15.01

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Herr Präsident! Herr Bundes­kanzler! Sehr geehrte Ministerinnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Grund für die heutige Sondersitzung ist mit wenigen Worten sehr klar und deutlich erklärt: Die Lage am Arbeitsmarkt in Österreich spitzt sich immer mehr zu, und die Bundesregierung schaut mehr oder weniger zu, manchmal auch weg, so ist der Eindruck.

Sie schaut zu, wie immer mehr Menschen gekündigt werden, und die Liste der allein in den letzten Wochen und Tagen gekündigten Menschen ist schon jetzt eine sehr lange: Es sind 60 bei BWT, 100 bei Magna Powertrain, 180 bei Andritz, 1 600 bei Swarovski in Tirol, 70 bei Huber, 360 bei ATB in der Steiermark, 550 bei der Voestalpine, 150 bei Agrana in Niederösterreich – und ich könnte diese Liste noch fortsetzen. Es ist traurig, dass diese Liste bereits jetzt so lang ist, sehr geehrte Damen und Herren! Das sind die täglichen Ankündigungen von Entlassungen, die uns alle über die Medien in den letzten Wochen erreicht haben. Erst vor wenigen Tagen, vor dem Wochenende, am Freitag, ist eine weitere Meldung gekommen, nämlich von der Firma MAN in Steyr in Ober­österreich. Dort wackeln bis zu 2 500 Jobs; 2 500 Menschen, sehr geehrte Damen und Herren, die dort von Kündigung bedroht sind!

Diese Liste, all diese Fälle – ATB, Agrana, Voestalpine – zeigen eines: Es sind keine Einzelfälle mehr. Nein, es ist vielmehr so, dass ganze Unternehmen in den letzten Wochen und Monaten in Schieflage geraten sind, dass Flaggschiffe der österreichischen Industrie drohen wegzubrechen. Damit drohen auch ganze Regionen zu verarmen, und auch das muss miteinbezogen werden, wenn man diese Zahlen hört.

Wenn man diese Liste sieht, die jeden Tag länger wird, dann erkennt man eines: Das sind Vorboten, sehr geehrte Damen und Herren, Vorboten einer Pleitewelle, die in den nächsten Wochen auf Österreich zurollt.

Es sind nicht wir, die das behaupten, das sind Arbeitsmarktexperten und -expertinnen in Österreich, die allein für den kommenden Winter auf eine Rekordarbeitslosigkeit von 500 000 Arbeitslosen hinweisen, auf eine halbe Million Menschen ohne Job. Das sind sehr dramatische Zahlen, denn hinter all diesen Zahlen, Herr Bundeskanzler, stehen Menschen. Es stehen Familien mit Kindern, sehr viele Jugendliche, sehr, sehr viele Frauen, viele AlleinerzieherInnen dahinter. Es stehen auch ältere Menschen dahinter, die kurz vor ihrer Pensionierung stehen. Und ich sage Ihnen: Arbeitslos zu werden macht mit den Betroffenen etwas: Es verändert ihr Leben, es verändert ihre Zukunft, es ver­ändert ihre Chancen.

Ja, all die Betroffenen haben Sorgen, haben Ängste. Sie haben Angst vor ihrer Zukunft, sie haben Angst, ausgegrenzt zu werden, sie haben Angst, abgehängt zu werden, sie haben Angst, im Stich gelassen zu werden.

Vor 2 Stunden gab es draußen vor dem Parlament eine Kundgebung von von ATB ge­kündigten Steirerinnen und Steirern, und einige von ihnen haben mir erzählt, dass derzeit vier Generationen einer Familie in diesem Betrieb arbeiten und alle auf einen Schlag, von einem Tag zum anderen, ihre Jobs verloren haben, ganze Generationen von Fami­lien. Und Frauen haben mir erzählt – es waren sehr viele Frauen dabei –, dass sie kurz vor ihrer Pensionierung stehen und von einem Tag zum anderen gekündigt worden sind.

