16.12

Abgeordneter Mag. Dr. Matthias Strolz (NEOS): Frau Präsidentin! Herr Bundes­kanz­ler! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Das ist eine wei­tere Debatte zum Thema Europa, das dieser Tage in aller Munde ist. (Abg. Deimek: Den gibt’s auch noch?) – Ja, ich bin noch da, aber es wird ein überschaubarer Zeit­rahmen sein. (Abg. Belakowitsch: Gleich ist er weg ...!)

Für alle, die sich ernsthaft erkundigen wollen: Ende September werde ich meinen Sitz hier im Haus übergeben. Das gibt mir die Chance, hier noch das eine oder andere Wort zu deponieren. Und ich muss ja nicht reden; wir haben genügend gute Leute, die auch reden könnten, dennoch habe ich mich heute gemeldet, weil es mir ein Anliegen ist, Sebastian Kurz, wenn er hierherkommt, ein paar Dinge mitzugeben.

Ich war gestern bei einem Abendessen, bei dem einer dabei war, der es an und für sich gut mit mir meint. Er hat mich gefragt: Warum bist du gar so kritisch und so böse mit Sebastian Kurz? – Das stimmt schon, ich glaube, ich habe in den letzten zwei, drei Wochen oft sehr hart ausgeteilt, und es ist nicht so, dass mir das Spaß macht. Es ist für mich jedes Mal eine echte Überwindung. (Heiterkeit bei der FPÖ. – Rufe bei der FPÖ: So schlimm ist das auch nicht! Das ist fishing for compliments! Matthias, wenn du selber nicht mehr ehrlich bist ...!) – Nein, nein, das ist ehrlich! (Beifall bei den NEOS.)

Ich zitiere meine Frau als Bürgin, die danebengesessen ist, genickt hat und gesagt hat: Ja, er ist am Abend immer ganz fertig, wenn er kritisieren musste. – Das beschäftigt mich sehr. (Ruf bei der FPÖ: Weil du ein schlechtes Gewissen hast ...! – Zwischen­be­mer­kung von Bundeskanzler Kurz.) – Ja, schlechtes Gewissen? Ich wollte in der Politik eigentlich nie so persönlich werden, und es gab ja Zeiten, in denen ich ein echter Sebastian-Kurz-Fan war. (Bravorufe bei der ÖVP.) – War ich, ja. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Als ich in die Politik gegangen bin, hatten wir ein Unternehmen und dort auch ein großes Projekt, das nicht gewinnorientiert war. Wir haben uns um die Begleitung von talentierten und engagierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund gekümmert. Das war zum Beispiel ein Projekt, das du (in Richtung Bundeskanzler Kurz) als Staats­sekretär übernommen hast. Wir haben es in einen Verein verlagert, denn ich wollte nicht, dass es unter die Räder kommt, nur weil ich in die Politik gehe. Du hast es mit offenen Armen genommen und sofort verstanden, worum es geht, nämlich um Poten­zialentfaltung et cetera.

Das ist schon irgendwie der Grund, warum ich mich noch einmal melde. Vielleicht nutzt es eh nichts, aber ich glaube, wir waren letztes Mal beim biblischen Gleichnis der Talente, und ich denke, es ist mehr möglich, Sebastian Kurz. Ich glaube das tat­sächlich und werde noch jede Chance nutzen, um an dir zu rütteln. (Ruf bei der FPÖ: Da wird er ganz fertig sein!) Wenn ich zuschaue, wie diese Bundesregierung und vor allem ein Bundeskanzler agiert, der der Generation Interrail und Erasmus angehört, dann sage ich: Das kann nicht alles sein! Das kann nicht der Ernst dieses jungen Men­schen mit 31 Jahren sein, der auch diesem Kontinent und seiner Einigung so viel zu verdanken hat. (Beifall bei NEOS und SPÖ sowie bei Abgeordneten der Liste Pilz.)

Dann schießt mir Voltaire ein, der sagt: „Du bist nicht nur verantwortlich für das, was du tust, sondern auch für das, was du nicht tust.“ Die Frage: Was habe ich heute nicht getan?, möchte ich einfach als abendliches Mantra mitgeben. Da wird jemandem hoffentlich einiges für den nächsten Tag einfallen, denn mit den Möglichkeiten, die dieser Kanzler hat, könnte er ganz andere Dinge bewirken, als zu zündeln und irgend­wie Nationalismen zu beflügeln. Da wären ganz andere Dinge möglich, davon bin ich überzeugt. (Beifall bei NEOS und SPÖ.)

Wenn man an Voltaire denkt: Er hat im 18. Jahrhundert dieses Europa schon in einer Dimension gelebt, von der wir heute mancherorts nur noch träumen können. Er ist durch diesen Kontinent gereist und hat als Wegbereiter der Aufklärung, als Freund und Fan der aufkeimenden parlamentarischen Demokratie sehr viele Türen geöffnet, durch die wir als Völker gegangen sind.

