Dringlicher Antrag

der Abgeordneten Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc, Kolleginnen und Kollegen be­treffend „Rund 1 Million Menschen sind arbeitslos oder in Kurzarbeit. Österreich braucht jetzt Schutz vor der 2. Kündigungswelle. Lassen Sie die Menschen nicht im Stich, Herr Bundeskanzler!“ (809/A)(E)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Wir gelangen zur dringlichen Behandlung des Selbständigen Antrages 809/A(E).

Da dieser inzwischen allen Abgeordneten zugegangen ist, erübrigt sich eine Verlesung durch die Schriftführerin.

Der Dringliche Antrag hat folgenden Wortlaut:

Fast 1 Million Menschen sind derzeit ohne Job oder in Kurzarbeit. Über ein Drittel mehr Menschen sind heute in Österreich auf Jobsuche als vor einem Jahr. Mehr als 420.000 Jobsuchenden stehen nur 60.000 freie Stellen gegenüber. Auslöser für die beispiellose Arbeitsmarktkrise sind die Corona-Pandemie und das Missmanagement der Regierung. Und die Situation wird sich in den nächsten Monaten noch zuspitzen: Der Saisoneffekt verpufft im Winter. Viele Industriebetriebe haben im Herbst ihre letzten Aufträge abge­arbeitet, deutlich weniger neue Aufträge kommen nach. Kündigungen bei Swarovski, ATB, Agrana und anderen Unternehmen sind die Vorboten einer möglichen Pleitewelle, wenn nicht wirksam gegengesteuert wird. Laut ArbeitsmarktexpertInnen droht in Öster­reich ein Negativ-Rekordwinter mit über 500.000 Arbeitslosen.

Der corona-bedingte Lockdown führte Mitte April mit 588.234 Arbeitslosen (inkl. Schu­lungsteilnehmerInnen) bzw. einer Arbeitslosenquote von 13,8 Prozent Ende April zu einem traurigen Höhepunkt in der Zweiten Republik. Ende Mai waren knapp 1,9 Mio. Menschen entweder arbeitslos, in Schulung oder in Kurzarbeit. Die Arbeitslosigkeit geht außerdem nur langsam zurück: Ende August lag die Arbeitslosenquote noch bei 10,1 Prozent. Im August gab es somit immer noch über 92.000 Arbeitslose mehr als ein Jahr zuvor. Und die Langzeitbeschäftigungslosigkeit hat mit 119.000 Menschen ebenfalls einen traurigen Rekord erreicht. Je länger die Arbeitslosigkeit andauert, umso schwerer wird der Weg zurück in den Arbeitsalltag. Diese Betroffenen brauchen zusätzliche Unter­stützung.

Die Situation am Arbeitsmarkt ist für eine Jobsuche derzeit denkbar ungünstig. Einerseits kam es zu einem Rekordanstieg der Arbeitslosen, anderseits zeigt sich ein Rekordrück­gang bei den offenen Stellen. Mehr als 44.000 bzw. 34,3 Prozent weniger als im Vergleich zum Vorjahresquartal. Im Zeitraum von April bis Juni standen im Schnitt einer offenen Stelle mehr als sechs Arbeitslose gegenüber – für die meisten Arbeitslosen ist es somit zurzeit praktisch unmöglich, einen Job zu finden.

Genau in dieser schwierigen Phase am Arbeitsmarkt, wo sich die Arbeitslosigkeit zu verfestigen droht, kommt die Wirtschaftskammer – unter anderem WKÖ-General­sekre­tär und ÖVP-Abgeordneter Karlheinz Kopf – laut Medienberichten vom 10. September, mit Ideen, das Arbeitslosengeld zu kürzen, den ArbeitnehmerInnen zusätzlich zu einem 12-Stunden-Arbeitstag auch noch Wegzeiten von eineinhalb Stunden aufzubrummen und sie sogar umsiedeln zu wollen. Auch die gut funktionierenden überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen werden nicht verschont und abqualifiziert. Alle diese Andro­hungen sind nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern auch sozialpolitisch völlig daneben­gegriffen.

Beschäftigung und Arbeitslosigkeit betreffend, können Realität und Regierungs­propa­ganda kaum weiter auseinanderliegen. Wir erleben in Österreich eine beispiellose Arbeitsmarktkrise hervorgerufen durch das Corona-Missmanagement der Regierung.

Ganz besonders gravierend wirken sich zwei politische Kardinalfehler der Regierung aus:

1. Katastrophale Fehler bei der Wirtschaftshilfe

• Fehlerhafte Wirtschaftshilfen zu Beginn der Krise (zu gering, zu bürokratisch) haben die Arbeitslosigkeit binnen zwei Wochen um 200.000 Personen steigen lassen – davon hat sich der österreichische Arbeitsmarkt bis heute nicht erholt.

