19.36

Abgeordneter Mag. Gerald Loacker (NEOS): Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Hohes Haus! Wir schreiben nun Jänner 2020, und in den letzten Jahren ist in Sachen Sozialhilfe und Mindestsicherung nicht viel mehr produziert wor­den als ein paar VfGH-Verfahren und viel heiße Luft, und so auch heute. Wir haben hier den Antrag der FPÖ, mit dem die FPÖ die Regierung auffordert, die Länder auf­zufordern, Gesetze zu beschließen, also nichts Neues (Abg. Lukas Hammer: Die sie sowieso beschließen müssen!), und die SPÖ hat einen Antrag eingebracht, der ei­gentlich von der Hofer-Werbung abgeschaut ist, er sagt nämlich nicht viel mehr als: zu­rück zum Ursprung! – so wie es immer war, viel Neues ist da nicht dabei.

Das stärkste Gebläse zur Produktion heißer Luft haben aber schon die schwarzen und grünen Abgeordneten im Ausschuss bewiesen, die einen Antrag eingebracht haben, mit dem sie die eigene Regierung auffordern, das Regierungsprogramm umzusetzen und – jetzt kommt es – in einem ersten Schritt die Zahl der Armutsgefährdeten zu hal­bieren.

So etwas kann ja wirklich nur jemand beantragen, der nicht versteht, wie man Ar­mutsgefährdungsquoten berechnet! Wer meint, man könnte das schnell halbieren, meint auch, man könnte das auf null setzen. Armutsgefährdung berechnet sich aber immer in Prozent des Medianeinkommens und Sie können die Armutsgefährdung nur auf null setzen, wenn alle mehr oder weniger gleich viel verdienen. Das geht also nur, wenn Sie nicht nur Kollektivvertragslöhne haben, sondern wenn Sie oben auch noch einen Deckel einziehen. Wenn die Schwarzen das wollen, dann sagen Sie es bitte deutlich. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das die Absicht war, geschrieben haben Sie es. (Beifall bei den NEOS.)

Was wir von den NEOS wollen, ist eine echte Reform der Sozialhilfe: ein System, das einfacher, transparent und treffsicher ist, das den Menschen auf die Beine hilft, wenn sie es brauchen, und das ihnen ermöglicht, wieder auf eigenen Beinen zu stehen, wenn sie so weit sind. Dafür muss man aber schon einen Blick auf die Wechselbe­ziehung zwischen den Systemen Arbeitslosenversicherung und Mindestsicherung be­ziehungsweise Sozialhilfe werfen, weil diese Systeme natürlich miteinander korrespon­dieren. Über 70 Prozent der Sozialhilfebezieher stocken auf, das heißt, die beziehen oft auch eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung und stocken mit der Mindest­sicherung auf. Sie müssen zu zwei Behörden gehen, damit sie einmal sozial abge­sichert sind.

Zugrunde liegt ein Problem: nämlich die zeitlich unbegrenzt gewährte Notstandshilfe. Schon der Rechnungshof hat vor einigen Jahren gesagt, dass die Systeme der So­zialhilfe, also Mindestsicherung und Notstandshilfe, zu einem gemeinsamen System der sozialen Absicherung zusammengeführt gehören, weil natürlich eine zeitlich unbe­grenzte Leistung aus der Arbeitslosenversicherung die Versichertengemeinschaft über­strapaziert. Man müsste also berücksichtigen, wie lange jemand eingezahlt hat, wie viel er eingezahlt hat, und davon die Bezugsdauer abhängig machen.

Damit würde man eben den Vorschlag des Rechnungshofes umsetzen und ein ge­meinsames System der sozialen Absicherung schaffen. Ich bringe daher folgenden An­trag ein:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Mag. Gerald Loacker, Kolleginnen und Kollegen betreffend „ein Sys­tem sozialer Sicherung“

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, sowie die Bundesministerin für Arbeit, Familie und Ju­gend, wird aufgefordert, dem Nationalrat schnellstmöglich eine Regierungsvorlage zu­zuleiten, die ein einziges System der sozialen Absicherung schafft. Dafür sollen, den Empfehlungen des Rechnungshof folgend, nicht unterbrochene Bezugsdauer von Ar­beitslosengeld und darauffolgender Notstandshilfe zeitlich limitiert und damit die Not­standshilfe langfristig von der Sozialhilfe abgegrenzt werden.“

*****

Danke schön. (Beifall bei den NEOS.)

