93 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVII. GP

 

Bericht

des Justizausschusses

über die Regierungsvorlage (52 der Beilagen): Bundesgesetz, mit dem ein Bundesgesetz über das Übergabeverfahren mit Island und Norwegen (Island-Norwegen-Übergabegesetz – INÜG) erlassen wird sowie die Strafprozeßordnung 1975, das Jugendgerichtsgesetz 1988, das Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, das Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz, das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof, das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den internationalen Gerichten, das Börsegesetz 2018 und das Tilgungsgesetz 1972 geändert werden (Strafrechtliches EU­Anpassungsgesetz 2020 – StrEU-AG 2020)

Das vorliegende Gesetzesvorhaben hat folgende Schwerpunkte:

1) Schaffung der nötigen innerstaatlichen Bestimmungen zur Umsetzung und Durchführung des Übereinkommens zwischen der EU und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen, ABl. Nr. L 292 vom 21.10.2006, S. 2.

2) Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, ABl. Nr. L 297 vom 04.11.2016 S. 1 (im Folgenden „RL Prozesskostenhilfe“). Der Entwurf sieht ausschließlich Maßnahmen vor, zu denen der Bund aufgrund zwingender Vorschriften des Unionsrechts verpflichtet ist.

3) Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (in der Folge: RL Jugendstrafverfahren), ABl. Nr. L 132 vom 21.5.2016 S. 1. Der Entwurf sieht ausschließlich Maßnahmen vor, zu denen der Bund aufgrund zwingender Vorschriften des Unionsrechts verpflichtet ist.

4) Erforderliche Anpassungen in StPO und Tilgungsgesetz 1972 durch die am 1. Juli 2018 in Kraft getretenen Änderungen im Recht der gesetzlichen Vertretung durch das 2. Erwachsenenschutz-Gesetz, BGBl. I Nr. 59/2017.

5) Schaffung von Bestimmungen zur Durchführung der Verordnung (EU) 2018/1727 des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) und zur Ersetzung und Aufhebung des Beschlusses 2002/187/JI des Rats, ABl. L 295 vom 21.11.2018, S. 138.

6) Umsetzung von Urteilen des EuGH im Bereich der gegenseitigen Anerkennung.

7) Schließung einzelner Lücken bei der Umsetzung der bestehenden Rechtsinstrumente im Bereich der gegenseitigen Anerkennung, Vornahme redaktioneller Änderungen sowie legistische Reaktion in jenen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, in denen es in der Praxis zu Unklarheiten bzw. Problemen bei der Anwendung gekommen ist.

8) (Weitere) Umsetzung der Richtlinie 2014/57/EU über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. Nr. L 173 vom 12.6.2014 S. 179, durch Schaffung eines gerichtlichen Straftatbestandes der „Manipulation der Referenzwertberechnung“.

Ad. 1) Das Übereinkommen ist zwar ein völkerrechtliches Übereinkommen (das die Union für ihre Mitgliedstaaten abgeschlossen hat); seine Bestimmungen sind aber weitestgehend wörtlich dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. Nr. L 190 vom 18.7.2002, S. 1 (in der Folge: RB-EHB), nachgebildet. Da die Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses umsetzungsbedürftig sind und in Österreich in den §§ 3 bis 38 EU-JZG umgesetzt sind, sollen die innerstaatlichen Bestimmungen des EU-JZG auf das Übergabeverfahren mit Island und Norwegen anwendbar gemacht werden. Dies soll im Weg eines eigenen Bundesgesetzes erfolgen.

Ad. 2) Die StPO enthält bereits umfassende Regelungen zur Beigebung und Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers für den Beschuldigten im Strafverfahren (vgl. insbesondere §§ 61 ff StPO). Mit den vorgeschlagenen Änderungen in StPO, EU-JZG und ARHG sollen die zur vollständigen Umsetzung der RL Prozesskostenhilfe im Strafverfahren erforderlichen Anpassungen erfolgen.

Ad. 3) Der vorliegende Entwurf dient vorrangig der vollständigen Umsetzung der RL Jugendstrafverfahren. Am 20.11.2009 hatte der Rat eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren angenommen (ABl. Nr. C 295 vom 4.12.2009 S. 1), in dem unter anderem als Maßnahme E die Gewährleistung besonderer Verfahrensgarantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte vorgesehen ist. Der von der Europäischen Kommission am 27.11.2013 vorgelegte Vorschlag zu einer Richtlinie über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte Kinder, COM (2013) 822, sollte der Umsetzung der Maßnahme E des Fahrplans dienen.

Die am 11.5.2016 auf Grundlage dieses Vorschlags angenommene RL Jugendstrafverfahren sieht gemeinsame Mindeststandards in Strafverfahren gegen jugendliche Beschuldigte vor. Sie ist gemäß Art. 24 von den Mitgliedstaaten bis zum 11.6.2019 umzusetzen.

Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) sieht als modernes Gesetz bereits zahlreiche Regelungen vor, die die in der RL Jugendstrafverfahren vorgesehenen Mindeststandards abdecken. So sind etwa die Vorgaben der RL Jugendstrafverfahren für den Freiheitsentzug im Rahmen der Untersuchungshaft (Art. 10), die dafür vorgesehenen alternativen Maßnahmen (Art. 11) und die besondere Behandlung eines Jugendlichen bei Freiheitsentzug (Art. 12) bereits vollumfänglich in §§ 35, 35a und 36 des JGG enthalten; weiterer Umsetzungsschritte bedarf es hier nicht. Auch Art. 14 der RL Jugendstrafverfahren (Recht auf Schutz der Privatsphäre) bedarf keiner Umsetzung, da die diesbezüglichen Verfahrensgarantien bereits in § 42 JGG enthalten sind. § 32 Abs. 1 und Abs. 2 JGG schließen die Verhandlung gegen Jugendliche in deren Abwesenheit aus; auch Art. 16 der RL Jugendstrafverfahren, der Gleichartiges vorsieht, bedarf daher keiner Umsetzung.

Mit dem vorliegenden Entwurf sollen jene Bestimmungen der RL Jugendstrafverfahren umgesetzt werden, die von dem bisherigen Rechtsbestand des JGG noch nicht (ausreichend) umgesetzt werden. Darüber hinaus schlägt der Entwurf auch Änderungen im EU-JZG und im ARHG vor, die der Umsetzung von Vorgaben der RL Jugendstrafverfahren dienen sollen.

Ad. 4) Die in der StPO und dem Tilgungsgesetz 1972 verwendete Terminologie im Bereich gesetzlicher Vertretungen wie auch geistiger Beeinträchtigungen entspricht nicht jener des am 1. Juli 2018 in Kraft getretenen neuen Erwachsenenschutzrechts. Mit den vorgeschlagenen Änderungen sollen die dahingehenden Anpassungen vorgenommen werden.

Ad. 5) Die bisherige Rechtsgrundlage von Eurojust, der Beschluss 2002/187/JI über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität, ABl. L 63 vom 6.3.2002, S. 1 zuletzt geändert durch Beschluss 2009/426/JI zur Stärkung von Eurojust und zur Änderung des Beschlusses 2002/187/JI über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität, ABl. L 138 vom 4.6.2009, S. 14 (in der Folge: Eurojust-Beschluss), wurde mit EU-JZG Änderungsgesetz 2013 (BGBl. I Nr. 175/2013) in den §§ 63 bis 68a des Bundesgesetzes über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der EU (EU-JZG), BGBl. I Nr. 36/2004, umgesetzt. Die Eurojust-VO ist am 12.12.2019 in Kraft getreten; sie ist unmittelbar anwendbar. Aufgrund dessen wird vorgeschlagen, die nationale Umsetzung im EU-JZG anzupassen bzw. einzelne Bestimmungen der nationalen Umsetzung aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verordnung aufzuheben.

Ad. 6) Im Bereich des EU-JZG soll dem Urteil des EuGH in der Rechtssache C-573/17, Poplawski, Rechnung getragen werden. In diesem Urteil hat der EuGH ausgesprochen, dass Erklärungen der Mitgliedstaaten nach Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27, nach dessen Annahme im Rat vom 5.12.2011 ungültig sind.

Im Bereich des ARHG soll den Urteilen des EuGH in den Rechtssachen Petruhhin (C-182/15), Pisciotti (C-191/16) und Schotthöfer & Steiner (C473/15) Rechnung getragen werden. Diese Urteile betreffen das Problem der Diskriminierung von Unionsbürgern gegenüber eigenen Staatsbürgern des Mitgliedstaats im Fall eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaats, wenn nach der Rechtsordnung des Mitgliedstaats vorgesehen ist, dass die Auslieferung eigener Staatsbürger unzulässig ist.

Ad. 7) Im EU-JZG wird eine ausdrückliche Umsetzung der Spezialitätsvorschriften nach Art. 27 und 28 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. Nr. L 190 vom 18.7.2002, S. 1, vorgeschlagen. Darüber hinaus soll auch Art. 17 Abs. 7 des genannten Rahmenbeschlusses umgesetzt werden, um für die dort vorgesehenen Verständigungspflichten im Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls an Eurojust eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage zu schaffen. Bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, ABl. Nr. L 327 vom 5.12.2008, S. 27, kam es in der Praxis zu Unklarheiten bei den Zuständigkeitsbestimmungen bzw. Schwierigkeiten bei deren Anwendung, weswegen dazu Verbesserungen vorgeschlagen werden. Im Bereich der Vollstreckung von Freiheitsstrafen werden dieselben Änderungen auch im ARHG vorgeschlagen, um eine weitgehende Übereinstimmung der Verfahren im Verhältnis von EU Mitgliedstaaten (EU-JZG) einerseits und Drittstaaten (ARHG) andererseits zu erzielen. Weiters sollen auch die in Art. 16 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen, ABl. Nr. L 337 vom 16.12.2008, S. 102, vorgesehenen Verständigungspflichten umgesetzt werden. Besonders ist darauf hinzuweisen, dass die vorgeschlagenen Änderungen der Verfassungsbestimmung des § 5 Abs. 4 und Abs. 6 sowie § 140 Abs. 18 EU-JZG lediglich redaktioneller Natur sind; die Notwendigkeit zur Richtigstellung des Verweises hat sich durch die Neustrukturierung der Bestimmungen zur Umsetzung des RB Vollstreckung von Freiheitsstrafen durch das EU-JZG-Änderungsgesetz 2011 (BGBl. I Nr. 134/2011) ergeben. Schließlich werden zu Artikeln 6 und 7 des Entwurfs großteils notwendige Anpassungen an das Strafprozessreformgesetz 2004 vorgeschlagen.

