9.22

Bundeskanzlerin Dr. Brigitte Bierlein: Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Ab­geordnete zum Nationalrat! Vor allem aber verehrte Bürgerinnen und Bürger! „Nichts hält das Gemeinwesen besser zusammen als die Verlässlichkeit.“ – Diese Worte des bekannten römischen Staatsmannes Cicero haben bis heute Bedeutung. Lassen Sie mich das Zitat um den Begriff Vertrauen ergänzen: Für Verlässlichkeit stehen und um Vertrauen werben wir!

Ich stehe heute als Bundeskanzlerin vor Ihnen, gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank werde ich eine Regierungserklärung abgeben. Dies ist in dieser Form eine einmalige Situation in der Geschichte der Zweiten Re­publik. Erstmals haben wir eine vom Bundespräsidenten eingesetzte Übergangsregie­rung.

Unsere nächstes Jahr 100 Jahre alt werdende Bundesverfassung hatte in diesen Ta­gen Gelegenheit, zu zeigen, was alles in ihr steckt. Wir konnten die neue Regierungs­situation reibungslos meistern. Die vergangenen Wochen haben eindrucksvoll bewie­sen, wie verlässlich unsere österreichische Verfassung, die darin festgeschriebene Ge­waltenteilung und unsere Institutionen sind.

In diesem Hohen Haus als erste Bundeskanzlerin zu sprechen stand nicht in meiner Lebensplanung, wie Sie wahrscheinlich alle wissen. Ich wurde davon überrascht. Umso mehr übernehmen ich und meine Kolleginnen und Kollegen in der Bundesre­gierung diese Aufgabe mit großer Demut. Ich danke dem Herrn Vizekanzler sowie den fünf Ministerinnen und den fünf Ministern, dass sie so rasch bereit waren, unserem Land zu dienen. Ich bin sicher, ich spreche in unser aller Namen, wenn ich dem Herrn Bundespräsidenten für sein umsichtiges, ruhiges und vertrauensvolles Vorgehen herz­lich danke.

Es ist für mich ein großes Privileg, dass ich in den letzten 16 Jahren mit an der Spitze des Verfassungsgerichtshofes tätig sein durfte. Ich habe diese Funktion – das dürfen Sie mir glauben – schweren Herzens aufgegeben, dies aber in dem Wissen, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof in den Händen des Herrn Vizepräsidenten sehr gut aufgehoben ist.

In meiner Antrittsrede habe ich auf die Bedeutung eines möglichst breiten Dialogs hin­gewiesen – mit Vertretern und Vertreterinnen der politischen Parteien, der Zivilgesell­schaft und der Religionsgemeinschaften. Ich habe bereits in den ersten Tagen zahlrei­che persönliche Gespräche führen können: mit dem Präsidenten und den Präsiden­tinnen des Nationalrates, Klubobleuten, Vertreterinnen und Vertretern von NGOs. Die­sen Dialog möchte und werde ich in meiner gesamten Amtszeit aufrechterhalten.

In diesem Hohen Haus schlägt das Herz der österreichischen Demokratie und, meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses Herz schlägt lebendig und kräftig. Die durch den Nationalrat bestimmten Gesetze geben uns den Rahmen, in Freiheit und Frieden leben und Probleme gemeinsam lösen zu können.

Diese Bundesregierung wurde im Gegensatz zu Ihnen, geschätzte Abgeordnete, we­der direkt noch indirekt gewählt. Meine Worte müssen sich daher von jenen anderer Regierungen unterscheiden. Wir haben kein Programm abzuarbeiten, wir haben keine Wahlversprechen einzulösen, wir haben keine tagespolitischen Aktualitäten zu kom­mentieren. Sehr wohl aber haben wir die Aufgabe, Stabilität und Sicherheit für die Men­schen in diesem Land zu gewährleisten. In diesem Sinn ist diese Bundesregierung voll handlungsfähig und garantiert den Bestand aller Dienstleistungen des Staates für die Bürgerinnen und Bürger.

Wir werden mit all unseren Kräften das Vertrauen der Menschen in diesem Land zu ge­winnen suchen. Wir werden die Arbeit für unser Land mit höchstmöglicher Qualität er­ledigen. Wir werden auf tagespolitisches Kalkül verzichten. Wir werden jene Initiativen einbringen, die Schaden von unserer Republik abwenden. Und wir halten das Prinzip der größtmöglichen Sparsamkeit ein. Vor allem aber werden wir unsere Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nie aus den Augen verlieren, denn wir dienen in erster Linie den Menschen in diesem Land und respektieren, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Ihre besondere Verantwortung als gewählte Volksvertreter in diesem Hohen Haus.

