321 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVII. GP

 

Bericht

des Ausschusses für Arbeit und Soziales

über den Antrag 685/A(E) der Abgeordneten Mag. Gerald Loacker, Kolleginnen und Kollegen betreffend Arbeitsmarktreform, zeitliche Staffelung des Arbeitslosengeldes

Die Abgeordneten Mag. Gerald Loacker, Kolleginnen und Kollegen haben den gegenständlichen Entschließungsantrag am 17. Juni 2020 im Nationalrat eingebracht und wie folgt begründet:

„Die wirtschaftlichen und technischen Veränderungen haben zu einer Veränderung eines sozialpolitischen Paradigmas in Europa geführt. In modernen Politikkonzeptionen werden die Elemente aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik nicht als getrennte Systeme verstanden, sondern vielmehr als interagierende Mechanismen (Hemerick 2017). Eine Reform der Arbeitsmarktpolitik muss immer Maßnahmen der aktiven und der passiven Arbeitsmarktpolitik umfassen, um zu einem nachhaltigen und ausbalancierten Ergebnis zu kommen. Die Ausgestaltung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung ist eine zentrale Frage, wenn es darum geht, Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, einerseits angemessen sozial abzusichern, andererseits diese Personen auch wieder rasch in Beschäftigung zu bringen und die Dauer der Arbeitslosigkeit kurz zu halten. 

Ziel ist es, den Versicherten Werkzeuge in die Hand zu geben, die es ihnen ermöglichen, ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Das bedeutet, dass die Zeiten von Arbeitslosigkeit möglichst kurz sein sollten, um die negativen sozialen Folgen, aber auch die negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmarktchancen der Betroffenen zu reduzieren. Gerade im Hinblick auf die Dauer der Leistungen der Arbeitslosenversicherung ergibt sich für Österreich ein interessantes Bild: Ein europäischer Vergleich zeigt (siehe Grafik 1), dass die österreichische Ausgestaltung von Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung nicht den europäischen Standards und vor allem nicht ökonomisch sinnvollen Konzepten entspricht. 

Gerade die dauerhaft auf gleichem bzw. kaum verändertem Niveau bezahlte Leistung führt langfristig dazu, dass die Höhe des Arbeitslosengeldes nicht mehr mit dem Reservationslohn der betroffenen Person zusammenpasst. Im Laufe einer Arbeitslosigkeit nimmt nämlich der Reservationslohn aufgrund langsamer Dequalifizierung ab. Das bedeutet, es sinkt für eine arbeitssuchende Person im zeitlichen Verlauf die Höhe jenes Lohnes, den sie potenziell am Arbeitsmarkt erwirtschaften könnte. Dieser Tatsache wird in der passiven Arbeitsmarktpolitik in Österreich bis dato nur unzureichend Rechnung getragen durch den Übergang vom Arbeitslosengeld zur annähernd gleich hohen Notstandshilfe.

Grafik 1: Arbeitslosengeld im zeitlichen Verlauf in Europäischen Ländern 2018 (In Prozent des Letzteinkommens)

 

 

(Quelle: https://data.oecd.org/benwage/benefits-in-unemployment-share-of-previous-income.htm)

Zu dieser Grafik inhaltlich zu ergänzen ist der Umstand, dass nicht alle EU-Länder eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung haben und manche Länder (z.B. Dänemark, Schweden) mit Systemen der freiwilligen Arbeitslosenversicherung arbeiten.

International anerkannte Standards setzen mit einer langsamen Variation bzw. Reduktion der Nettoersatzrate Arbeitsanreize und erhöhen diese Anreize im Zeitverlauf (Agenda Austria 2017, Weishaupt 2019). Dies geschieht in Ländern wie Dänemark, Schweden aber auch in den Niederlanden. In Österreich verändert sich die Nettoersatzrate im zeitlichen Verlauf sehr wenig bis gar nicht. Ein derartiges System gibt es, mit Ausnahme von Österreich, in keinem anderen EU-Mitgliedsstaat (Siehe Grafik 1). Im europäischen Vergleich ist die österreichische Leistung aus der Arbeitslosenversicherung zwar am Beginn der Arbeitslosigkeit eher niedrig (gemessen an der Nettoersatzrate), im Zeitverlauf, z.B. nach 6 Monaten, im Mittel - doch im Unterschied zu fast allen anderen EU-Ländern bei langer Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch und zeitlich unbegrenzt verfügbar.  Um die Arbeitslosenversicherung zeitgemäßer zu gestalten, wurden von wirtschaftswissenschaftlicher aber auch sozialpolitischer Seite unterschiedliche Einflussfaktoren beleuchtet und Lösungsvorschläge für etwaige Problemstellungen erarbeitet. Eine lange bzw. zeitlich unbegrenzt verfügbare Arbeitslosenversicherung hat signifikant negative Effekte auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt (Katz and Meyer, 1990). Dem internationalen Standard entspräche also ein am Beginn der Arbeitslosigkeit etwas höheres Arbeitslosengeld, das im Zeitverlauf sinkt und insgesamt zeitlich begrenzt ist. Das Arbeitslosengeld sollte z.B. aus Sicht der Agenda Austria in den ersten 17 Wochen von derzeit 55 Prozent des Netto-Letztverdienstes auf 65 Prozent erhöht und dann schrittweise abgesenkt werden. Demnach läge die Nettoersatzrate in den nächsten 18 Wochen auf dem Niveau von 55 Prozent und würde nach einer Gesamtbezugsdauer von 35 Wochen auf dann 45 Prozent absinken. Wer länger eingezahlt hat, soll auch länger anspruchsberechtigt sein, so die Agenda Austria.

