15.41

Abgeordnete Dr. Alma Zadić, LL.M. (PILZ): Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Geschätzte Mitglieder der Bundesregierung! Hohes Haus! Europa ist aus den Trümmern des Krieges entstanden. Damit die großen Weltkriege einfach nicht mehr passieren, haben wir uns dazu entschlossen, zusammenzuwachsen. Ja, Europa ist zusammengewachsen, wir sind zusammengewachsen. Ich möchte noch einmal an das Bild erinnern, als der damalige österreichische Außenminister Alois Mock mit seinem Kollegen aus Ungarn den Zaun zwischen Österreich und Ungarn zerschnitten hat – als Symbol für den Fall des Eisernen Vorhangs.

Die letzten Jahre haben wir gekämpft, um zusammenzuwachsen. Wir haben uns eine Gemeinschaft der Werte aufgebaut. Es ist eine Gemeinschaft der Grundrechte, eine Gemeinschaft der Menschenrechte. Es ist eine Gemeinschaft, die die Freiheit achtet und die die Menschenwürde achtet. Es ist ein Europa der Toleranz und es ist auch ein Europa der Solidarität. Mit diesen Worten und mit diesen Werten bin ich groß ge­worden. Auf diese Werte bin ich stolz. Ich gehöre zur Generation der Erasmus-Stu­dentInnen, ich gehöre zur Generation der Interrail-FahrerInnen. Wir haben alle gefeiert, als Grenzen abgebaut wurden. Wir haben alle gefeiert, als Mauern einge­ris­sen wur­den. Wir haben das Europa der Brücken gefeiert. Und auf dieses Europa bin ich stolz, und dieses Europa lassen wir uns nicht zerstören! (Beifall bei Liste Pilz, SPÖ und NEOS.)

Wir dürfen nicht zulassen, dass Grenzen innerhalb Europas wieder hochgezogen werden. Herr Bundeskanzler! Sie haben gestern in Straßburg erklärt, Sie werden dafür sorgen und Sie werden dafür kämpfen, dass es in diesem Europa keine Grenzen innerhalb Europas gibt. Aber Sie tun genau das Gegenteil: Sie unterstützen jene Mächte in Europa, die für eine Grenzschließung eintreten. Sie bilden eine Achse der Willigen oder der Mutwilligen und spalten das, was zusammengewachsen ist.

Herr Bundeskanzler! Ich würde mir Sorgen machen, wenn Marine Le Pen sagt, dass sie große Hoffnungen auf Österreich setzt – eine Marine Le Pen, die sagt, Europa sei am Ende. Wenn Sie sagen, Sie sind nicht diejenigen, die Europa spalten, sondern es waren die Leute, die 2015 die Willkommenskultur geprägt haben, es waren die Regie­rungschefs aus dem Jahr 2015, dann muss ich Ihnen schon entgegenhalten, dass Sie damals auch ein Teil dieser Regierung waren und dass Sie damals auch Außen­minister waren. (Beifall bei Liste Pilz und SPÖ.)

Ich muss auch ehrlich sagen: Ich fühle mich ein bisschen wie in dem George-Orwell-Buch „1984“. Im George-Orwell-Buch „1984“ gibt es ein Ministerium, das heißt das Wahrheitsministerium. Dieses Wahrheitsministerium tut aber genau das Gegenteil von dem, was es vorgibt zu tun. Es verbreitet nämlich Propaganda – und nicht die Wahr­heit. (Abg. Lugar: Dann wäre Peter Pilz der ideale Minister für dieses Ministerium!)  Machen Sie es anders, Herr Bundeskanzler! Stehen Sie für Europa und handeln Sie europäisch!

Die globalen Herausforderungen der Migration und des Asyls können wir nur gemein­sam als Europa lösen. Wenn wir keine Grenzen innerhalb von Europa haben wollen, wenn wir die Freizügigkeit in Europa leben wollen, dann gebe ich Ihnen ja auch recht: Wir müssen unsere Außengrenzen schützen. Selbstverständlich müssen wir diese schützen. Die Kommission fordert ja schon seit 20 Jahren einen effektiven Schutz der europäischen Außengrenzen. Geschehen ist aber bislang nichts. Jetzt haben wir uns zu einem symbolischen Beitrag bekannt, wo wir uns für 35 Millionen Euro dazu ent­schlossen haben, einen Außengrenzschutz aufzubauen. Ob dieser tatsächlich auch ernsthaft den Schutz der gesamten europäischen Außengrenze gewährleisten kann, sei dahingestellt.

Aber, meine Damen und Herren, eine strategische und gut durchdachte Asyl- und Migrationspolitik endet nicht an der europäischen Grenze. Eine europäische Strategie ist eine Herausforderung, der wir uns gemeinsam stellen müssen. Wir müssen uns die gesamte Kette anschauen, wir können uns nicht nur die Außengrenze anschauen. Wir müssen uns auch anschauen: Was passiert am Anfang? – Da muss man sich auf die Herkunftsländer konzentrieren. Ich habe mir das ganz genau angeschaut: Wer flüchtet denn? – Es gibt natürlich jene, die Schutz suchen, die vor Krieg flüchten. Die suchen Schutz und die brauchen Asyl. Und da gibt es natürlich auch jene Migrantinnen und Migranten, die flüchten, weil sie eine Hoffnung auf ein besseres Leben haben. (Abg. Belakowitsch: Wirklich?) Wir müssen uns anschauen, warum diese Menschen flüch­ten und warum sich diese Menschen auf den Weg machen. (Abg. Gudenus: Das ist dann nicht flüchten, das ist Migration!)