Wichtige und absehbare politische Fragen sollen und müssen von der kommenden Bundesregierung beantwortet, besonders wichtige Personalentscheidungen von ihr ge­troffen werden.

Im Anschluss an unsere Vorstellung findet die Debatte über den eingebrachten Antrag betreffend die vorzeitige Beendigung dieser Gesetzgebungsperiode statt. Ich darf Sie bitten, alle Vorkehrungen rasch und gemeinschaftlich zu treffen, um einen Wahltermin festlegen zu können. Wie auch der Herr Bundespräsident gesagt hat, hätten wir uns einen früheren Termin gewünscht, aber wir respektieren natürlich die Entscheidung des Nationalrates. Es gehört zu unserem Selbstverständnis, dass wir als Exekutive die Beschlüsse der Legislative – Ihre Beschlüsse, sehr geehrte Damen und Herren Abge­ordnete – nach bestem Wissen und Gewissen vollziehen werden.

Wir werden auch unsere Interessen in Europa und in der Welt in bewährter Weise wahrnehmen. Dabei vertrauen wir auf die Expertise unserer Diplomatinnen und Diplo­maten und die gut eingespielten Abstimmungsprozesse. Genau am heutigen Tag vor 25 Jahren hat die Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union stattgefunden. Nach einem Vierteljahrhundert können wir mit Stolz und Dank­barkeit feststellen: Österreich ist und bleibt ein verlässlicher Partner in Europa und in der Welt.

Es ist mir und uns bewusst, dass die Außen- und Europapolitik auf innerösterreichische Entwicklungen wenig Rücksicht nehmen kann. Nach den Europawahlen werden Wei­chen auf europäischer Ebene gestellt. Diese Weichen werden unser Land für die nächsten Jahre maßgeblich beeinflussen. Das betrifft die Verhandlungen zum nächs­ten Mehrjährigen Finanzrahmen ebenso wie die Abwicklung des Brexits und vor allem wichtige Personalentscheidungen.

Die Europäische Kommission ist kein reiner Verwaltungsapparat, sie ist eine hochpoliti­sche Institution. Die Auswahl der österreichischen Kandidatin oder des österreichi­schen Kandidaten sollte dementsprechend von fachlicher Expertise und politischem Können geleitet sein. Es liegt im Interesse Österreichs, in Brüssel weiterhin als starke Stimme für Europa und in Europa wahrgenommen zu werden. Ich appelliere an Sie, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, in diesem Prozess Einigkeit zu zeigen, und ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam eine gute Entscheidung im Interesse Österreichs treffen können.

Wir leben in einer globalisierten Welt, in der unsere wichtigsten Lebensbereiche vor großen Herausforderungen stehen; beispielhaft seien die Digitalisierung, der Klima­wandel, ein nachhaltiges und finanzierbares Sozialsystem oder demografische Verän­derungen erwähnt. Das sind nur einige Punkte, die für die Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeutung sein werden. Es liegt an uns, wie wir mit diesen Herausfor­derungen umgehen. Unser Ziel ist ein lebenswertes, wirtschaftlich erfolgreiches, weltof­fenes Österreich.

Diese Regierung verfügt über keine Mehrheit, es gibt daher keine Unterscheidung zwi­schen Regierungs- und Oppositionsparteien. Umso mehr liegt der politische Diskurs, das Abwägen der unterschiedlichen Interessen und das Finden eines Konsenses in Ih­rer aller Verantwortung; es liegt in der Verantwortung des Parlaments.

Wir alle, sehr geehrte Damen und Herren, haben unterschiedliche politische Einstel­lungen, wir sind von unterschiedlicher ethnischer Herkunft, wir haben verschiedene re­ligiöse Überzeugungen, Geschlechter oder sexuelle Orientierungen. – Ja, wir sind ver­schieden. Für mich als Frau, als langjährige Juristin und Richterin gilt es, bei all dieser Unterschiedlichkeit ein verbindendes Element zu beachten, nämlich die Menschlich­keit.

Das Miteinander war und ist gute österreichische Tradition. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, Feindbilder gar nicht erst entstehen zu lassen, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen und Vorbild vor allem für die Jugend zu sein – für unser Land, für seine Menschen, für unsere gemeinsame Zukunft.

Am Beginn habe ich mit den Worten von Cicero unseren Leitsatz formuliert: „Nichts hält das Gemeinwesen besser zusammen als die Verlässlichkeit.“ Für Verlässlichkeit stehen, um Vertrauen werben wir: In diesem Sinn freue ich mich auf die gute Zusam­menarbeit mit dem Hohen Haus. (Allgemeiner Beifall.)

9.33

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich danke der Frau Bundeskanzlerin für ihre Ausführungen und bitte nun den Herrn Vizekanzler um seinen Redebeitrag.