1899/J XXVII. GP

Eingelangt am 07.05.2020
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

 

der Abgeordneten Gerald Loacker, Kolleginnen und Kollegen

an den Bundeskanzler

betreffend Das Corona-"Expertenpapier" des Bundeskanzlers ist wieder online, mit nachträglichen Änderungen

 

Das ominöse Corona-"Expertenpapier" ist wieder da. Rundum erneuert.

Kürzlich wurden Protokolle der Bundesregierung geleakt, aus denen hervorgeht, dass die Bundesregierung bei ihrer Corona-Strategie nicht unwesentlich auf Angst setzt. Diese Angstpolitik wird von ÖVP-nahen "Twitter-Cassandras" flankiert, welche, offensichtlich gespickt mit Informationen des Kanzleramts, in den sozialen Netzwerken übertriebene Zahlen verbreiten und die Grenzen der Angst-Strategien der Bundesregierung abtesten sollen. So strapazierte Wolfgang R. am 23.4. auf Twitter erneut die 100.000 Corona-Toten. Nach massiven Gegenwind ruderte Wolfgang R. aber relativ schnell wieder zurück. Dieser Rückzieher hat aber offensichtlich den Offensivdrang des "Medienbeauftragen" des Bundeskanzlers bei der Angststrategie unterlaufen. Denn nach dem Motto "keinen Millimeter zurück" tauchte Gerald Fleischmann plötzlich aus dem Nichts aus seiner Deckung hervor, um den in die Defensive geratenen Wolfgang R. zur Seite zu springen und auf Twitter noch eines draufzusetzen: "130.000 Tote"! Als Quelle gab er das längst gelöscht geglaubte Corona-"Expertenpapier" an, das nun wieder auf der Homepage des Bundeskanzleramts veröffentlicht wurde, allerdings rundum erneuert. (https://www.oesterreich.gv.at/dam/jcr:a9ba0dbb-fc05-4b6f-a7cb-ecb8b6842364/Executive%20Summary%20Covid19%20v2.pdf)

 

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Nachträgliche Änderungen des Expertenpapiers

Zusammenfassen kann man die Änderungen des Expertenpapiers folgendermaßen. Bei zeitlich unkonkreten oder erst längerfristig eintretenden Extrem-Szenarien blieb das "Expertenpapier" nahezu unverändert, z.B.: "Wenn es nicht gelingt, rasch den Faktor R0 unter den Wert von 1 zu drücken, sind in Österreich zehntausende zusätzliche Tote und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu erwarten." Bei Extremszenarien, die schon im April eintreten hätten sollen, entschärfte man aber deutlich. So wurde im Punkt "Zentrale Empfehlung" der Satz  "Unter der realistischen Annahme R0 = 1.7 wird unser Gesundheitssystem Mitte April zusammenbrechen." durch die deutlich mildere Aussage "Unter der realistischen Annahme R0 =1.7 (siehe auch Studie des Imperial College vom 30.03.2020) würde unser Gesundheitssystem bereits Mitte April bis Ende April seine Belastungsgrenze in Hinblick auf Intensivbetten überschreiten." ersetzt.

Man kann daraus schließen, welche Rolle die zeitliche Komponente in die Angststrategie des Bundeskanzleramts spielt, nämlich: berechne Horrorszenarien, gibt aber keine konkreten und vor allem keine zeitnahen Zeitangaben dazu an. Nur so kannst du die Angststrategie möglichst lange spielen.

Ignorieren von Fakten

Um die mangelhafte Seriosität des "Expertenpapiers" zu unterstreichen, seien die Annahmen zum täglichen Zuwachs der Neuinfizierten genannt, auf die der "Medienbeauftragte" des Kanzleramts immer noch beharrt. Die Rede ist von 30% Zuwachs an Neuinfizierten. In keinem Land, auch in solchen, wo kein Lockdown stattfand (z.B.: Schweden), beobachtet man einen längerfristig anhaltenden Neuinfizierten-Anstieg von täglich 30%. Der Politologe Peter Filzmaier hat es vor kurzem sehr klar in der "Kronen Zeitung" (https://www.krone.at/2130666) erklärt: Die sinkenden Raten sind ein mathematischer Effekt, weil die Summe der zugrunde liegenden Infizierten immer größer wird. Das bedeutet, dass tägliche Zuwachsraten in Höhe von 30% längerfristig (auch ohne Lockdown) nicht haltbar gewesen wären. Beispielsweise lagen die Zuwachsraten vor dem Lockdown teilweise im hohen zweistelligen bzw. im niedrigen dreistelligen Prozentbereich, mit sinkender Tendenz. Außerdem setzt die Annahme konstanter 30%-iger Zuwachsraten voraus, dass Menschen, trotz Kenntnis einer Gefahr, nicht vorsichtiger werden. Eine Annahme, die unrealistisch ist.

Bundeskanzleramt und Gesundheitsministerium nicht abgestimmt

Hinzu kommt, dass der Gesundheitsminister vor kurzem Berechnungen der AGES veröffentlicht hat, woraus hervorgeht, dass der R-Faktor für 31.3. bei 1,3 gelegen ist. Da stellt sich natürlich die Frage, wieso im "Expertenpapier" für 31.3. ein R von 1,7 angenommen wird. Da der R-Faktor praktisch tagesaktuell berechnet werden kann, kann auch die Ausrede nicht gelten, dass man den R-Faktor erst nachträglich berechnen kann.

