3312/J XXVII. GP

Eingelangt am 09.09.2020
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

der Abgeordneten Dr. Stephanie Krisper, Kolleginnen und Kollegen

an die Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt

betreffend Einhaltung EU-Türkei-Deal I und Maßnahmen für Deal II

 

Am 17. und 18. März 2016 trafen sich EU Staats- und Regierungschefs sowie der türkische Premier Ahmed Davutoğlu im Europäischen Rat. Sie schlossen eine Vereinbarung, die den Zustrom irregulärer Migrant_innen über die Türkei nach Europa beenden, das Geschäftsmodell der Schleuser zerschlagen und Migrant_innen eine Alternative bieten soll, bei der sie ihr Leben nicht aufs Spiel setzen. Diese EU-Türkei-Erklärung ("Türkei-Deal") sieht ebenfalls die Verlegung irregulärer Migrant_innen von den griechischen Inseln zurück in die Türkei und die Ansiedlung von Syrer_innen aus der Türkei mit positivem Asylbescheid in der EU vor.
Der Deal umfasst weiters die Beschleunigung von Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger_innen und der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sowie eine Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien und finanzielle Unterstützung für die 3,6 Millionen in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge. Letzteres wurde im Rahmen des EU Facility for Refugees in Turkey Programms der EU umgesetzt (https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/frit_factsheet.pdf), bei dem Fördergelder hauptsächlich direkt an internationale humanitäre Hilfs- und Entwicklungsorganisationen vor Ort bezahlt wurden, und stand im Mittelpunkt eines Eklats im Februar 2020, in welchem Präsident Recep Tayyip Erdogan's Verärgerung die EU-Staatsoberhäupte traf.

Erdogan zufolge seien die im Rahmen des Deals abgemachten 6 Milliarden Euro von der EU nicht zur Gänze an die Türkei und an in der Türkei tätigen internationalen Organisationen ausbezahlt worden. Erdogans Frustration ging hauptsächlich darauf zurück, dass keine Gespräche seitens der EU zur Weiterführung der finanziellen Unterstützung dieser Organisationen stattgefunden haben, die den sich weiterhin in der Türkei aufhaltenden syrischen Flüchtlingen zugute kommen. Die EU hätte sich somit nicht an ihre Seite der Abmachung im weiteren Sinne einer langfristigen Unterstützung der Flüchtlingslage gehalten, wodurch Erdogan sich Anfang März 2020 gerechtfertigt sah, Menschen, die bisher durch türkische Behörden und Organisationen von einer Migration nach Europa abgehalten wurden, innerhalb der Türkei in Richtung der griechischen Grenze zu bewegen. Erdogan soll zu diesem Zeitpunkt Menschen an die türkische Grenze zu Griechenland gebracht haben. Ein bemerkbar starker Zustrom nach Griechenland blieb jedenfalls aus.

Am 18.3.2020 besprachen Angela Merkel, Emmanuel Macron, Boris Johnson und Erdogan die Weiterführung des Türkei-Deals. Weitere Entwicklungen hierzu verlangsamten sich jedoch wegen der zeitgleich einsetzenden Maßnahmen gegen die Corona-Krise. Auch EU Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen musste aufgrund dessen einen geplanten Besuch in die Türkei absagen. Während die Welt durch ein kollektives Entschleunigungserlebnis auf Eis gelegt wurde, lagen auch die bereits vor der Corona-Krise dingend nötigen Aktionen zur Erleichterung der akuten humanitären Notlage der Migrant_innen, die sich in den fünf Lagern der griechischen Inseln Lesbos, Chios, Kos und Samos befinden, brach. Die Zukunft des Türkei-Deals hängt seither in der Schwebe.

Weiter geht aus Analysen der Umsetzung des Türkei-Deals hervor, dass griechische Behörden insgesamt weit weniger Menschen in die Türkei zurückschicken als im Türkei-Deal vereinbart ist. Laut eines Berichts des European Stability Institute vom 24.01.2020 können aufgrund zahlenmäßiger Knappheit an Beamt_innen Asylverfahren in Griechenland nicht effizient genug abgewickelt werden
(https://www.esiweb.org/sites/default/files/reports/pdf/ESI%20-%20The%20Aegean%20Tragedy%20-%2024%20Jan%202020%20.pdf). Somit wurden seit Beginn des Türkei-Deals im April 2016 bei 143.936 Ankünften in Griechenland bis 2019 insgesamt 2.001 Menschen im selben Zeitraum in die Türkei rückgeführt. Die Höchstzahl, 386, dieser Rückführungen von Griechenland in die Türkei fand innerhalb des ersten Monats des Deals statt. Seither blieb die Zahl stetig niedrig. Der politische Wille der griechischen Regierung scheint anhand dieser Fakten mangelhaft zu sein.

