind, plus Bewertung von Vorhaben im Bereich Polizei und Justiz, Vertragsänderungen, Beitritte, interparlamentarische Zusammenarbeit  das sind sozusagen die Säulen dieses neuen Aufrufs des Vertrages, die nationalen Parlamente zu beteiligen.

Das ist alles gut und schön, aber eine wirkliche Beteiligung – und da trage ich jetzt wahrscheinlich auch ein bisschen Eulen nach Athen –, die wirklich dramatische Beteiligung entstand mit der Finanz- und Fiskalkrise. Die intergouvernementalen Rettungsmechanismen wie das erste Griechenlandpaket, die EFSF, der ESM und dann schließlich der Fiskalpakt, zum Teil auch, wenn auch in kleinerem Ausmaß, die Bankenunion sind jene Pakete, die nationale Parlamente in eine völlig neue Machtposition gebracht haben, denn dadurch, dass es eben intergouvernemental gelöst wurde, blieb nur mehr eine Legitimationsquelle über, und das sind die nationalen Parlamente – und zwar auf beiden Seiten, in den Staaten der Kreditgeber wie in den Staaten der Kreditnehmer.

Da beginnt meines Erachtens das Dilemma der europäischen Demokratie, nämlich dass die Parlamente der Kreditgeber über die Memoranda of Understanding, Troika, Quadriga, tief in die Befugnisse der Parlamente der Kreditnehmer eingreifen. Das ist unvermeidlich, solange das Konstrukt so ist, wie es ist, aber es birgt auch Probleme, und ich bin mit dieser Diagnose nicht allein.

In den meisten Parlamenten der Kreditgeber – das gilt vor allem für Deutschland, Österreich, die Niederlande, Finnland, aber auch Estland – wurden die Rechte der Parlamente in der Mitwirkung an diesen Entscheidungen zum Teil erheblich ausgeweitet – keine Sorge, ich trage Ihnen jetzt nicht die Artikel vor, die Sie alle wesentlich besser kennen als ich, ja, Sie haben sie gemacht –, während das in jenen der Kreditnehmer nicht geschah. Das wirklich Dramatische ist aber, dass auch ihre sonstigen Spielräume in der Fiskal-, Sozial- und Gesundheitspolitik massiv eingeschränkt wurden.

Das heißt, der berühmte Satz des deutschen Verfassungsrichters Udo Di Fabio, jetzt außer Dienst, in der deutschen Auseinandersetzung um die Parlamentsrechte in der Krisenpolitik, nämlich dass das Budgetrecht das Kronjuwel des Bundestages ist, gilt nur für die Parlamente der Kreditgeber, aber nicht für jene der Kreditnehmer. Diese Asymmetrie belastet die Beziehungen der Mitgliedstaaten erheblich und ist Ursache für die bis in die jüngste Zeit stetig gewachsene euroskeptische Haltung.

Wenn ich noch einmal auf Lord und Beetham zurückkommen darf, dann beruht nach ihrem Denken über Legitimität diese auf drei Kriterien: “[P]erformance in meeting the needs and values of citizens; public control with political equality; and a sense of identity without which the legitimacy of the unit will be contested, however impeccable its procedures.”

Nun, das Kriterium, dass die Leistung des politischen Systems in der Korrespondenz des Handelns der politischen Akteure mit den Bedürfnissen und Werten der Bürger und Bürgerinnen besteht, ist nur halb erfüllt; diese Sehnsucht wird bei den Kreditgebern, aber nicht bei den Kreditnehmern erfüllt.

Das Kriterium der öffentliche Kontrolle unter Wahrung der politischen Gleichheit ist ebenso asymmetrisch verteilt, weil nicht alle Parlamente über die gleichen Rechte verfügen. Gut, hier könnte man sagen, selber schuld, wenn sich diese Parlamente diese Rechte nicht holen, aber es schafft Asymmetrie.