 

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Weiterhin "message control" statt Transparenz

Keinesfalls darf diese extrem fragwürdige „message control“ einer Regierung dazu führen, dass öffentlich finanzierte Studien geheim bleiben. Andererseits ist es ein Armutszeugnis für manche Wissenschaftler, wenn sie (mittels Verlinkung auf Fremdtexte) oft zurecht internationale Studien kritisieren, aber aus welchem Grund auch immer, wochenlang zu keiner fundierten konstruktiven Methodenkritik von nationalen Studien fähig waren. Die Publikation von wissenschaftlichen Arbeiten dient in erster Linie dem wissenschaftlichen Diskurs, der Verbesserung von wissenschaftlichen Methoden, der Vermeidung zukünftiger Fehler und vielem mehr. Dabei ist wichtig, dass eine Kritik immer auf akademischem Niveau erfolgt und konstruktiv zur wissenschaftlichen Lernkurve beiträgt. Aber die Nichtveröffentlichung des gesamten "Expertenpapiers" kann natürlich auch Teil der Angstpolitik, Intransparenz und "message control" des Bundeskanzleramtes sein.

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

 

Anfrage:

 



1.    Aus welchem Grund wurde die executive summary zum Expertenpapier abgeändert?

2.    Wann wurde die executive summary zum Expertenpapier abgeändert?

3.    Wann wurde die zweite Version der executive summary zum Expertenpapier veröffentlicht?

4.    Wurde auch das der executive summary zugrunde liegende Expertenpapier selbst abgeändert?

a.    Wenn ja, wann?

b.    Wenn ja, auf wessen Initiative?

5.    Wieso wurde auf www.oesterreich.gv.at wieder nur die executive summary der zweiten Version des Corona-"Expertenpapiers" hochgeladen?

6.    Liegt dem Bundeskanzleramt die zweite Version des Expertenpapiers zur Gänze vor?

a.    Wenn ja, wieso wurde es nicht vollständig veröffentlicht?

b.    Bitte um Übermittlung des vollständigen Expertenpapiers.

c.    Sind für die Änderungen Honorarnoten bezahlt worden? Wenn ja, wie hoch?

7.    Welche Entscheidungen der Bundesregierung wurden aufgrund des Expertenpapiers getroffen?

 

8.    Welche "Anmerkungen und Anregungen" (Seite 1 der Executive Summary) wurden aufgegriffen?

a.    Wer ist Teil der "wissenschaftlichen Community" (ebenfalls Seite 1), deren Anmerkungen und Anregungen aufgegriffen wurden?

9.    Wieso wird in der executive summary (lt. Dokumenteigenschaften: Erstellungsdatum 2.4.2020) für 31.3. ein "realistisches" R=1,7 angenommen, obwohl das R laut BMSGPK (AGES) kontinuierlich gefallen ist und am 31.3. schon deutlich unter 1,7 lag, nämlich bei 1,3?

a.    Gibt es zwischen Bundeskanzleramt und dem Gesundheitsministerium diesbezüglich eine Abstimmung? Wenn ja, wie konnte es zu so einer enormen Abweichung beim R kommen?

b.    Welche Berechnungsgrundlagen haben die Experten angenommen, die zu einem R-Wert von 1,7 am 31.03. geführt haben?

10. Wieso propagiert der "Medienbeauftragte" des Bundeskanzleramts immer noch 130.000 mögliche Corona-Tote und eine konstante, tägliche Neuinfizierten-Zuwachsrate von 30%, obwohl die Neuinfizierten-Zuwachsrate bereits vor dem Lockdown gesunken ist (ausgehend von anfänglich teilweise hohen zweistelligen bzw. niedrigen dreistelligen prozentuellen Zuwachsraten)?

a.    Gehen Sie davon aus, dass die Menschen seit dem Bekanntwerden der Virusgefahr im Alltag vorsichtiger geworden sind, um die Gefahr einer Corona-Ansteckung zu vermeiden?

b.    Wenn ja, wie lässt sich dann die Annahme einer konstanten 30%-igen Neuinfizierten-Zuwachsarte argumentieren (Grundlage für die 130.000 Toten)?

 

11. Sollte sich die gesamte Bevölkerung (8,8 Mio. Menschen) mit Corona infizieren, würde sich bei 130.000 Toten eine Sterblichkeitsrate von 1,5% ergeben. Repräsentative Corona-Stichproben, die auch die Dunkelziffern an Corona-Erkrankten und -Genesenen abschätzen, ergeben aber deutlich geringere Sterblichkeitsraten (z.B.: Gangelt-Studie: 0,37%).

a.    Wurden die Extremszenarien im "Expertenpapier" mit anderen Studien gegengeprüft?

b.    Von welcher Corona-Sterblichkeitsrate gehen Sie aus, wenn die Dunkelziffer an Corona-Erkrankten/Genesenen berücksichtigt wird?