7269/J XXVII. GP

Eingelangt am 07.07.2021
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

der Abgeordneten Alois Stöger, Genossinnen und Genossen

an den Bundesminister für Arbeit

betreffend

Rechtswidrige Weisung: Anzeige in Bagatellfällen

Im Juli 2019 erfolgte durch das BMASGK an das AMS die Weisung der Anzeigepflicht bei Verdacht einer strafbaren Handlung gern § 78 StPO.

Hintergrund für diese Weisung war der interminstierielle Task Force zur Bekämpfung des Sozialleistungsbetruges. Mit dieser Weisung wurde die bisherige Weisungslage abgeändert. Gemäß § 78 StPO ist das AMS verpflichtet, ihm bekanntgewordene Straftaten, die seinen Wirkungsbereich betreffen, bei der Kriminalpolizei oder Staatanwaltschaft anzuzeigen. Die Erstattung der Anzeige ist nicht an Betragsbegrenzungen gebunden. Im Zusammenhang mit Leistungen des AMS kommen hierbei insbesondere Tatbestände des Betruges, des schweren Betruges und des gewerbsmäßigen Betruges in Betracht, die jeweils vorsätzliches Handeln voraussetzen.

Da die Strafbarkeit gemäß § 167 StGB u.a. wegen Betruges durch tätige Reue aufgehoben wird, wurde in Fällen des unberechtigten Bezuges von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bei Verdacht auf eine vorsätzlich begangene strafbare Handlung dem AMS folgende Vorgehensweise vorgegeben:

Nachdem die betreffende Person auf den entstandenen Überbezug hingewiesen wird, kann diese auf zwei Wege tätige Reue noch vor Bescheiderlassung vornehmen:

Die Partei kann sich niederschriftlich dazu verpflichten, die ungebührliche empfangene Leistung binnen 14 Tagen nach Erhalt des Rückforderungsbescheides, in dem die Zahlungsdaten mitgeteilt werden, freiwillig vollständig zurückzuzahlen: z.B. durch Aufrechnung bei der Auszahlung. Weiters ist es möglich auf Ansuchen der betreffenden Person eine Ratenzahlung in angemessener Höhe innerhalb längstens eines Jahres zu vereinbaren. Diese Ratenvereinbarung kann auch noch bis spätestens 14 Tage nach Bescheiderlassung getroffen werden. Wird die Ratenzahlung nicht eingehalten, lebt die Strafbarkeit wieder auf und es erfolgt eine Anzeige. Eine freiwillige Schadensgutmachung wird nur anerkannt, wenn sie vom/von der Leistungsbezieherin und vom AMS vor der Bescheiderlassung schriftlich vereinbart wird und in den Verfahrensunterlagen festgehalten wird. Eine Vereinbarung aufgrund tätiger Reue kann nur bis zur Erlassung des Rückforderungsbescheides erfolgen. Wird eine Zahlungsvereinbarung oder Ratenvereinbarung vor Bescheiderlassung zwischen den Parteien und dem AMS getroffen und wird diese eingehalten, schadet es der tätigen Reue nicht, wenn die Partei ordentliches Rechtsmittel gegen den Rückforderungsbescheid einbringt. Liegen die Voraussetzungen für eine tätige Reue nicht vor, ist ungeachtet eines noch nicht beendeten Beschwerdeverfahrens unverzüglich Anzeige an das zuständige Landeskriminalamt zu erstatten. Bei vereinbarten Einmalzahlungen hat dies nach Ablauf von 14 Tagen zu erfolgen und bei versäumten Ratenzahlungen nach der 2. Mahnung.