Dann kommen einige Generationen später Leute, die die Gnade der späten Geburt haben und so viele Türen schließen und Zäune aufbauen. Das verstehe ich nicht. Sie machen das mit einem Unterton: Ich habe keine andere Möglichkeit, ich muss das ja machen. Also frei nach Voltaire: In einem seiner Meisterwerke, „Candide oder die beste aller Welten“, beschreibt er, dass man sich nicht dem undifferenzierten Optimis­mus hingeben sollte. Das ist eine Tonalität, Sebastian Kurz, die auch bei dir immer wieder durchschlägt: Man darf sich nicht diesem undifferenzierten Optimismus, dieser Naivität hingeben, denn es ist gefährlich. – Ja, das ist die eine Seite der Medaille.

Voltaire schreibt aber in „Candide“ am Schluss – und hat es dann selbst vorgelebt, als er sich auf seine alten Tage an der französisch-schweizerischen Grenze nieder­gelas­sen hat –: Du sollst dich nicht den metaphysischen Luftschlössern hingeben, aber du sollst dich um deinen eigenen Garten kümmern. Du sollst ihn bestellen. Du sollst – und das ist ein Appell an den Herrn Bundeskanzler – soziale Felder kultivieren. – Das ist aber mehr ein Aufruf, über die Grenze zu denken und nicht den politischen Schre­bergärtner zu machen, Sebastian Kurz, und dabei noch die eigene Hecke anzuzünden, nur weil man sie mit dem Nachbarn teilt. Es ist ja dann die eigene Hecke, die ebenfalls brennt. (Beifall bei NEOS und SPÖ.)

Sich um den eigenen Garten zu kümmern, heißt auch, zu begreifen, dass wir auf die­sem Flecken Erde, Europa, einfach eine Schicksalsgemeinschaft sind. Ich habe es schon öfters gesagt: Wenn ich meinen Kindern, als sie klein waren, Europa auf diesem blauen Planeten gezeigt und erklärt habe, dann sind sie nach 5 Minuten mit dem Globus wiedergekommen und haben gefragt, wo das denn sei.

Es ist so ein Tropfen Zeit, es sind über 500 Millionen Menschen. Wir sind kraft Geo­grafie, Geschichte, Dichte der Bevölkerung eine Schicksalsgemeinschaft. Wir können es uns nicht aussuchen. Wenn eine Hütte brennt – und wir haben das am Balkan pro­biert –, dann fackelt die Nachbarhütte mit ab. Die Leute, die drinnen sind, sind dann entweder geflüchtet oder tot. Wenn eine Grenze brennt, dann brennt die nächste Grenze mit, und am Schluss brennen alle Grenzen und dann der ganze Kontinent. Das ist einfach so.

Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft, und wir können – das wäre der Auftrag für die Ge­neration Erasmus und Interrail – und müssen diese Schicksalsgemeinschaft als Chancengemeinschaft begreifen. Wenn man das ernst meint, dann muss einem mehr einfallen, als dir bisher eingefallen ist.

Nur ein Beispiel, man könnte zum Beispiel sagen: Machen wir 1 000 Partnerstädte in Nordafrika, und ich mit meinen Netzwerken, mit meiner Autorität, nehme zwei bis drei Regierungschefs und sage: Wir gehen als Österreich voran, mit zwei, drei anderen Ländern, seien es die Niederlande, sei es Frankreich, sei es Tschechien. – Das ist nicht naiv, das bedeutet es, den eigenen Garten zu bestellen! Das wären nur 15 Städte für Österreich, das schaffen wir leicht. Eine Stadt kümmert sich in einer Partnerschaft um ein Bildungsprojekt, eine um ein Krankenhaus, um Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten, eine um Abwasserentsorgung, eine um Kriminalitätsbekämpfung, eine um Elektrizität. Das wären nur 15 Städte! Wir finden die – nicht wenn ein Oppositionsführer die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister anschreibt, aber wenn der Bundeskanzler sie anschreibt, schriebe er sie an, dann finden wir sie! Es sind 15, wenn wir das mit zwei, drei anderen Regierungschefs skalieren, dann seid ihr mit 300 Partnerstädten unterwegs; dann geht ihr zu Jean-Claude Juncker und sagt: Herr Kommissions­prä­sident, das ist dein Job! 300 haben wir schon – 1 000, bitte!

Es ist eine Kleinigkeit, es ist nur Projektmanagement, es ist keine Raketenwis­sen­schaft. Und wenn dann 300 Projekte floppen, haben wir immer noch 700, die funk­tionieren, quer durch ganz Nordafrika. Dadurch wachsen Chancen, Stabilität, Zuversicht, und damit verhindern wir Flucht und Tod. Das wäre möglich. (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Liste Pilz.)

Das wären keine naiven Luftschlösser, es wären nur Taten, die einem Wollen ent­springen, und dieses Wollen vermisse ich bitterlich. Ich werde das noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit deponieren. (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Liste Pilz.) 

16.21

Präsidentin Anneliese Kitzmüller: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Abgeord­neter Gahr. – Bitte, Herr Abgeordneter.