Sie sagen ja: Wir wollen verhindern, dass diese Menschen sich auf den Weg machen. Wir wollen ja Hilfe vor Ort leisten. Diese bekannte Hilfe vor Ort habe ich mir auch genau angeschaut. Ich habe mir genau angesehen: Was hat denn Österreich im letzten Jahr gemacht oder was wollen wir denn tun in den nächsten Jahren, um auch tatsächlich vor Ort aufzubauen? – Die Entwicklungshilfemittel sind im letzten Jahr um 27 Prozent zurückgegangen. (Abg. Leichtfried: Das ist ja unglaublich!) Österreich ist Spitzenreiter bei der Phantomhilfe. Das heißt, nur 55 Prozent der Entwicklungshilfe­gel­der kommen auch tatsächlich vor Ort an. (Abg. Leichtfried: Das ist ja noch unglaub­licher!)

Europas Handelspolitik und Europas Freihandelsabkommen mit westafrikanischen und ostafrikanischen Staaten zerstören die wirtschaftliche Basis der Menschen vor Ort. Ich kann ein paar Beispiele nennen. Ich habe mir nämlich genau angeschaut: Wer sind denn die Migranten, die nach Europa einwandern? – Das sind hauptsächlich Leute aus Tunesien, Marokko, Guinea.

Was passiert denn in Tunesien? – Seit 2008 gibt es ein Freihandelsabkommen zwi­schen Tunesien und der Europäischen Union. Expertinnen und Experten haben uns erzählt und auch geschrieben, dass die Wirtschaft Tunesiens durch diese EU-Frei­han­delsabkommen schwer gefährdet ist. Die tunesische Landwirtschaft kann nicht mit­halten mit den europäischen Landwirtschaftsprodukten, die hoch subventioniert sind. Kleinbetriebe Tunesiens können nicht mithalten mit großen europäischen Corporations.

Die Lage in Marokko ist sehr ähnlich. In Marokko gibt es mit der Europäischen Union das Fischereipartnerschaftsabkommen. Dieses Fischereiabkommen führt dazu, dass supergut ausgestattete europäische Flotten vor der Küste Marokkos die Meere leer­fischen. Die heimischen Flotten gehen leer aus.

Genau das sind die Gründe, meine Damen und Herren, warum Leute flüchten. Das sind die Gründe, warum die wirtschaftliche Grundlage der Menschen zerstört wird und warum sie sich auf den Weg nach Europa machen. Deswegen müssen wir dort an­setzen und dort was tun. (Beifall bei Liste Pilz und SPÖ.)

Einen wichtigen Punkt möchte ich unbedingt noch anbringen: Wir reden immer davon, dass sich Menschen auf den Weg machen und das Mittelmeer überqueren. Viele davon schaffen es nicht, viele davon sterben und ertrinken im Mittelmeer. (Abg. Gudenus: Das wollen wir verhindern!) 2015 waren es eine Million Menschen, die sich von Afrika nach Europa auf den Weg gemacht haben. Heute sind es nur 45 000. Trotzdem ist die Zahl derjenigen, die im Mittelmeer ertrinken, im Verhältnis bei Weitem gestiegen. Von Jänner bis Juni dieses Jahres sind 1 405 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Diese Menschen sind keine Zahlen. Das sind Menschen, das sind Personen, das sind Kinder, das sind Frauen, die im Mittelmeer ertrinken. (Beifall bei Liste Pilz und SPÖ. – Abg. Jenewein: Genau das soll aufhören!)

Und was tun wir? – Nichts, wir tun nichts. Wir kriminalisieren diejenigen, die helfen wollen. Und ich schäme mich dafür. Ich schäme mich dafür, dass wir zuschauen. (Beifall bei Liste Pilz und SPÖ.)

Es sind europäische Staats- und Regierungschefs, die zuschauen, wie Menschen im Mittelmeer ertrinken, und es gibt keinen Aufschrei. Es gibt keinen Aufschrei, weil es halt keine europäischen Kinder sind. Es sind fremde Kinder. (Ein Blatt Papier mit einer Karikatur in die Höhe haltend.) Da muss ich unweigerlich an eine Karikatur aus dem Jahr 1941 denken, als die USA sich geweigert haben, jüdische Flüchtlinge aufzu­neh­men, als die USA sich geweigert haben, jüdischen Kindern Schutz zu gewähren. Da liest eine Mutter ihren zwei Kindern ein Märchen vor, und da steht: Und dann hat der Wolf die Knochen der Kinder ausgespuckt. Aber ihr Kinder, habt keine Sorgen, es waren ja nur fremde Kinder. Und dann steht da: America first. – Diese Karikatur möchte ich nicht für Europa haben. Diese Karikatur möchte ich auch nicht im Jahr 2018 haben. – Vielen Dank. (Beifall bei Liste Pilz, SPÖ und NEOS.)

15.51

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gelangt Abgeordneter Amon. – Bitte.