4059/J XXVI. GP

Eingelangt am 26.07.2019
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

der Abgeordneten Daniela Holzinger-Vogtenhuber, BA, Kolleginnen und Kollegen,
an den
Bundesminister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz
betreffend Reformbedarf in Obsorgeverfahren nach „Kindsabnahmen"

In Österreich leben rund 13.600 Kinder und Jugendliche (vorübergehend) nicht in ihren Herkunftsfamilien. Von diesen werden im Rahmen der „vollen Erziehung" rund 8.400 Heranwachsende außerhalb ihrer Herkunftsfamilie in sozialpädagogischen Einrichtungen betreut.

Wichtig für das Wohl der Jugendlichen ist nach einhelliger Expertenmeinung, dass ihre Beziehung zu Familie (Geschwister, nicht betroffene Elternteile,...) und Freunden nicht abreißt, insbesondere dass Kindern ihre Eltern als wichtige Bezugspersonen erhalten bleiben. Von sämtlichen internationalen Standards werden regelmäßige Besuchsmöglichkeiten gefordert, zB in den Havana-Regeln, den Beijing-Regeln (vgl. Sonderbericht der Volksanwaltschaft - Kinder und ihre Rechte in öffentlichen Einrichtungen 2017) S. 92f). Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieft ebenfalls das Recht auf persönliche Kontakte: „Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens".

Dennoch werden diese für das Kindeswohl so notwendigen Kontakte nach Kindesabnahmen häufig unverhältnismäßig beschränkt oder sogar unterbunden.[1] Von den KJHT werden dafür zT mangelnde Ressourcen (zB für die Besuchsbegleitung) als Begründung angeführt. Oft ist aber auch die Wahl der Unterbringung in großer räumlicher Distanz zum Wohnort der Eltern Grund für die faktische Beschneidung der Kontakte und damit verbundene Entfremdungsgefahr. So wird im Bericht der Volksanwaltschaft (Sonderbericht - Kinder und ihre Rechte in öffentlichen Einrichtungen 2017) bemängelt, dass die Unterbringung in vielen Fällen außerhalb des Bundeslandes erfolgt. Als Grund werden die Zuschläge angegeben, welche die privaten Träger für Minderjährige aus anderen Bundesländern verlangen können und die somit deren Versorgung attraktiver machen (vgl. S. 25).

Der Großteil der budgetären Mittel wird laut Kinder- und Jugendhilfestatistik 2017 (S. 42) für die volle Erziehung aufgewendet und nur ein geringer Teil für andere Erziehungshilfen. So sind es beispielsweise in Wien 94,8% der Ausgaben, die für die „volle Erziehung" anfallen (auch im Bundesschnitt sind es immerhin noch 76,1%), während nur ca 5% der Mittel als Erziehungshilfe in den Familien landen.

Viele der Kinder/Jugendlichen in Fremdunterbringung befinden sich aufgrund einer Kindesabnahme wegen „Gefahr im Verzug" (§ 211 ABGB), also nur vorläufig, in voller Erziehung unter der Obsorge des Kinder- und Jugend-Hilfe-Trägers (KJHT). Sie warten in dieser Situation - wie ihre Eltern - auf den endgültigen Ausgang des Obsorgeverfahrens. Dieses Verfahren unterliegt jedoch (abgesehen von dem allgemeinen gesetzlichen Auftrag zur zügigen Verfahrensführung) keiner bestimmten Frist. Auch kleine Kinder bleiben daher oft monatelang, manchmal sogar jahrelang, in Fremdunterbringung, bis eine Gerichtsentscheidung ergeht, welche im besten Fall dann feststellt, dass die Bedenken des Jugendamts ohnehin nicht begründet waren und die Erziehungsfähigkeit der Eltern gegeben ist.

