11.06

Abgeordneter Mag. Dr. Matthias Strolz (NEOS): Frau Präsidentin! Geschätzte Re­gierungsmitglieder! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verhandeln das Thema EU-Ratsvorsitz von Österreich, das ist natürlich eine sehr gewichtige Aufgabe, die der ös­terreichischen Bundesregierung da bevorsteht, und es ist auch eine Zeit schicksal­hafter Entscheidungen für Europa. Ich glaube, wir stehen am Vorabend großer Wei­chenstellungen für unseren Kontinent, und die Qualität dieser Weichenstellungen, vor allem die Richtung, die wir dem geben, wird darüber entscheiden, ob Wohlstand, Si­cherheit und Lebensqualität auf diesem Kontinent, in dieser gemeinsamen Europäi­schen Union, in unserer Union auch weiterhin jenen Platz haben werden wie bisher, in den letzten Jahrzehnten.

Ich höre die wohlgesetzten Worte, selbst aus dem Munde eines FPÖ-Politikers, zu die­sem Zeitpunkt, sitze in meinem Sessel und kann teilweise nicken (Ruf: Gut so!); ich sage: Ja, das sind wohlgesetzte, wohlgewählte Worte! Dann ergibt sich aber eine Wort-Bild-Schere angesichts dessen, was Sie tun, angesichts der Allianzen, die Sie su­chen.

Ich lade uns alle dazu ein, an diesem Vorabend großer Entscheidungen in Europa ei­nen Schritt zurückzugehen und zu schauen, in welcher Lage, in welcher Situation wir sind. Wir stehen, Europa steht in einem Ring aus Feuer: beginnend bei Nordafrika, ei­nem ganzen Band an instabilen Staaten mit bürgerkriegsähnlichen Turbulenzen oder unberechenbaren Diktaturen, über Syrien, das seit Jahren im Krieg taumelt, mit Hun­derttausenden Toten, mit Millionen Flüchtlingen, bis hin zur Ukraine im Nordosten – wir hätten es nicht für möglich gehalten, dass wir in einen Krieg stolpern, bringen aber diesen Krieg nicht mehr weg, einen latent flammenden Bürgerkrieg. Im Nahen Osten ist die Lage insgesamt hochexplosiv, und da sind auch keine Lösungskonzepte in Sicht, die zu einer Beruhigung beitragen könnten. – Das ist unsere Nachbarschaft, die brennt.

Wir haben – wir wissen nicht, ob auf Dauer, aber nach sieben Jahrzehnten dann doch schmerzhaft – unseren wichtigsten Verbündeten, die Vereinigten Staaten, verloren: völlig unberechenbar, taumelt durch die Weltgeschichte, testosterongesteuert. Der Hashtag: Ich hab den Längeren!, leitet irgendwie die Politik einer ganzen Nation. Das ist gewissermaßen absurd, aber für Europa natürlich ein Weckruf, endlich erwachsen zu werden, seine Geschicke in die eigene Hand zu nehmen.

Wir haben auf der anderen Seite Russland, das sich beginnend mit September 2015 – da war es weltpolitisch noch irgendwie verloren – auf die weltpolitische Bühne zurück­gebombt hat, mit großem Erfolg, die sind wieder wer. Russland hat mit hohem Blutzoll diesen Status herbeigebombt, die Mittel sind akzeptiert, das Ziel ist erreicht. Das ist das neue Russland, das sich auch anmaßt, in nationale Wahlkämpfe einzugreifen, ganze Trollfabriken in Stellung zu bringen, um in Wahlkämpfe einzugreifen. Das ist jen­es Russland, das auch hofiert wird, mit dem von österreichischen Regierungsparteien Freundschaftsverträge abgeschlossen werden. (Ruf bei der FPÖ: Gott sei Dank ...!) – „Gott sei Dank“, sagen Sie. (Zwischenruf des Abg. Wittmann.)

Na ja, „Gott sei Dank“: Das ist das Russland, das Regierungskritiker einsperrt, ins Ge­fängnis sperrt, ohne rechtsstaatliche Prozesse, das sich noch einmal auf die weltpoli­tische Bühne zurückgebombt hat – das kann man gut finden, ich finde es nicht gut. Es geht um Menschen, die heute tot sind, zu vielen Tausenden; das sind Regime, die auch jenseits europäischer Grundwerte agieren – aber natürlich mit toller Inszenierung, und vielleicht findet das Ihren Beifall und ist das die Attraktion. Ich bin nicht beein­druckt, wenn einer mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd herumreitet (Abg. Lugar: Wenn’s heiß ist!), aber ich nehme zur Kenntnis, dass es wirkungsvolle Bilder sind; Sie sollten aber nicht staatspolitische Dynamiken daran knüpfen. (Zwischenrufe der Abge­ordneten Stefan und Kassegger.)