Im Bereich der passiven Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung ergeben sich aus diesen mikroökonomischen Überlegungen umfangreiche Vorschläge zu einer optimalen Ausgestaltung derselben. Insbesondere in Bezug auf die zeitliche Ausgestaltung von Ersatzraten, Dauer und Verpflichtungen für den Erhalt der Versicherungsleistung selbst. In anderen europäischen Ländern ist das Arbeitslosengeld zu Beginn höher als die österreichischen 55 Prozent, sinkt aber im zeitlichen Verlauf je nach Dauer auch deutlich unter diese 55 Prozent Nettoersatzrate. (Zu beachten ist auch, dass in anderen Ländern daneben keine oder weniger weitere Sozialtransfers erfolgen, als in Österreich neben dem Bezug einer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung möglich sind.).

Eine zeitliche Staffelung würde auch ermöglichen, dass die Ersatzraten am Beginn einer Arbeitslosigkeit erhöht werden könnten. Denn gerade im Falle kurzer Arbeitslosigkeit (bzw. in den ersten Monaten einer Arbeitslosigkeit) zeigt sich, dass die österreichischen Nettoersatzraten im internationalen Vergleich leicht unterdurchschnittlich sind.  Alle diese Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen deutlich, dass in der österreichischen Arbeitsmarktpolitik die Steuerungsmöglichkeiten über passive Leistungen bisher nicht genutzt werden.

Abgesehen von der wirtschaftswissenschaftlich fragwürdigen Ausgestaltung fehlt auch eine Berücksichtigung von Interessen der Versichertengemeinschaft. Gleichzeitig ist die finanzielle Belastung der Arbeitslosenversicherung im Auge zu behalten. Das Versicherungsprinzip wird überspannt, wenn die Arbeitslosenversicherung Leistungen der Notstandshilfe zeitlich unbegrenzt ausbezahlt. Das überfordert die Solidarität der Versichertengemeinschaft, denn das Arbeitslosengeld und die ihr folgende Notstandshilfe stellen eine Geldleistung zur Kompensation des vorübergehenden Einkommensentfalls aufgrund eines Jobverlustes dar. Logisch folgt daraus eine Überführung von Notstandshilfebezieher_innen in die Mindestsicherung nach einem länger andauernden Bezug und damit eine Zusammenführung der verschiedenen sozialen Sicherungssysteme in eine Logik. Eine Zusammenführung der sozialen Sicherungssysteme Notstandshilfe und Mindestsicherung zu einem gemeinsamen System der sozialen Absicherung fordert seit Jahren auch der Rechnungshof.

Eine effizienzsteigerndere Umgestaltung von Leistungen in der Arbeitslosenversicherung in Bezug auf die Höhe der Nettoersatzraten kann aufkommensneutral gestaltet werden: Am Beginn der Arbeitslosigkeit können die Nettoersatzraten höher sein als bisher, um dann im zeitlichen Verlauf zu sinken - auch unter das derzeitige Niveau. Außerdem ist der Leistungsbezug zeitlich zu begrenzen (Siehe Grafik 2). 

Grafik 2: Beispiel einer zeitlichen Staffelung des Arbeitslosengeldes

 

 

(Quelle: Agenda Austria)

Bei der Bestimmung und Veränderung der Nettoersatzrate muss eben darauf geachtet werden, dass Arbeitsangebot und -nachfrage am Arbeitsmarkt tatsächlich zueinanderpassen. Um unerwünschte ökonomische aber auch soziale Effekte und Mitnahmeeffekte durch ein zeitlich gestaffeltes Arbeitslosengeld zu vermeiden, kann z.B. die Bezugsdauer in Wochen je Stufe angepasst werden. Eine solche Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes soll einem ‚Mismatch‘ am Arbeitsmarkt entgegenwirken, die betroffenen Personen finanziell absichern, aber auch genügend Anreize für eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt setzen. Außerdem ist die Durchrechnung der Versicherungszeit so zu optimieren, dass wiederkehrende Phasen der Arbeitslosigkeit in kurzer Zeit nicht jedes Mal aufs Neue zum Ausnützen der ersten, erhöhten Stufe des Arbeitslosengeldes führen.

Eine umfassende Reform der Arbeitsmarktpolitik muss immer Maßnahmen der aktiven und der passiven Arbeitsmarktpolitik umfassen. Ergänzend zum gegenständlichen Antrag werden daher parallel weitere Anträge eingereicht.“

 

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den gegenständlichen Entschließungsantrag in seiner Sitzung am 02. Juli 2020 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer dem Berichterstatter Abgeordneten Mag. Gerald Loacker die Abgeordneten Mag. Markus Koza, August Wöginger, Dr. Dagmar Belakowitsch, Tanja Graf, Fiona Fiedler, BEd, Alois Stöger, diplômé, Norbert Sieber, Ing. Markus Vogl, Julia Elisabeth Herr, Rebecca Kirchbaumer, Mag. Christian Drobits, Dr. Gudrun Kugler, Bedrana Ribo, MA, Michael Schnedlitz, die Bundesministerin für Arbeit, Familie und Jugend Mag. (FH) Christine Aschbacher sowie der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Rudolf Anschober und der Ausschussobmann Abgeordneter Josef Muchitsch.

 

Bei der Abstimmung fand der gegenständliche Entschließungsantrag der Abgeordneten Mag. Gerald Loacker, Kolleginnen und Kollegen keine Stimmenmehrheit (für den Antrag: F, N, dagegen: V, S, G).

 

Zum Berichterstatter für den Nationalrat wurde Abgeordneter Mag. Markus Koza gewählt.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Ausschuss für Arbeit und Soziales somit den Antrag, der Nationalrat wolle diesen Bericht zur Kenntnis nehmen.

Wien, 2020 07 02

                              Mag. Markus Koza                                                              Josef Muchitsch

                                   Berichterstatter                                                                           Obmann