645 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVII. GP

 

Regierungsvorlage

Bundesgesetz über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlassung neuer Berufsreglementierungen (Verhältnismäßigkeitsprüfungs-Gesetz – VPG)

Der Nationalrat hat beschlossen:

Ziel

§ 1. Durch dieses Bundesgesetz wird die Richtlinie (EU) 2018/958 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, ABl. Nr. L 173 vom 9.7.2018 S. 25, in österreichisches Recht umgesetzt.

Gegenstand und Anwendungsbereich

§ 2. (1) Dieses Bundesgesetz regelt die Durchführung von Verhältnismäßigkeitsprüfungen vor der Erlassung von Rechtsvorschriften des Bundes, die die Aufnahme oder Ausübung eines reglementierten Berufs im Geltungsbereich der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. Nr. L 255 vom 30.9.2005 S 22, in der Fassung der Richtlinie 2013/55/EU, ABl. Nr. L 345 vom 28.12.2013 S 132, oder einer bestimmten Art seiner Ausübung beschränken, einschließlich des Führens einer Berufsbezeichnung und der im Rahmen dieser Berufsbezeichnung erlaubten beruflichen Tätigkeiten.

(2) Ein reglementierter Beruf im Sinne dieses Bundesgesetzes ist eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechtsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist; eine Art der Ausübung ist insbesondere die Führung einer Berufsbezeichnung, die durch Rechtsvorschriften auf Personen beschränkt ist, die über eine bestimmte Berufsqualifikation verfügen.

(3) Die Regelungen dieses Bundesgesetzes gelten nicht für die Durchführung von Verhältnismäßigkeitsprüfungen vor Erlassung von Rechtsvorschriften,

           1. die den Zugang zu reglementierten Berufen oder deren Ausübung nicht beschränken, einschließlich redaktioneller Änderungen oder technischer Anpassungen des Inhalts von Ausbildungsgängen oder der Aktualisierung von Ausbildungsvorschriften,

           2. die reglementierte Berufe betreffen, für die in einem gesonderten Rechtsakt der Europäischen Union spezifische Anforderungen an einen bestimmten Beruf festgelegt sind, soweit dieser Rechtsakt den Mitgliedstaaten keine Wahl der genauen Art und Weise der Umsetzung dieser Anforderungen lässt oder

           3. für die in einem gesonderten bundesgesetzlichen Rechtsakt die Richtlinie (EU) 2018/958 in innerstaatliches Recht umgesetzt ist.

Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Nichtdiskriminierung

§ 3. (1) Neu eingeführte oder geänderte Rechtsvorschriften gemäß § 2 Abs. 1 haben folgenden Grundsätzen zu entsprechen:

           1. sie müssen für die Verwirklichung des angestrebten Ziels geeignet sein und dürfen nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus gehen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit);

           2. sie dürfen in Bezug auf Berufsangehörige, die dem Recht der Europäischen Union unterliegen, weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Wohnsitzes enthalten (Grundsatz der Nichtdiskriminierung).

(2) Zur Sicherstellung der Einhaltung dieser Grundsätze ist vor der Erlassung neuer oder geänderter Rechtsvorschriften gemäß § 2 Abs. 1 eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes durchzuführen.

Verpflichtete Organe

§ 4. (1) Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist von dem jeweils zuständigen Bundesminister, der jeweils zuständigen Bundesministerin bzw. der gegebenenfalls zuständigen Bundesregierung vor Erlassung einer Verordnung oder der Einbringung eines Gesetzesantrags in den Nationalrat durchzuführen. Wenn Gesetzesvorschläge von der Bundesregierung gemäß Art. 41 Abs. 1 B‑VG als Regierungsvorlagen dem Nationalrat zur parlamentarischen Behandlung vorgelegt werden, hat das zuständige Organ die Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits vor Einbringung in den Ministerrat durchzuführen.