All diese Menschen fragen sich: Wie geht es jetzt weiter? Wie geht es mit der Zahlung meiner Miete weiter? Kann ich für meine Kinder noch so sorgen, wie ich das immer als meine Verantwortung als Mutter und Vater gesehen habe? Kann ich im nächsten Monat die Stromrechnung noch bezahlen? – Das sind Fragen, die sich diese Menschen stellen. Wären Sie dort gewesen, Herr Bundeskanzler, hätten Sie mit diesen Menschen per­sönlich reden können; aber leider waren Sie das nicht.

Wir hier im Parlament, sehr geehrte Damen und Herren, müssen uns die Frage stellen, wie wir diese Menschen unterstützen, wie wir alles daran setzen, um sie nicht abzu­hängen, nicht im Stich zu lassen, nicht in einer Perspektivenlosigkeit zurückzulassen. (Anhaltender Beifall bei der SPÖ.)

Wir müssen uns um die jungen Menschen kümmern, die jetzt keinen Job finden, die auch im Herbst wahrscheinlich keinen Lehrplatz für ihren Berufseinstieg finden; das ist eine Lücke ganz am Anfang ihrer Karriere, die diese Menschen, wenn wir nichts dagegen tun, ihr Leben lang wie einen Rucksack mitschleppen müssen. Es sind aber auch ältere Menschen, ältere Menschen, die es schon seit Monaten und vielleicht schon seit Jahren schwer haben, einen Arbeitsplatz zu finden und die jetzt noch weniger Chancen haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Es sind Tausende Frauen, sehr geehrte Damen und Herren, die zu den großen VerliererInnen der Coronakrise zählen und die wir unter­stützen müssen. (Beifall bei der SPÖ sowie der Abg. Maurer.)

Es sind auch gut ausgebildete Männer und Frauen dabei, die noch nie in solch einer Lage waren, die sich das nicht einmal in ihren Albträumen hätten träumen lassen, die von dieser Nachricht wie von einem Blitz getroffen wurden. – All das sind Menschen, Herr Bundeskanzler, Menschen, die uns etwas bedeuten müssen, die uns etwas ange­hen, Menschen, für die wir uns einsetzen müssen, Menschen, vor denen wir Respekt haben müssen!

Herr Bundeskanzler, ich habe heute vom Betriebsrat von ATB gehört – das hat er mir gesagt –, dass er seit sechs Wochen versucht, einen Gesprächstermin bei Ihnen zu bekommen, dreimal nachgefragt hat und nur negative Antworten darauf bekommen hat – und das empfinde ich als respektlos. (Zwischenrufe bei der SPÖ.) Das zeugt für mich nicht von Respekt, so mit diesen betroffenen Menschen umzugehen. (Beifall bei der SPÖ und bei Abgeordneten der FPÖ.)

Diese Menschen dürfen uns nicht egal sein. Sie dürfen uns nicht egal sein, weil es menschlich ein Gebot der Stunde ist, aber wissen Sie, warum sie uns noch nicht egal sein dürfen? – Weil wir als Gesellschaft, als Land all diese Menschen brauchen. Sie sind Teil der Zukunft unseres Landes und deswegen sollten wir uns auch für sie einsetzen. Wir dürfen es uns nicht leisten, diese Menschen im Stich zu lassen und fallen zu lassen, sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregierung! (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Jakob Schwarz.)

Wir sprechen hier nicht von nur anonymen Zahlen, Diagrammen, Kurven oder Sta­tistiken. Nein, wenn wir die aktuelle Statistik der Arbeitslosigkeit anschauen, Frau Minis­terin, dann sehen wir, es sind derzeit knapp 40 000 junge Menschen ohne Arbeit, und ich bin sicher, Sie kennen diese Zahl.

In einem Bild – gemalt oder zusammengefasst – heißt das: 1 300 Autobusse voll mit Jugendlichen, österreichischen Jugendlichen! 1 300 Autobusse, und die tragen dick und hell eine Aufschrift, die heißt: Lost Generation – verlorene Generation! Das ist eine verlorene Generation, weil die Jugendlichen selbst eine Perspektive verlieren, wenn wir sie nicht unterstützen – aber ich sage: Die größeren Verlierer sind wir alle als Gesell­schaft, wenn wir es zulassen, dass diese Jugendlichen keinen ordentlichen Berufs­einstieg haben. Das ist verantwortungslos! (Beifall bei der SPÖ.)