Wir gehen dann ein Stück weiter Richtung China, eines Landes mit 1,4 Milliarden Ein­wohnern, das in den nächsten fünf Jahren hinsichtlich des Bruttosozialprodukts die Vereinigten Staaten ablösen wird, damit die größte Wirtschaftsnation auf diesem Pla­neten sein wird und das zunehmend auch mit einem weltpolitischen Gestaltungsan­spruch verbindet. (Ruf: Strolz auf Weltreise!) – Ja, unser Leben findet in einer Welt statt, das ist eben die Erkenntnis. (Zwischenruf bei der FPÖ.) Sie feiern den Natio­nalstaat, wir anerkennen, dass wir heute in einer Welt leben, in der wir schon davon abhängig sind, was in China passiert (Abg. Martin Graf: Was wollen Sie uns sagen?); nicht wenn dort ein Fahrrad umfällt, aber wenn China, natürlich auch mit einem Werte­anspruch, der nicht derselbe ist wie der europäische, auf die weltpolitische Bühne kommt, dann wird ein gewisser Wind gehen, angesichts dessen wir halt angezogen sein sollten – und wir sind nicht angezogen! (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordne­ten von SPÖ und Liste Pilz. – Zwischenrufe der Abgeordneten Rosenkranz und Stefan.)

Europa ist nackt. Wir sind in der Geiselhaft von Nationalisten und Populisten, die hier am Tag der österreichischen Regierungserklärung zwar sagten: Wir sind für proeuro­päische Haltungen!, während am selben Tag FPÖ-Politiker in Prag bei einer Konferenz jener Rechtsaußenpolitiker waren, die sagen: Wir wollen die Europäische Union zer­stören! – Das ist einfach die Wahrheit, das können Sie durch noch so wohlgesetzte Worte nicht hinwegfegen.

Heute ist ein Tag nach der Beobachtung, dass der österreichische Bundeskanzler die deutsche Bundeskanzlerin an die Wand drückt. Es ist imposant, wenn das ein Bun­deskanzler eines kleinen europäischen Landes macht, der 31 Jahre alt ist; imposant ist das allemal! Ich habe an der handwerklichen Fähigkeit von Sebastian Kurz nie ge­zweifelt, das ist ganz großes Kino! Ich zweifle aber an seiner Vision und an den Zielen, denen er dient. (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Liste Pilz.)

Ich halte das für seelenlose Politik, die Sie vorantreiben, diese Achsen von Salvini über Orbán über Seehofer bis Kurz. (Zwischenrufe der Abgeordneten Höbart und Schima­nek.) Das ist seelenlose Politik. Mit der kann man Wahlen gewinnen, jawohl, aber mit der kann man Europa keine Seele geben – und Europa braucht eine Seele! (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Liste Pilz. – Zwischenruf des Abg. Hauser.)

Europa braucht eine Seele, und die heißt: in Vielfalt vereint!; und das wird nur auf Basis unserer gemeinsamen Werte passieren. Das sind natürlich Gleichheit, Freiheit, Geschwisterlichkeit. (Zwischenruf bei der FPÖ.) Geschwisterlichkeit heißt, dass wir ge­meinsam Lösungen suchen – und die suchen Sie nicht; Sie suchen die Spaltung, weil Sie wissen, dass Sie mit der Spaltung Wahlen gewinnen können. Sie haben das in Österreich gemacht, und jetzt wollen Sie es in Europa machen. Das ist grundfalsch! (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Liste Pilz. – Zwischenruf des Abg. Hauser.)

Und das Ganze wird natürlich immer mit einem sehr seriösen Auftritt, mit einer profes­sionellen Inszenierung, auch mit dem Charme eines tollen Schwiegersohns kombiniert, aber in der Essenz ist es falsch. (Zwischenruf des Abg. Gerstl.) Um in biblischen Wor­ten zu sprechen, weil hier schon die christliche – gemeint war: die katholische – Sozial­lehre bemüht wurde (Abg. Schimanek: ... großes Kino!): Wer große Talente hat, ist in der Pflicht, sie auch mit großer Verantwortung zu nutzen. (Zwischenrufe der Abgeord­neten Herbert und Wöginger. – Weitere Zwischenrufe bei der ÖVP.) Das ist das Gleichnis der Bewirtschaftung der Talente. Ich war zehn Jahre lang Ministrant, und das ist eine der Geschichten, die mir immer gefallen haben und die ich mir gemerkt habe. (Heiterkeit der Abgeordneten Gamon und Rendi-Wagner sowie Beifall bei den NEOS.)

Sebastian Kurz, du hast großartige Talente – nutze sie bitte für andere Allianzen als mit Orbán, Salvini, Seehofer und - - (Ruf: Merkel!) – Mit Merkel, das war keine Allianz (Zwischenrufe der Abgeordneten Wöginger, Brückl und Mölzer), Merkel wurde vom österreichischen Bundeskanzler vorgeführt, sie musste bei einer Pressekonferenz auch noch lachen. Und 12 Stunden später sagt Innenminister Seehofer eine Integrationskon­ferenz ab und macht eine Pressekonferenz, in der eine Achsenbildung verkündet wird, die noch dazu das Potenzial hat, die deutsche Regierung zu spalten, wenn nicht zu sprengen. (Abg. Wöginger: Jessas na!)

Das alles ist bekannt, aber der Leitstern dieser Politik ist nicht eine Vision für Europa, nicht eine Seele für Europa (Zwischenruf des Abg. Wöginger), sondern der Leitstern sind die Professionalität und die Optimierung, vor allem auch die Optimierung von Karrieren – und ich finde, das ist zu wenig für diesen Kontinent am Vorabend großer Entscheidungen. (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Liste Pilz.)

11.16

Präsidentin Doris Bures: Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Abgeordnete Petra Steger. – Bitte.