In folgenden Fällen besteht keine Anzeigepflicht:

Kein Rückforderungstatbestand ist erfüllt, wenn es aufgrund eines nicht erkennbaren Versehens des AMS dazu gekommen ist sowie bei verschuldensunabhängigen Rückforderungen: z.B. rückwirkende Feststellung eines aufrechten Beschäftigungsverhältnisses, aufgrund der aufschiebenden Wirkung, oder eines nachträglich vorgelegten Einkommens- oder Umsatzsteuerbescheides. In allen anderen Fällen ist zu prüfen, ob infolge einer tätigen Reue eine Anzeige unterbleiben kann. Tatsächlich ist es aber so, dass es auch bei verschuldensunabhängigen Rückforderung oder wenn diese aufgrund eines Versehens des AMS zu Stande kommen, den betreffenden Personen eine Aufforderung zur tätigen Reue übermittelt wird. Auch wird bei der Androhung der Strafanzeige vorab keine Prüfung vorgenommen, ob vorsätzliches Handeln Vorgelegen ist. Aus derzeitiger Sicht wird bei jedem Rückforderungsfall, den das AMS feststellt, ein solches Schreiben ausgegeben. Ob vorsätzliches Handels vorliegt, wird vor Übermittlung der Aufforderung zur tätigen Reue nicht geprüft. Die betreffenden Personen lesen nur, dass es zu einer Strafanzeige kommt, sodass diese unabhängig davon, ob tatsächlich ein vorsätzliches Handeln und Betrugsabsicht vorliegt, der Betrag in Raten zurückgezahlt wird.

In zahlreichen Fällen werden Personen, bei denen dies zutrifft, von der Arbeiterkammer Wien beraten.

Hier einige Sachverhalte aus der Beratung der AK Wien:

Kundin meldet dem AMS strittige Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung. Nach Vorliegen des arbeitsrechtlichen Vergleichs mit dem Arbeitgeber wurde das AMS umgehend darüber informiert. Auch diese Person hat ein Schreiben zur tätigen Reue erhalten.

Weitere Fälle die im Zusammenhang mit der Kündigungsentschädigung und der Urlaubsersatzleistung auftreten stehen im Zusammenhang mit der Auszahlung von Insolvenzentgelt durch die lEF-Service GmbH. Auch in diesen Fällen wird eine Aufforderung zur tätigen Reue vorgenommen, obwohl noch keine Auszahlungen durch die lEF-Service GmbH vorgenommen wurden, auch dann, wenn das AMS einen falschen Rückerstattungsbetrag an die lEF-Service GmbH gemeldet hat.

In einem weiteren Fall kam es zur Strafanzeige wegen Betrug. Die betreffende Person hat das Schreiben nach mehrmaligem Verschieben eines OP-Termins und Aussteuerung aus dem Krankengeldbezug überraschend erhalten und hat dem AMS erst nach dem Krankenhausaufenthalt den Aufenthalt gemeldet. Das AMS hat dieser Person aufgrund der verspäteten Meldung einen Tag Leistung in Höhe von € 32,78 zu viel ausbezahlt, da die Leistung aufgrund des Spitalaufenthaltes einzustellen war. Aufgrund dieses Sachverhaltes wurde eine Strafanzeige erstattet.

Ein weiterer Fall, bei dem ebenfalls kein Vorsatz zum Betrug vorliegen kann: Die betreffende Person hat dem AMS zu Beginn des Monats bekanntgeben, einen Pensionsantrag gestellt zu haben. Das AMS hat aber dennoch für diesen Monat die Leistung ausbezahlt. Die Person hat den Pensionsbescheid erst im nächsten Monat erhalten. Auch hier kann wohl kein Vorsatz für einen Betrug vorliegen.

Es hat den Anschein, dass dieses Vorgehen einzig und allein eine Einschüchterung der betreffenden Personen zum Ziel hat, sodass diese den Rechtsweg in Form des Beschwerdeverfahren nicht bestreiten und den Anweisungen des AMS Folge leisten, unabhängig davon, ob ein vorsätzliches Handeln Vorgelegen ist und die Rückforderung durch das AMS zur Recht besteht. Auch müssen Zahlungen während eines laufenden Beschwerdeverfahren geleistet werden, andernfalls eine Strafanzeige erfolgt. Dies verhindert auch eine aufschiebende Wirkung, die einer Beschwerde grundsätzlich zukommt.