 

Ankünfte in Griechenland seit Beginn des EU-Türkei-Deals ("EU-TR statement")

_scroll_external/attachments/screen-shot-2020-07-23-at-10-42-55-804aeaabb317abd90fe09a869247729cd16f98d88154341cf933272b790b050c.png


Rückführungen in die Türkei seit Beginn des EU-Türkei-Deals

_scroll_external/attachments/screen-shot-2020-07-23-at-10-43-31-f2e0e1eb4bcefb0ab631d1892444ca0dc28d7a637b805b56881924b6ec933d2a.png

 

Mit dem Türkei-Deal ist die Zahl der unerlaubten Grenzübertritte nach Europa hauptsächlich durch die vereinbarten verstärkten Grenzkontrollen und die sich verbreitenden Kenntnisse zur dringlichen Lage in den Lagern Griechenlands gesunken. Laut BMI war die Zahl der Asylanträge in Österreich 2019 so gering wie 2010. Flüchtlings- und Migrationstrends in Richtung Europa bestehen jedoch weiterhin und die von Migrant_innen genutzten Routen werden durch eine verstärkte Außengrenzschutzpolitik vonseiten der europäischen Länder, sowie die stetige Eindämmung der von Schmugglern begehrten Routen, immer gefährlicher. NGOs und Think Tanks, darunter das Ludwig-Boltzmann Institut, hinterfragen regelmäßig ob die Türkei als sicherer Drittstaat gelten kann – einerseits weil das Recht auf ein Asylverfahren durch 'push-backs' verletzt wird, andererseits weil von Menschenrechtsverstößen gegenüber Geflüchteten in der Türkei, wie willkürliche Isolationshaft und Gewalt, berichtet wird (https://bim.lbg.ac.at/de/artikel/aktuelles/zum-wert-rechtsstaatlichkeit-eu-aussengrenze-stellungnahme-zur-situation-griechisch-tuerkischen-grenze).

Diese Themen gestalten die Umstände rund um den Türkei-Deal und dessen Einhaltung aufseiten der EU und der Türkei. Auf EU-Ebene hat die österreichische Regierung die Möglichkeit, konstruktiv an einer nachhaltigen und humanen Strategie mitzuwirken. Das Regierungsprogramm setzt in diesem Rahmen ihren Schwerpunkt auf freiwillige Rückführungen in Heimatländer und humanitäre und Entwicklungshilfe vor Ort (S. 175; S. 187-188). Zum Türkei-Deal selbst ist im Regierungsprogramm nichts festgelegt.

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

Anfrage:

1.    Wie wird die Überweisung des vereinbarten Budgets im Rahmen der 'EU Facility for Refugees in Turkey' berechnet?

a.    Welcher Betrag ist derzeit noch ausstehend:

                                      i.an die Türkei?

                                    ii.an andere relevante Organisationen in der Türkei, und an welche?

b.    Anhand welcher Berechnung oder faktischen Grundlage begründet Erdogan seine Aussage, der vereinbarte Betrag wäre nicht ausbezahlt worden?

c.    Anhand welcher Berechnung oder faktischen Grundlage begründet die EU, das Geld wäre ausbezahlt worden?

2.    Wie begründet sich die Diskrepanz in den Bewertungen? Kann ein neuer Deal aus den unterschiedlichen Interpretationsweisen lernen und die Operationalisierung verbessern?

3.    Wie, wann und an wen übermittelte die türkische Regierung ihren Vorwurf, die EU hätte sich nicht an die Vereinbarung bezüglich finanzieller Unterstützung gehalten?

a.    Welche Beschwerdestellen wurden im EU-Türkei-Deal für betroffene Parteien vereinbart?

4.    Welche Maßnahmen wurden im EU-Türkei-Deal im Falle einer Nicht-Einhaltung der Abmachung vonseiten einer der Parteien vereinbart (bitte um genaue Erläuterung des Zeitrahmens sowie zuständiges Kontroll- und Implementierungsorgans)?

5.    Wie steht es zum Zeitpunkt der Anfragebeantwortung um den EU-Türkei-Deal?

6.    Spricht die österreichische Bundesregierung sich für eine Weiterführung des EU-Türkei-Deals aus?

a.    Welche Vorbereitungen sind vonseiten Ihres Ministeriums dafür getroffen worden?

b.    Welche Vorbehalte bestehen weshalb?