• Besonders betroffen sind österreichische KMUs – der Finanzombudsmann der KMUs Zmuegg sieht 100.000 österreichische Klein- und Mittelbetriebe gefährdet. Er spricht von „einem Insolvenztsunami unbekannten Ausmaßes“. Die Hilfen der österreichischen Regierung sind einfach nicht ausreichend oder schlecht gemacht.

• Die Wirtschaftshilfen wurden nicht – wie von der SPÖ gefordert – an den Erhalt von Arbeitsplätzen gekoppelt. Stattdessen wurden trotz Wirtschaftshilfen – wie bei der AUA – teilweise Boni an Manager ausbezahlt.

2. Die Regierung tut zu wenig um Betriebe zu retten und die Konjunktur zu stabilisieren.

• Ambitioniertes Konjunkturpaket und Kaufkraftstabilisierung fehlt - Einmalmaßnahmen, wie die befristete Senkung der Umsatzsteuer, helfen kurzfristig, stabilisieren die Wirt­schaft aber nicht langfristig. Eine stärkere sofortige Senkung der Einkommenssteuer um 5 Milliarden Euro und eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes von 55 Prozent auf 70 Prozent würden helfen.

• Es gibt kein umfassendes Qualifizierungsangebot für Arbeitslose – man bräuchte eine „Aktion 20.000-Neu“ in Form einer Beschäftigungsgarantie für Langzeitarbeitslose (sie sind aufgrund der derzeitigen Situation am Arbeitsmarkt de facto chancenlos einen Job zu finden).

• Firmen kündigen ArbeitnehmerInnen im großen Stil – die Reaktion der Bundes­re­gierung darauf fehlt. Beispiele: Swarovski kündigt 1.000 MitarbeiterInnen, bei ATB in Spielberg werden 300 ArbeitnehmerInnen gekündigt… Reaktion? Fehlanzeige! Die Bun­desregierung sieht tatenlos zu. Die betroffenen Menschen werden im Stich gelassen. Während der größten Finanzkrise 2008/2009 wurden die Banken gerettet – koste es was es wolle! – Heute in der größten Krise der Realwirtschaft nimmt man Arbeitslosigkeit in großem Stile hin. „Augen zu und durch“ ist fahrlässig und verantwortungslos.

Die Folge: Die Katastrophe am österreichischen Arbeitsmarkt ist schon da und droht sich weiter zu verschärfen, wenn nichts getan wird.

Ein weiteres Desaster mit enormen Langzeitfolgen droht auf dem Lehrstellenmarkt.

Wenn wir bedenken, dass tausende Unternehmen noch Anfang 2020 das Fehlen von Fachkräften bemängelt haben, und vor einer Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit gewarnt haben, können wir bestenfalls erahnen, welcher Megaherausforderung wir durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie 2020-2021 gegenüberstehen.

Es geht um dringend erforderliche, sofort verfügbare Ausbildungsplätze, um unseren Ju­gendlichen Lebensperspektiven geben zu können und auch darum, jene Anzahl von aus­reichend qualifizierten Fachkräften auszubilden, die unsere Unternehmen zur Be­wälti­gung der Zukunft dringend benötigen. Ausgelernte Fachspezialisten stehen uns in vier Jahren nicht zur Verfügung, wenn wir sie nicht in diesem Jahr als Lehrlinge ein­stellen.

Die Zahl der Ausbildungsbetriebe ist bereits in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Die Zahl der betrieblichen Lehrlinge ist ebenfalls geschrumpft. Die Zahl der über­be­trieblichen Ausbildungseinrichtungen (ÜBA) musste infolge des Rückganges von Aus­bildungsbetrieben wesentlich aufgestockt werden.

Laut Umfragen in Österreich und auch in Deutschland warnt jedes dritte Unternehmen, dass es wegen der Auswirkungen von „Corona“ in diesem Jahr gegenüber den Vorjahren keine, oder nur eine weit geringere Zahl an Lehrplätzen, anbieten kann.

Wenn diese prekäre Situation nicht entsprechend ernst genommen wird und unver­züglich stark wirksame Maßnahmen eingeleitet werden, sind es laut einer Unterneh­mensbefragung ca. 10.000 betriebliche Lehrstellen, die in diesem Jahr fehlen werden.

Es besteht auch die große Gefahr, dass Unternehmen, die sich in diesem Jahr aus der Lehrlingsausbildung zurückziehen, in den kommenden Jahren nicht mehr als Aus­bildungsbetriebe zur Verfügung stehen werden. Dabei handelt es sich vorwiegend um KMU´s, die es sich wegen „Corona“ ohne starke Unterstützung nicht mehr leisten kön­nen, in diesem Jahr Lehrplätze anzubieten. Und, dass die meisten Unternehmen, die sich in diesem Jahr aus der Lehrlingsausbildung zurückziehen, auch nicht für die Auf­nahme von Lehrlingen, die in überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen in Ausbildung sind, zur Verfügung stehen.