Die Identifizierung mit der Gemeinschaft wiederum blieb auf beiden Seiten prekär. Die Bürger der Kreditnehmer gewannen, nicht zuletzt aufgepeitscht durch euroskeptische Parteien – manche euroskeptischen Parteien sind ja dann auch noch neu entstanden –, aber vor allem auch durch Medien, den Eindruck, sie zahlen, und das sei ihre einzige Aufgabe, für die Misswirtschaft in den Staaten der Kreditnehmer, während die Bürger und Bürgerinnen Letzterer sich durch die Austeritätsbedingungen der Kreditgeber majorisiert sehen. Es gibt überhaupt keine Unterscheidung in diesem Diskurs gegenüber den Kreditnehmern, dabei wissen wir alle, dass die Probleme Griechenlands nicht die gleichen sind wie jene Spaniens, Portugals oder Irlands. Spanien hatte überhaupt nie ein Schuldenproblem, auch Irland hatte kein Schuldenproblem, bis zu dem Zeitpunkt, als die Banken gerettet werden mussten. Das heißt, da werden alle in einen Topf geworfen, ohne Distinktion.

Was natürlich in den Kreditnehmerstaaten als besonders dramatisch empfunden wurde, ist, dass es sich um Bankenrettungen handelte, während die Unterstützung der Bürger nicht erfolgte, vor allem für jene, die Jobs verloren haben und massive Einbußen in der Gesundheitsversorgung hinnehmen mussten. Das ist sozusagen die Welt, die auch in den Parlamenten der Kreditgeber wenn überhaupt, dann höchst eingeschränkt wahrgenommen wurde.

All das geschieht vor dem Hintergrund, dass der Euro verschwindet. Frau Merkel hat das etwas dramatischer ausgedrückt: Fällt der Euro, fällt Europa! Das ist sozusagen das Asset, mit dem man versucht hat, den Euro zu retten, um Europa zu retten, und Dinge zu tun, deren Legitimität auch auf der Grundlage der existierenden Verträge infrage gestellt wurde. Erst heute – und vielleicht ist das die Notwendigkeit, dass man solche Krisen erst einmal irgendwie bewältigen muss, bevor man zum Nachdenken kommt, ob das klug, ob das angemessen war, und sich die Fragen neu stellt – dämmert es einigen Akteuren in der Europäischen Union – und das stimmt mich wiederum sehr positiv –, dass diese Asymmetrie gefährlich ist und dass vor allem die Asymmetrie zwischen einer zentralisierten Geldpolitik und einer dezentralisierten Wirtschafts- und Fiskalpolitik korrigiert werden muss, wenn denn die ganze Konstruktion auf Dauer gestellt werden soll.

Beim Thema Eurorettung gab es ja – und auch da haben die nationalen Parlamente eine große Rolle gespielt, nicht zuletzt der Deutsche Bundestag – die Frage, ob das wirklich die Aufgabe der Europäischen Zentralbank ist, ob die Europäische Zentralbank überhaupt ein Mandat hat, das zu tun.

Das war ja mit ein Grund, warum manche deutschen Abgeordneten nach Karlsruhe gegangen sind. Karlsruhe hat, und das ist ja auch sensationell, zum ersten Mal ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH angestrebt, aber es bleibt sozusagen dieses Unbehagen, ob OMT, also Outright Monetary Transactions, und QE, also Quantitative Easing, legitime Instrumente sind, nämlich legitim im Sinne des Handelns der EZB. Diese Frage ist natürlich für einen Juristen in dem Augenblick erledigt, in dem sie der EuGH erledigt, aber das Unbehagen bleibt.

Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit ein Gespräch mit einem amtierenden Verfassungsrichter in Karlsruhe, einem ehemaligen Innenminister eines deutschen Bundeslandes, der sagte: Es werden in absehbarer Zeit drei weitere solche Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH gerichtet werden, wieder einmal zum OMT, aber auch zur Geldüberflutung, wenn man so will, der Märkte seit Jänner 2015.