Während im Fall der unfreiwilligen Unterbringung eines Erwachsenen (wegen seiner vermuteten Gefährlichkeit) im Unterbringungsgesetz strenge Fristen gelten (nämlich: unverzügliche Verständigung des Bezirksgerichts von der Anhaltung, Besuch des Untergebrachten durch einen Richter binnen vier Tagen, Abhaltung einer mündlichen Verhandlung binnen 14 Tagen, zu der bereits bis zu zwei Sachverständigengutachten vorliegen müssen und an deren Ende der mit Rekurs bekämpfbare Beschluss über die Zulässigkeit der Unterbringung fällt), ist im Fall einer Kindesabnahme wegen vermuteter Kindeswohlgefährdung vom KJHT das Gericht binnen 8 Tagen zu verständigen, der Richter/die Richterin nicht verpflichtet, das Kind persönlich zu besuchen, und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Unterbringung in Fall eines Antrags „tunlichst binnen vier Wochen", also ohne zwingende Frist, zu treffen, wobei es gegen die vorläufige Zulässigerklärung der Unterbringung sodann bis zur endgültigen Gerichtsentscheidung (die uU erst Monate später ergeht) nicht einmal ein Rechtsmittel gibt.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

ANFRAGE:

1.       Welche Verfahrensdauer halten Sie in Obsorgeverfahren während (vorsorglicher) Fremdunterbringung des Kindes/Jugendlichen durch den KJHT, angesichts des
schwerwiegenden und fortdauernden Grundrechtseingriffs (Art 8 EMRK) in die Rechte des
Kindes und seiner Familienangehörigen durch die Fremdunterbringung, bis zur endgültigen Entscheidung über die Obsorge für zumutbar:

a)       Bei Kleinkindern?

b)       Bei Kindern im Kindergartenalter?

c)       Bei älteren Kindern bzw Jugendlichen?

2.       Wäre Ihrer Ansicht nach eine Übernahme der kurzen Fristen des Unterbringungsgesetzes (14
Tage bis zur erstmaligen Entscheidung über die Zulässigkeit der Maßnahme) in das Verfahren
nach Kindesabnahmen iSd § 211 ABGB im Zuge einer Reform sachgerecht?

a)       Wenn nein, warum nicht?

b)       Gibt es in Ihrem Ministerium bereits Pläne für eine Reform des Obsorgeverfahrens im
Anschluss an eine Kindesabnahme? Wenn ja, mit welchen Zielen und wann ist mit einer Regierungsvorlage zu rechnen?

3.       Viele von einer Kindesabnahme betroffene Eltern unterlassen die gern § 107a AußStrG nur
einmalig binnen vier Wochen mögliche Antragstellung auf Überprüfung der Maßnahme, weil
ihnen zB
vom KJHT für den Fall des Unterbleibens dieses Antrags eine nur kurzfristige
Unterbringung oder Erleichterungen beim Besuchen des Kindes in Aussicht gestellt werden.

a)       Befürworten Sie die Einführung einer Möglichkeit, auch nach Ablauf von vier Wochen
nach Kindesabnahme die Überprüfung der Maßnahme auf ihre Zulässigkeit zu
beantragen (wie
in der Rechtswissenschaft vorgeschlagen, vgl Mayrhofer/Salicites, iFamZ
2015, 60)?

b)       Wenn nein, warum nicht?

4.       Wäre Ihrer Ansicht nach eine Übernahme der im Unterbringungsgesetz vorgesehenen Pflicht
zum persönlichen Besuch beim Betroffenen durch den/die Richter/in auch im Verfahren nach
einer Kindesabnahme sachgerecht?

a)       Wenn nein, warum nicht?

b)       Ist aus Ihrer Sicht die Regelung (§ 105 AußStrG), dass selbst in Verfahren, in denen der
KJHT Partei ist - und sogar nach einer Kindesabnahme durch den KJHT wegen Gefahr im Verzug - der KJHT uU anstelle des Gerichts die Befragung des Kindes selbst durchführen
kann, reformbedürftig (so zB Deixler-Hübner/Schmidt in iFamZ 2015, 271)? Halten Sie
eine Befragung generell durch eine unabhängige Person, beispielsweise aus der Familiengerichtshilfe, für sachgerechter?