19.39

Der Antrag hat folgenden Gesamtwortlaut:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Mag. Gerald Loacker, Kolleginnen und Kollegen

betreffend ein System sozialer Sicherung

eingebracht im Zuge der Debatte in der 10. Sitzung des Nationalrats über den Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales über den Antrag 173/A(E) der Abgeordneten Herbert Kickl, Kolleginnen und Kollegen betreffend Ausführungsgesetze zum Sozialhil­fe-Grundsatzgesetz und Adaptierung des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes (29 d.B.) — TOP 6

Von einem österreichweit einheitlichen System der Sozialhilfe kann nach wie vor keine Rede sein, selbst wenn sich die alte FPÖ-ÖVP-Regierung dafür gerühmt hat, zum ers­ten Mal ein Grundgesetz in diesem Bereich geschaffen zu haben. Eine Reform der Ar­beitslosenversicherungsleistungen (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe) wurde ebenso wenig angegangen. Auch unter der aktuellen schwarz-grünen Bundesregierung ist eine solche nicht absehbar und im Regierungsprogramm 2020-24 nicht vorgesehen. Eine echte, nachhaltige Reform des österreichischen Systems der sozialen Sicherung macht aber nur Sinn, wenn die Wechselwirkungen zwischen Sozialhilfe und Leistungen der Arbeitslosenversicherung genauer betrachtet und in einem Schritt reformiert werden.

Denn die Ausgestaltung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung ist eine zentrale Frage, wenn es darum geht, Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, einer­seits entsprechend sozial abzusichern, andererseits diese Personen auch wieder rasch in Beschäftigung zu bringen und die Dauer der Arbeitslosigkeit kurz zu halten. Dazu wurden von wirtschaftswissenschaftlicher Seite unterschiedliche Einflussfaktoren be­leuchtet und Lösungsvorschläge für etwaige Problemstellungen erarbeitet. Im Bereich der passiven Leistungen der Arbeitslosenversicherung ergeben sich aufgrund dieser mikroökonomischen Überlegungen umfangreiche Vorschläge zu einer optimalen Aus­gestaltung dieser, insbesondere in Bezug auf die zeitliche Ausgestaltung von Ersatz­raten, Dauer und Verpflichtungen für den Erhalt der Versicherungsleistung selbst.

Wesentliche wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse - insbesondere aus einer euro­päischen Perspektive - ergeben sich aus Entwicklungen und umgesetzten Politiken in den 1990er-Jahren. Die Studien dazu sind relativ deutlich: "What we have learned the most about is unemployment insurance. The evidence is that limiting of benefits, as well as making them more contingent on job search and job acceptance, leads to more active search, a lower reservation wage, and lower duration of unemployment" (Blan­chard (2006)). Vor diesem Hintergrund muss auch die österreichische passive Arbeits­marktpolitik diskutiert werden.

Ziel sollte es sein, Menschen Werkzeuge in die Hand zu geben, um ein möglichst ei­genverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Das bedeutet, dass die Zeiten von Arbeitslosigkeit möglichst kurz sein sollten, um die negativen sozialen Fol­gen, aber auch die negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmarktchancen der Betroffe­nen zu reduzieren. Gerade im Hinblick auf die Dauer der Leistungen der Arbeitslo­senversicherung ergibt sich für Österreich ein interessantes Bild: Ein internationaler Vergleich zeigt, dass die österreichische Ausgestaltung von Geldleistungen aus der Ar­beitslosenversicherung nicht den internationalen Standards und vor allem nicht öko­nomisch sinnvollen Konzepten entspricht. International anerkannte Standards setzen mit einer langsamen Variation bzw. Reduktion der Nettoersatzrate Arbeitsanreize und erhöhen diese Anreize im Zeitverlauf. In Österreich geschieht das nicht. So verändert sich die Nettoersatzrate im zeitlichen Verlauf nicht. Ein derartiges System gibt es, mit Ausnahme von Österreich und Belgien, in keinem anderen EU-Mitgliedsstaat.

Die "herausragende" Position Österreichs ergibt sich aus der Ausgestaltung der Not­standshilfe - die Versicherungsleistung im Falle einer längeren Arbeitslosigkeit, die zeit­lich unbegrenzt bezogen werden kann. Im Jahresdurchschnitt 2018 bezogen 274.361 Per­sonen Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe. Dabei gab es mehr Bezieher_innen von Notstandshilfe als Arbeitslosengeldbezieher_innen, wie die folgende Tabelle zeigt (Quelle: Statistik Austria):

 

Anzahl 2017

durch­schnitt­licher Tagessatz in €2017

durch­schnittlich pro Monat 2017

Anzahl 2018

durch­schnittli­cher Tagsatz 2018

durch­schnitt­lichpro Monat 2018

Arbeitslosen­geldbezie­her_innen

138.015

31,68

963,6

130.759

32,13

977,29

Notstands­hilfebezie­her_innen

157.483

25,07

762,55

143.602

25,99

790,53

Die Ausgestaltung der Notstandshilfe bzw. generell der passiven Leistungen der Ar­beitslosenversicherung beeinflusst die Dauer von Arbeitslosigkeitsphasen maßgeblich. Diese evidente Tatsache wurde in der österreichischen Diskussion lange Zeit völlig au­ßer Acht gelassen. Abgesehen von der wirtschaftswissenschaftlich fragwürdigen Aus­gestaltung fehlt auch eine Berücksichtigung von Interessen der Versichertengemein­schaft.