7.    Soll der Türkei-Deal nach denselben Kriterien weitergeführt werden, die 2016 vereinbart wurden?

a.    Wenn ja, welche Gespräche haben wo und wann bereits zwischen welchen Entitäten zur Aushandlung der Weiterführung des Türkei-Deals stattgefunden?

b.    Wenn ja, welche Schritte sind bereits geplant (bitte um genaue Erläuterung anstehender Termine)?

c.    Wenn nein, welche Änderungen sind vorgesehen?

d.    Wenn nein, welche Sanktionen sind im Falle einer Nichteinhaltung welcher Punkte vorgesehen?

                                      i.Welche Entität(en) sind ab wann für die Überwachung und Implementierung der vereinbarten Punkte des Türkei-Deals zuständig?

                                    ii.Welche Entität(en) sind ab wann für die Überwachung und Implementierung der vereinbarten Sanktionen bei Nicht-Einhaltung der vereinbarten Punkte zuständig? 

8.    Inwiefern ist die österreichische Regierung an der Gestaltung einer nachhaltigen Migrationsstrategie auf EU-Ebene beteiligt?

a.    Welche Initiativen, Treffen und andere relevante Begebnisse haben unter der Regierung Kurz I und Kurz II in diesem Sinne mit welchem Ergebnis stattgefunden?

9.    Aus der Beantwortung unserer Anfrage vom 10.03.2020 zu den Umständen der Lager auf den griechischen Inseln
(https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/J/J_01236/index.shtml) ging u.a. hervor, dass es Anfang März zu Treffen zwischen österreichischen und griechischen Regierungsspitzen gekommen ist. Was wurde mit jeweils welchem Ergebnis an jenen von Ihnen genannten Treffen besprochen?

a.    Laut Anfragebeantwortung vom 8.5.2020 (1246/AB
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/AB/AB_01246/index.shtml) kam es am 3. März 2020 zu Gesprächen zwischen Außenminister Alexander Schallenberg in Athen mit seinem Amtskollegen Nikos Dendias, dem Migrationsminister Notis Mitarakis sowie mit dem Minister für Schifffahrt und Inselpolitik Ioannis Plakiotakis.

                                      i.Welches Ersuchen wurde mit jeweils welchem Ergebnis von wem an wen herangetragen?

b.    Laut derselben Anfragebeantwortung vom 8.5.2020 (1246/AB) stattete der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am 10. März 2020 Bundeskanzler Sebastian Kurz in Wien einen offiziellen Besuch ab, in dessen Rahmen von griechischer Seite das Ersuchen um Unterstützung herangetragen wurde.

                                      i.Was war der Inhalt dieses Gesprächs?

                                    ii.Welche Form von Unterstützung befand der griechische Ministerpräsident als dringend nötig?

c.    Dieselbe Anfragebeantwortung vom 8.5.2020 (1246/AB) betonte, dass am 11. März 2020 die Bundesregierung per Ministerratsbeschluss dem Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen 1 Mio. Euro aus dem Hilfsfonds für Katastrophenfälle im Ausland für Hilfsaktivitäten zur Linderung der Flüchtlingskrise in Griechenland bereitgestellt hat.

                                      i.Welche andere Form von Unterstützung oder Hilfeleistung, außer finanzieller, hat die österreichische Regierung seitdem angeboten, um die Lage in den griechischen Lagern aktiv zu verbessern?

                                    ii.Ist geplant, Beamte aus anderen EU-Ländern nach Griechenland zu schicken, um den Behörden vor Ort bei der Abwicklung von Asylverfahren zu unterstützen?

10. Betrachten Sie die Türkei als sicheren Drittstaat für Migrant_innen?

a.    Auf welcher faktischen Grundlage (z.B. Daten, Studien, Analysen, Bewertungen internationaler Organisationen) ist diese Ansicht gestützt (bitte um Quellenangabe der genannten Grundlagen)?

11. Welche gesamteuropäische Migrationsstrategie bzw. welche konkreten Handlungen im Rahmen der Migrationsstrategie auf EU-Ebene sind Ihrer Meinung nach mit der österreichischen Linie vereinbar; welche sind es Ihrer Meinung nach inwiefern nicht?

a.    Bezüglich des Türkei-Deals?

b.    Bezüglich der Migrationstrends nach Europa?

c.    Bezüglich des Umverteilungsprogramms der EU-Kommission, in dessen Rahmen sich derzeit 11 Länder (Deutschland, Frankreich, Kroatien, Finnland, Irland, Luxemburg Litauen und Portugal) zur Aufnahme von insgesamt 2.000 Schutzbedürftigsten von den griechischen Inseln verpflichtet haben und unter denen knapp 500 bereits in das jeweilige Aufnahmeland überführt wurden?