Das führt allerdings zur Abgabe von Entscheidungen sehr wichtiger Natur an Gerichte. Es sind nicht die Ergebnisse von Debatten von Parlamenten, sondern man hofft, dass ein Gericht eine ultimative Wahrheit ausspricht und damit das Thema erledigt ist.

Was heißt das für den Parlamentarismus? Was heißt das für die Demokratie? Es heißt zunächst einmal, dass wir in der heutigen Welt unter den Bedingungen von globalisierten Finanzmärkten mit einer Komplexität von Fragestellungen konfrontiert sind, die wir bestenfalls technokratisch zu lösen vermögen. Ich war letzte Woche in Frankfurt bei der Europäischen Zentralbank mit meinen Studenten. Die Europäische Zentralbank verfügt über einen der brillantesten Kommunikatoren aller Zeiten, Gabriel Glöckler  vielleicht ist Ihnen der gute Mann schon einmal untergekommen , der verkauft jede Politik, die die EZB macht, auf geniale Weise. Sein alle entwaffnendes Argument ist immer: Wer hätte denn gehandelt, wenn nicht wir? Wer hätte überhaupt die Macht gehabt, so zu handeln, wie wir gehandelt haben? Alles, was die Finanzmärkte erwarteten, war die Ankündigung, es wird so etwas wie einen Backstop geben, und es reichte die berühmte Aussage von Draghi in London, um dieses sozusagen psychologische Drama zu entschärfen.

Ein anderer Technokrat, wenn ich ihn so bezeichnen darf, Mario Monti, der ja über den italienischen Staatspräsidenten zum Premier wurde, nachdem Berlusconi das Handtuch werfen musste  ich glaube, nicht wollte, aber musste , verstieg sich als Regierungschef eines sogenannten Governo tecnico, wie die Italiener das nennen, einmal in einem „Spiegel“-Interview zu folgendem Satz, und das sagt vielleicht viel mehr über diese Dilemmata, wer worüber in welcher Geschwindigkeit mit welcher Legitimität entscheidet, aus, als so mancher andere: „Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden ließen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu bewahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration.“

Ich habe mir damals die italienischen Debatten im Parlament angesehen, und der Aufschrei war natürlich groß: Wie wagt es ein Premier, das Parlament dermaßen zu denigrieren! Am Ende haben sie aber seinen Dekreten zugestimmt. Also Sie sehen, was für eine Art von Erpressung, ja, das ist jetzt ein starkes Wort, aber auf jeden Fall, welche Druckverhältnisse entstehen, wenn es um so viel geht wie in der Finanzkrise, solange es einen Konsens darüber gibt, dass der Euro und die Union erhalten bleiben sollen. Wenn das einmal nicht mehr der Fall ist  und das ist das, was wir im Vereinigten Königreich gerade erlebt haben , dann entsteht eine schiefe Bahn.

Jetzt stellt sich die Frage: Können nationale Parlamente dagegen Wirkung entfalten? Oder anders formuliert: Wie könnten sie das tun? Ist das eine Aufgabe, die sich nationale Parlamente überhaupt stellen, bewusst stellen? Zwei Wiener Kollegen von mir, Johannes Pollak und Peter Slominski, haben einmal hier im Haus eine Interviewserie mit Abgeordneten zu folgender Frage gemacht: Sehen sich nationale Parlamentarier als Transmissionsriemen zwischen diesem Haus, aber auch der Europäischen Ebene und den Wählern und Wählerinnen? – Diese Frage wurde durchgängig mit Nein beantwortet: Das ist nicht unsere Aufgabe, das ist die Aufgabe der Abgeordneten zum Europäischen Parlament!

Wenn allerdings die Macht der nationalen Parlamente so wächst, wie sie im Zuge der Finanzkrise gewachsen ist, dann werden wohl die nationalen Parlamentarier nicht umhinkommen, sich als Kommunikatoren, als Transmissionsriemen zwischen diesen Entscheidungen und ihrer Wählerschaft zu definieren oder zumindest auch zu definieren.