Und die dritte große Krise, die diese Regierung zu verantworten hat, betrifft die soziale Situation.

Nachdem die Zahl der Arbeitslosen zwischenzeitlich auf den höchsten Wert seit der Großen Depression Anfang der 1930er Jahre gestiegen war, erleiden zurzeit immer noch knapp 423.000 Arbeitslose und SchulungsteilnehmerInnen Einkommensverluste von bis zu 45 Prozent ihres Nettoeinkommens. Damit verbunden sind oftmals Existenzängste und schwierige Familiensituationen. Geld fehlt, um die notwendigsten Dinge des Lebens zu beschaffen und damit fehlt es aber auch, um den Konsum anzukurbeln und die Kon­junktur zu beleben. Entgegen den Androhungen der Wirtschaftskammer, das Arbeits­losengeld alle drei Monate sogar noch zu kürzen, ist eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes dringender denn je.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher nachstehenden

Entschließungsantrag

„Die Bundesregierung wird aufgefordert, sofort Maßnahmenpakete zur Verhinderung der drohenden Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und sozialen Krise mit folgenden Inhalten um­zusetzen:

Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung:

• Arbeitszeitverkürzung durch Einführung einer freiwilligen 4-Tage-Arbeitswoche, die finanziell vom Staat gefördert wird und bei Teilnahme von 1 Mio. Beschäftigten an einem solchen Fördermodell, zu 100.000 zusätzlichen Beschäftigten führt

• ein Beschäftigungsförderungsprogramm – eine Jobgarantie, ähnlich der „Aktion 20.000“, für alle Langzeitarbeitslosen

• ein Qualifizierungsgeld für 30.000 Beschäftigte und ArbeitnehmerInnen für entsprechende Maßnahmen einer beruflichen Weiter- oder Umqualifizierung

• das Fachkräftestipendium dauerhaft ausreichend finanziell absichern und ent­sprechend bewerben, sowie tertiäre Ausbildungen im Gesundheits- und Pflegebereich ermöglichen

• Koppelung von Wirtschaftshilfen an den Erhalt von Arbeitsplätzen

• Verhinderung von Missbrauch des Insolvenzrechts (wie im Fall der Vorgangsweise des ATB Motorenwerks in Spielberg)

Umfassendes Ausbildungspaket:

• Einrichtung eines „Corona-Not-Ausbildungsfonds“: Dieser soll Betriebe, die trotz durch die Corona-Krise verursachten wirtschaftlichen Schwierigkeiten Lehrlinge ausbilden, unterstützen durch z.B. Übernahme der Lehrlingsentschädigung im 1. Lehrjahr

• Ausreichende Aufstockung der überbetrieblichen Ausbildungsstellen um die öffentliche Verantwortung im Rahmen der Ausbildungsgarantie wahrzunehmen

• Lehrstellengarantie der öffentlichen Hand: Aufstockung der Lehrstellen bei Dienst­stellen der öffentlichen Hand und staatsnahen Betrieben – in Kooperation mit den Län­dern, Städten und Gemeinden – im erforderlichen Ausmaß

• Wiedereinführung der Ausbildungsgarantie bis 25

• Volle Ausbildungsbeihilfe für alle Lehrlinge in der überbetrieblichen Ausbildung (Rücknahme der Halbierung für ältere Lehrlinge)

Unterstützungsmaßnahmen für Arbeitslose:

• Unbefristeter 30-prozentiger Zuschlag zum Arbeitslosengeld bzw. zur Notstandshilfe rückwirkend mit 15. März 2020

• Dauerhafte Anhebung der Familienzuschläge im ALVG rückwirkend ab 15. März 2020 von derzeit 29,10 Euro monatlich auf 100 Euro monatlich.“

Die unterfertigten Abgeordneten verlangen unter einem die dringliche Behandlung gem. § 74a Abs 1 iVm § 93 Abs 2 des gegenständlichen Antrages.

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Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich darf die Damen und den Herrn auf der Regie­rungsbank – den Herrn Bundeskanzler, die Ministerinnen – herzlich begrüßen.

Ich darf Frau Abgeordneter Klubobfrau Dr. Rendi-Wagner als Antragstellerin zur Begrün­dung des Dringlichen Antrages das Wort erteilen. Gemäß § 74a Abs. 5 der Geschäfts­ordnung darf die Redezeit 20 Minuten nicht überschreiten. – Bitte.