Das Versicherungsprinzip wird überspannt, wenn die Arbeitslosenversicherung Leis­tungen der Notstandshilfe zeitlich unbegrenzt ausbezahlt. Das überfordert die Solida­rität der Versichertengemeinschaft, denn das Arbeitslosengeld und die ihr folgende Notstandshilfe stellen eine Geldleistung zur Kompensation des vorübergehenden Ein­kommensentfalls aufgrund eines Jobverlustes dar. Logisch folgt daraus eine Koppe­lung der Bezugsdauer an die Zeit, in der tatsächlich Beiträge in die Arbeitslosenversi­cherung bezahlt wurden, um so jenen, die mehr Beiträge bezahlt haben, auch längere Leistung zukommen zu lassen. Außerdem braucht es eine Überführung von Notstands­hilfebezieher_innen in die Sozialhilfe nach einem länger andauernden Bezug.

Von einer solchen hat sowohl die bestehende Bundesregierung als auch die Vorgän­gerregierung unter Schwarz-Blau Abstand genommen. Sie wäre aber eine notwendige Voraussetzung für ein funktionierendes System der Sozialhilfe, das es Menschen er­möglicht, so selbstbestimmt und eigenständig wie möglich zu leben.

Insbesondere eine Harmonisierung bzw. Zusammenführung der Notstandshilfe und Mindestsicherung/Sozialhilfe wird auch vom Rechnungshof (Reihe Bund 2014/9) als notwendig erachtet:

„Der RH verkannte nicht die systembedingt unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzun­gen und Ziele und die sich daraus ergebenden Leistungsunterschiede der Mindestsi­cherung und der Notstandshilfe. Dessen ungeachtet hielt er es für zweckmäßig, insbe­sondere im Falle längerer Bezugszeiträume eine Harmonisierung beider Systeme zu erwägen. Der RH empfahl daher auf eine Harmonisierung bzw. Überführung in ein ein­ziges Versorgungssystem für jene Fälle, in denen längere Notstandshilfe- bzw. Min­destsicherungsbezugsdauern vorlagen, hinzuwirken.“

Gerade im Hinblick auf Diskussionen über Reformen bzw. Weiterentwicklung im Be­reich der Sozialhilfe muss auch die Wechselbeziehung von Sozialhilfe und Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung, insbesondere die Notstandshilfe, genauer betrachtet werden. Die Zahlen belegen eindrücklich, dass die Höhe der Notstandshilfe teils deut­lich unter den Richtsätzen der Sozialhilfe von 917,35 Euro für alleinstehende Personen (Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatz 2020) liegt. Für entsprechend viele Notstandshilfe­bezieher_innen ergibt sich dadurch auch ein Anspruch auf Sozialhilfe als sogenannte „Aufstocker“.

Die Umsetzung dieser Forderung würde auch zu einem Abbau einer wesentlichen Doppelstruktur führen. Denn wie der Bericht des Rechnungshofes verdeutlicht, erhält ein großer Teil der Sozialhilfebezieher_innen diese als eine Teilleistung und nicht als Vollleistung, d.h. die Sozialhilfe wird nur teilweise ausbezahlt, wenn ein anderer Sozial­transfer (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe) unter dem Niveau der Sozialhilfe liegt.

Eine vom Rechnungshof geforderte Zusammenführung der Notstandshilfe mit der So­zialhilfe bei langer Bezugsdauer würde diese Problematik aufheben. Gerade der Über­gang von Notstandshilfebezug in den Bezug der Sozialhilfe könnte einen zusätzlichen Anreiz darstellen, aufgrund eines weiter sinkenden Reservationslohnes eher eine Be­schäftigung anzunehmen und damit die Dauer der Arbeitslosigkeit zu verringern, lang­fristige Folgen zu verhindern und eine stabile Arbeitsmarktintegration zu ermöglichen.

Nur so ist es möglich ein möglichst chancenorientiertes, treffsicheres und effizienten System der Sozialen Sicherung in Österreich zu schaffen.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgenden

Entschließungsantrag

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, sowie die Bundesministerin für Arbeit, Familie und Ju­gend, wird aufgefordert, dem Nationalrat schnellstmöglich eine Regierungsvorlage zu­zuleiten, die ein einziges System der sozialen Absicherung schafft. Dafür sollen, den Empfehlungen des Rechnungshof folgend, nicht unterbrochene Bezugsdauer von Ar­beitslosengeld und darauffolgender Notstandshilfe zeitlich limitiert und damit die Not­standshilfe langfristig von der Sozialhilfe abgegrenzt werden.“

*****

Präsidentin Doris Bures: Der Entschließungsantrag ist ordnungsgemäß eingebracht und steht mit in Verhandlung.

Herr Abgeordneter Friedrich Ofenauer, Sie gelangen als Nächster zu Wort. – Bitte.