5.       Bestehen im Justizministerium Reformbestrebungen, um die der Verfahrensobjektivität abträgliche Doppelrolle des KJHT einerseits als Partei des Obsorgeverfahrens und
andererseits als sachverständiger „Berater
" des Gerichts durch die Abgabe von
Stellungnahmen, aufzulösen?

a)       Wäre Ihrer Meinung nach die zwingende Einschaltung der Familiengerichtshilfe und/oder eines unabhängigen Kinderbeistands (wie verschiedentlich vorgeschlagen wird, s Literaturhinweis in Frage 3) eine erstrebenswerte Reform im Verfahren nach § 211
ABGB?

b)       Wenn ja, (wann) werden Sie eine entsprechende Regierungsvorlage vorbereiten?

6.       Viele Bundesländer bringen Minderjährige auch weit entfernt von ihrer Familie und dem gewohnten Umfeld in einem anderen Bundesland unter, zB Burgenland 29,22% der Minderjährigen, wie im Sonderbericht der Volksanwaltschaft (Kinder und ihre Rechte in öffentlichen Einrichtungen 2017, S. 25ff) angeführt wird. Welche Schlüsse werden seitens des Ministeriums daraus gezogen und wie will man dem entgegenwirken?

7.       Regelmäßige Besuchs- bzw. Kontaktmöglichkeiten werden von sämtlichen internationalen Standards gefordert, zB in den Havana-Regeln, den Beijing-Regeln (vgl. Volksanwaltschafts-
bericht S. 91f) oder
im Artikel 8 der Menschenrechtskonvention. Diese Kontaktmöglichkeiten
sind in vielen Fällen nicht in ausreichender Form gegeben (s auch Frage 6).

Welche gesetzlichen Möglichkeiten bestehen für das Pflegschaftsgericht, auf den Ort der Unterbringung und die Häufigkeit der Kontakte zu Eltern, Geschwistern und Freunden in
Fällen der vollen Erziehung durch den KJHT, a) von amtswegen/b) auf Antrag, einzuwirken
und werden diese Möglichkeiten in der Praxis von den Gerichten hinreichend ausgeschöpft?

8.       Der Großteil der budgetären Mittel wird laut Kinder- und Jugendhilfestatistik 2017 (S. 42) für
die volle Erziehung aufgewendet und nur ein geringer Teil für andere Erziehungshilfen. So
sind es beispielsweise in Wien 94,8% der Ausgaben, die für die „volle Erziehung
" ausgegeben werden, im Bundesschnitt sind es immerhin noch 76,1%.

Welche gesetzlichen Möglichkeiten bestehen für das Pflegschaftsgericht, a) von
amtswegen/b) auf Antrag, sonstige Erziehungshilfen des KJHT in den Familien anstelle einer Kindesabnahme anzuordnen, und werden diese Möglichkeiten in der Praxis von den
Gerichten hinreichend ausgeschöpft?

9.       Gibt es Pläne des Ministeriums zu einer gesonderten Evaluierung der Obsorgeverfahren in Zusammenhang mit Kindesabnahmen? Wenn ja, in welchem zeitlichen Rahmen soll die Evaluierung stattfinden?

 

10.   Im Fachdiskurs besteht Einigkeit, dass in dem höchst sensiblen öffentlichen Aufgabenbereich
der Kinder- und Jugendhilfe eine qualitätsvolle Betreuung unabdingbar ist.

Welche gesetzlichen Möglichkeiten bestehen für das Pflegschaftsgericht, a) von
amtswegen/b) auf Antrag, die Qualität der Betreuung in voller Erziehung zu überprüfen und
durch konkrete Anordnungen sicherzustellen, und werden diese Möglichkeiten in der Praxis
von den Gerichten hinreichend ausgeschöpft?



[1] Vgl die jährlichen Berichte der Volksanwaltschaft, zB Bericht der VA an den Wiener Landtag 2016, S. 33 f;
Bericht der VA
an den Wiener Landtag 2015, S. 42 f; uva.