Vielleicht, und das wäre wahrscheinlich die einfachere Lösung, sollten wir eine neue europäische Verfassungsdebatte ich weiß, die, die mich gut kennen, langweilen sich jetzt gleich zu Tode eröffnen, die die Kompetenzen klarer löst. Und vielleicht wäre es auch für nationale Parlamente ein Stück Entlastung, nicht mehr entscheiden zu müssen, was in anderen Parlamenten passiert oder passieren muss, sondern diese Aufgabe wirklich zu supranationalisieren. Das wäre jedenfalls ein Rat von mir, wenn denn dieser überhaupt gefragt ist: eine neue Verfassungsdebatte auf der Grundlage der vielen Vorschläge zu führen, die jetzt daliegen, von den Vier-Präsidenten-, Fünf-Präsidenten-Berichten bis hin zum Weißbuch der Europäischen Kommission mit ihren Unterkapiteln als Reflexionspapiere, die alle in Richtung stärkerer Zentralisierung gehen.

Wenn das realisierbar wird, und Angela Merkel und Emmanuel Macron scheinen in diese Richtung gehen zu wollen, aber wir werden das alles erst nach der deutschen Wahl erfahren, dann kommen wir nicht umhin, auch auf europäischer Ebene die Politik so zu parlamentarisieren, dass wer immer auf europäischer Ebene agiert, einem Europäischen Parlament gegenüber verantwortlich ist. Das schmälert nicht die Funktion der nationalen Parlamente, aber die Kompetenzen würden klarer getrennt werden und es würde nicht so eine  verzeihen Sie, wenn ich das etwas salopp sage  unsinnige Debatte wie bei CETA entstehen, dass erst im Laufe der Zeit klar wird, ob es sich um ein EU-Abkommen oder um ein gemischtes Abkommen handelt. Diese Dinge ex ante zu klären, würde in vielerlei Hinsicht den Debatten guttun und würde uns manche Aufstände wahrscheinlich ersparen.

Ich glaube, dass nationale Parlamente in der Rechtfertigung der Politik der Europäischen Union eine wichtige Rolle ausüben könnten, solange sie auch daran teilhaben, aber sie sollten nicht Dinge verantworten müssen, die sie nicht verantworten; das sollten jene tun, die es zu verantworten haben, auf europäischer Ebene. Da spreche ich jetzt natürlich von großer Zukunftsmusik, über deren Realisierung noch viel gestritten werden wird, aber ja, so etwas wie die Einrichtung eines Finanzministeriums, die Einrichtung einer, wenn auch minimalen, Steuerhoheit auf europäischer Ebene, das wird ohne entsprechende Repräsentanz auf europäischer Ebene nicht abgehen, und da müssen auch diese Akteure verantwortlich sein und rechtfertigen, was sie tun.

Ein allerletzter Punkt, mit dem ich schließen möchte, ist: Wir haben – zumindest ist dies mein Eindruck – eine zu geringe Auseinandersetzung darüber, wie wir heute überhaupt Gesellschaften organisieren wollen, welche Rechte und Pflichten Bürger haben oder nicht haben, was wir ihnen an Sozialstaatlichkeit zukommen lassen wollen oder nicht zukommen lassen wollen.

Im Grunde genommen ist das ein Kampf um Hegemonie, das hat auch der Herr Bundeskanzler einmal in einem Gespräch gesagt, der meines Erachtens als natürlichen Austragungsort das Parlament hätte, und das wünsche ich mir: einen Parlamentarismus, der nicht nur um Regeln streitet – das ist zwar wichtig, um Regeln muss man immer streiten, als Fußballer weiß ich das –, sondern auch darüber, was wir spielen werden. Was spielen wir überhaupt noch unter den Bedingungen globaler Finanzmärkte und bei den Möglichkeiten, die eine globale Marktwirtschaft bietet, auch für das Fliehen aus Verantwortung? – Das sollten, finde ich, gerade Parlamente diskutieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall.)