(2) Sind andere Organe als der Nationalrat, eine Bundesministerin, ein Bundesminister oder die Bundesregierung ermächtigt, Rechtsvorschriften gemäß § 2 Abs. 1 zu erlassen, so obliegt ihnen die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung

§ 5. (1) Der Umfang der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß § 3 Abs. 2 muss im Verhältnis zu der Art, dem Inhalt und den Auswirkungen der neuen bzw. geänderten Vorschrift stehen.

(2) Jede Vorschrift im Sinne des § 2 Abs. 1 ist so ausführlich zu erläutern, dass eine Bewertung der Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ermöglicht wird.

(3) Die Gründe für die Beurteilung einer Vorschrift im Sinne des § 2 Abs. 1 als gerechtfertigt und verhältnismäßig müssen durch qualitative und, soweit möglich und relevant, quantitative Elemente substantiiert werden.

(4) Bei der Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auf Relevanz, auf inhaltliche Konsistenz, auf Verständlichkeit, auf Nachvollziehbarkeit, auf Vergleichbarkeit und auf Überprüfbarkeit zu achten.

Inhalt der Verhältnismäßigkeitsprüfung

§ 6. (1) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß § 3 Abs. 2 sind insbesondere folgende Inhalte zu prüfen:

           1. Rechtfertigung durch Ziele des Allgemeininteresses, die konkreten Risiken entgegenwirken sollen;

           2. Geeignetheit und Angemessenheit der Regelung;

           3. Verhältnismäßigkeit der Regelung unter Berücksichtigung gelinderer Mittel;

           4. Verhältnis zu bestehenden Vorschriften und kombinatorische Effekte insbesondere in Bezug auf bestimmte berufsrechtliche Anforderungen;

           5. Auswirkungen auf den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr, die Wahlmöglichkeit für Verbraucher und die Qualität der Dienstleistung;

           6. berufsspezifische Zusammenhänge zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Berufsqualifikation;

           7. spezifische Anforderungen an die vorübergehende Erbringung von Dienstleistungen;

           8. Nichtdiskriminierung im Sinne des § 3 Abs. 1 Z 2.

(2) Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist unter Berücksichtigung der in § 5 festgelegten Anforderungen nach dem in der Anlage angeführten Prüfschema durchzuführen.

Begutachtungsverfahren

§ 7. Die verpflichteten Organe im Sinne des § 4 haben den Entwurf der Rechtsvorschriften gemäß § 2 Abs. 1 einschließlich der Erläuterungen und der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß § 6 vor der Erlassung einem allgemeinen Begutachtungsverfahren zu unterziehen. Der Entwurf samt Erläuterungen und Verhältnismäßigkeitsprüfung ist im Rahmen des Begutachtungsverfahrens für jedermann zugänglich zu veröffentlichen und es ist eine allgemeine Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben.

Überwachung

§ 8. (1) Nach der Erlassung von Vorschriften gemäß § 2 Abs. 1 haben die verpflichteten Organe im Sinne des § 4 deren Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 Z 1 zu überwachen sowie Entwicklungen, die nach der Erlassung der betreffenden Vorschriften eingetreten sind, Rechnung zu tragen.

(2) Bei der Überwachung gemäß Abs. 1 ist auf Relevanz, auf inhaltliche Konsistenz, auf Verständlichkeit, auf Nachvollziehbarkeit, auf Vergleichbarkeit und auf Überprüfbarkeit zu achten.

Vollziehung

§ 9. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes ist der oder die nach dem Bundesministeriengesetz 1986, BGBl. Nr. 76/1986, in der jeweils geltenden Fassung, bzw. der oder die nach besonderen Vollziehungsvorschriften in den Materiengesetzen jeweils zuständige Bundesminister oder jeweils zuständige Bundesministerin oder gegebenenfalls die Bundesregierung betraut.

Inkrafttreten

§ 10. Dieses Bundesgesetz tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung im Bundesgesetzblatt in Kraft.