Ad. 8) Im geltenden Recht ist die Marktmanipulation der Berechnung kritischer Referenzwerte im Sinne von Art. 5 Abs. 2 lit. d der Marktmissbrauchsrichtlinie ausschließlich als Verwaltungsstraftatbestand normiert (§ 48c Abs. 1 Z 3 BörseG 2018). Da es nun aber aufgrund rezenter Rechtsakte der Europäischen Union möglich ist, auch für die „Manipulation der Referenzwertberechnung“ zwischen schweren und anderen Fällen zu unterscheiden, soll nun für schwere Fälle gerichtliche Strafbarkeit geschaffen werden. Damit soll zugleich einem wesentlichen Kritikpunkt der Europäischen Kommission in dem Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2019/2121 entsprochen werden. Es wird vorgeschlagen, § 164 BörseG 2018 um einen neuen Absatz 5 zu erweitern.

Der Entwurf dient der Umsetzung bzw. betrifft die Durchführung von Unionsrecht.

 

Der Justizausschuss hat die gegenständliche Regierungsvorlage in seiner Sitzung am 11. März 2020 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer der Berichterstatterin Abgeordneten Mag. Agnes Sirkka Prammer die Abgeordneten Mag. Corinna Scharzenberger und Dr. Johannes Margreiter.

 

Im Zuge der Debatte haben die Abgeordneten Mag. Michaela Steinacker und
Mag. Agnes Sirkka Prammer einen Abänderungsantrag eingebracht, der wie folgt begründet war:

Zu Z 1 (§ 514 Abs. 42 StPO):

Der rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst wird – bereits derzeit - durch den ÖRAK bereitgestellt. Durch die vorgeschlagenen Änderungen in der StPO (v.a. § 59 Abs. 5 StPO) ist gegenüber den bisherigen Zahlen mit einem massiven Anstieg der im Bereitschaftsdienst zu leistenden Vertretungsfälle zu rechnen. Die dafür vom ÖRAK zu veranlassenden notwendigen administrativen und organisatorischen Vorkehrungen (insbesondere etwa die Bereitstellung der erforderlichen Anzahl von Verteidigern) lassen sich nur bei Festlegung eines terminlich fixierten Beginns des rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdiensts „neu“ bewerkstelligen, weshalb unter Berücksichtigung einer angemessenen Vorbereitungszeit der 1. Juni 2020 als Datum des Inkrafttretens vorgeschlagen wird.

Zu Z 2 (§ 63 Abs. 12 JGG):

§ 39 Abs. 2 JGG nimmt auf den rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienst „neu“ Bezug. Im Gleichklang mit den entsprechenden Bestimmungen der StPO wird auch für das JGG ein Inkrafttreten mit 1. Juni 2020 vorgeschlagen.

Zu Z 3 (Änderung des EUJZG) und Z 4 (Änderung des ARHG)

Da auch einzelne Bestimmungen im EU-JZG und im ARHG auf den rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienst „neu“ Bezug nehmen, wird im Gleichklang mit den entsprechenden Bestimmungen der StPO wird auch für das EU-JZG und das ARHG ein Inkrafttreten mit 1. Juni 2020 vorgeschlagen.“

 

Bei der Abstimmung wurde der in der Regierungsvorlage enthaltene Gesetzentwurf unter Berücksichtigung des oben erwähnten Abänderungsantrages der Abgeordneten
Mag. Michaela Steinacker und Mag. Agnes Sirkka Prammer einstimmig beschlossen.

 

Ein weiterer im Zuge der Debatte von dem Abgeordneten Dr. Johannes Margreiter eingebrachter Abänderungsantrag fand keine Mehrheit (dafür: S, N, dagegen: V, G, F).

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Justizausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem angeschlossenen Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.

Wien, 2020 03 11

                    Mag. Agnes Sirkka Prammer                                           Mag. Michaela Steinacker

                                 Berichterstatterin                                                                           Obfrau