Ob eine Rückforderung zu Recht besteht, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) sowie in weiterer Folge der VwGH bzw VfGH. Mit der Vorgehensweise des AMS wird die Rechtsschutzmöglichkeit der LeistungsbezieherInnen erheblich eingeschränkt, der gerichtlichen Entscheidung wird durch die Verwaltungsbehörde vorgegriffen: Einerseits stimmen viele Betroffene aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung der Ratenvereinbarung zu und verzichten auf ein Rechtsmittel, obwohl sie der Ansicht sind, dass der Leistungsbezug rechtmäßig war. Andererseits nehmen sie eine oftmals erhebliche Leistungskürzung (teilweise im Ausmaß von Tausenden von Euro) in Kauf, weil sie aus begründeter Angst auf ein Rechtmittel verzichten bzw verzichten müssen.

Diese Praxis ist nicht nur ein Eingriff in das verfassungsmäßig verankerte Prinzip der Gewaltenteilung (Art 94 B-VG). Sie ist auch ein massiver Verstoß gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren gern Art 6 EM RK.

Da diese Vorgehensweise das rechtsstaatliche Prinzip „Recht auf ein faires Verfahren“ gravierend einschränkt und in grundlegende Verfassungsprinzipien eingreift, stellen die unterfertigten Abgeordneten folgende Anfrage:

1.    In wie vielen Fällen wurden seit 2019 LeistungsbezieherInnen aufgefordert, tätige Reue auszuüben?

a.    Wie gliedern sich diese Fälle nach Bundesländern auf?

b.    Wie gliedern sich diese Fälle nach Leistungsart auf (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe)?

c.     Wie oft erfolgte bisher eine tätige Reue durch betroffene Personen?

2.    Wird in allen Rückforderungs-Fällen gern §§ 24, 25 AIVG eine Strafanzeige wegen Verdachts auf eine strafbare Handlung gern §§ 146 ff StGB durch das AMS vorgenommen?

a.    Wenn nein: Wann wird eine Anzeige erstattet und wann nicht?

b.    Erfolgt eine Anzeige, wenn das Recht zur Rückforderung bereits verjährt ist (nach 3 Jahren)?

c.     Erfolgt eine Prüfung der strafrechtlichen Verjährung gern § 57 StGB?

3.    Wer prüft, ob es sich bei einem Überbezug einer AIVG-Leistung um einen Verdacht auf Sozialmissbrauch handelt?

a.    Beurteilt dies der/die Beraterin selbst?

b.    Wenn ja, beurteilt diese/dieser dann, ob Vorsatz vorliegt?

c.     Wenn ja, verfügen diese BeraterInnen über eine juristische Ausbildung, um feststellen zu können, ob Vorsatz vorliegt?

d.    Wenn diese BeraterInnen über keine juristische Ausbildung verfügen, wie beurteilen sie, ob ein strafbares Verhalten, insbesondere Vorsatz, vorliegt?

e.    Wer nimmt die Strafanzeige vor? Geschieht dies durch den/die AMS- Berater/Beraterin der regionalen Geschäftsstelle oder erfolgt es über die Rechtsabteilung der Landesgeschäftsstelle durch eine Juristin/einen Juristen?

4)    Wie wirkt sich die Ratenzahlung und tätige Reue auf die Beschwerdevorentscheidung des AMS aus?

a)    Wird die Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung durch das AMS dann überhaupt noch wahrgenommen, oder wird der Akt direkt an das BVwG weitergeleitet?

b)    Wenn keine unmittelbare Weiterleitung erfolgt, führt das Ermittlungsverfahren dann überhaupt noch dazu, dass der Beschwerde mittels Beschwerdevorentscheidung stattgegeben wird, wenn bereits Vorsatz für die tätige Reue festgestellt wurde?

c)    In wie vielen Fällen wurde bisher die Beschwerde direkt, aufgrund der tätigen Reue ohne Beschwerdevorentscheidung an das BVwG weitergeleitet?

d)    Wird dem BVwG die tätige Reue der Beschwerdeführerin/des Beschwerdeführers bekanntgegeben?

e)    Wenn ja, in wie vielen Fällen ist dies bereits erfolgt?

5)    Welchen Einfluss hat die strafrechtliche Anzeige auf die Entscheidung im Beschwerdeverfahren vor dem BVwG?

a)    Wird dem BVwG die Strafanzeige bekanntgegeben?

b)    Wirkt sich eine strafrechtliche Anzeige auf die Verfahrensdauer im verwaltungsrechtlichen Beschwerdeverfahren aus?

c)    Kommt es aufgrund der Strafanzeige zur Aussetzung des Verfahren?

d)    Wenn ja, wird das Beschwerdeverfahren bereits durch das AMS oder erst durch das BVwG ausgesetzt?

e)    Wenn ja, in wie vielen Fällen ist das bisher erfolgt?

a) Weshalb wird das Verfahren vor dem BVwG nicht abgewartet, bevor eine Strafanzeige erfolgt?

6)    Wie viele Anzeigen wurden seit der Weisung 2019 eingebracht?

a.    Wie viele Anzeigen werden jährlich eingebracht?

b.    In wie vielen Fällen wird tatsächlich ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet?

c.     In wie vielen Fällen wird das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt?

d.     In wie vielen Fällen kommt es zu einer Verurteilung nach §§ 146 ff StGB?

e.    In wie vielen Fällen kommt es zu einer Verurteilung nach anderen strafrechtlichen Bestimmungen? Nach welchen?

f.     Wie viele Anzeigen wurden jährlich vor der abgeänderten Weisung eingebracht?

7)    Hat die im Jahr 2019 eingeführte Anzeige-Praxis zu einer Steigerung/Beschleunigung der geleisteten Rückzahlungen bzw zu einer Verwaltungsvereinfachung geführt?

a.    Wie lange haben Rückforderungsverfahren vor der Weisung gedauert?

b.    Wie lange dauern Rückforderungsverfahren seit der Weisung?

c.    Wie viel Personal wurde vor der Weisung für Rückforderungsverfahren eingesetzt?

d.    Wie viel Personal wird seit der Weisung für Rückforderungsverfahren eingesetzt?

8)    Ist die Zahl der Beschwerden in Rückforderungs-Fällen gern §§ 24, 25 AIVG zurückgegangen, seitdem das AMS begonnen hat, Versicherte anzuzeigen?

a.    Wie hoch war die Zahl der Rückforderungs-Fälle im Zeitraum 2015-2019?

b.    Wie hoch ist die Zahl der Rückforderungs-Fälle seit 2019?

9)    In wie vielen Fällen erfolgte trotz tätiger Reue eine Strafanzeige, da die betroffenen Personen die Ratenvereinbarung aufgrund Ihrer finanziellen Lage nicht einhalten konnten?

a)    Werden in Bezug auf die zu leistenden Raten innerhalb von 12 Monaten Ausnahmen gemacht?

b)    Wenn nein, aus welchem Grund wird eine Ratenzahlung über 12 Monate hinaus nicht ermöglicht, wenn die betroffenen Personen zahlungswillig sind, aber aufgrund der finanziellen Situation die 12-Monatsfrist nicht einhalten können?

10) Wirkt sich die tätige Reue auf die Anzahl der durch das AMS einzubringenden Exekutionen aus?

a)  Haben sich diese durch die tätige Reue verringert?

b)  Wenn ja, lässt sich dies in Zahlen im Vergleich zu davor wiedergeben?

c)  Hat die Anzeige-Praxis Auswirkungen auf die Einbringlichkeit der Forderungen?

d)  Wenn ja, gibt es hier Vergleichsdaten zu den Jahren 2016 bis 2018?