Wenn man diese Zahlen und diese Entwicklung der zunehmenden Kündigungen und der noch anstehenden Pleiten und Kündigungen hört, dann würde man davon ausgehen, dass Sie in der Bundesregierung Tag und Nacht daran arbeiten – ich hoffe, Sie tun das oder zumindest künftig –, Tag und Nacht nichts anderes machen, als sich damit zu be­schäftigen, wie Sie die Arbeitslosigkeit in Österreich bekämpfen, wie Sie Beschäftigung und Arbeitsplätze schaffen – für Junge, Alte, für Frauen und Familien! Die Frage ist aber: Tun Sie das auch?

Im Juni, vor fast vier Monaten, haben Sie, Herr Bundeskanzler, eine sogenannte Arbeits­marktstiftung angekündigt. Ich kann mich nicht erinnern, dass außer einer Überschrift bisher viel mehr dazu bekannt ist. Es sind Pressekonferenzen, es sind gute Überschrif­ten, Verpackungen und viele leere Versprechungen bisher, aber all das bringt keinem einzigen Arbeitslosen einen Arbeitsplatz. All diese PKs schaffen keine einzige zusätz­liche Arbeitsstelle, schützen nicht vor Kündigung – ja, aber bisher haben wir nicht mehr gehört.

Bisher haben wir auch nichts über zusätzliche Maßnahmen gehört, die Arbeitsuchende bei Umschulung und Weiterqualifizierung stärker als bisher fördern sollten. Dabei liegt alles auf der Hand: Wir haben einen Pflegenotstand, der auf uns zukommt; über 70 000 Pflegende werden uns in den nächsten Jahren fehlen. Es wäre ja nur recht und gut, jetzt den Menschen, die arbeitslos sind, anzubieten, dass man sie umschult, umqualifiziert – ja, da braucht es aber Unterstützung, auch finanzielle Unterstützung in Form eines Ausbildungsbonus, von dem man leben kann, zusätzlich zum Arbeits­losen­geld. Es sind mindestens 500 Euro, sehr geehrte Frau Ministerin, die diese Menschen zusätzlich zur Arbeitslosenunterstützung benötigen würden, um auch finanziell mit ihren Familien überleben zu können. Wir müssen diesen Menschen den roten Teppich aus­rollen.

Ja, bis heute gibt es auch keinen Plan, wie die riesige Lehrstellenlücke, die im Herbst droht auf Österreich zuzukommen, endlich geschlossen werden soll. Laut Experten drohen bis zu 10 000 Lehrstellen zu fehlen (Zwischenruf des Abg. Brandweiner), 10 000 Lehrstellen, 10 000 Jugendliche, die keine Ausbildung beginnen können. Und wenn Sie ein bisschen weiterdenken, heißt das: 10 000 Facharbeiter, die in einigen Jahren den Unternehmen und der Wirtschaft fehlen werden – bei einem jetzt schon bestehenden Facharbeitermangel. Schon allein deswegen sollten Sie endlich aktiv werden, sehr geehrte Bundesministerin! (Beifall bei der SPÖ.)

Bis heute gibt es von Ihnen auch keinen Plan, was nach der Kurzarbeit kommen soll, die ja in einigen Monaten endet, was danach kommen soll, um die Jobs dann weiterhin zu sichern, um auch prospektiv neue Jobs zu schaffen. Ja, ich sehe hier keinen Plan und ich sehe auch keinen Mut, keinen Mut, über neue, moderne Ideen wie zum Beispiel eine freiwillige, geförderte Viertagewoche zu diskutieren, Vorschläge aufzugreifen, die über den Tellerrand hinausreichen. Diesen Mut, diese Weitsicht sehe ich bis heute bei Ihnen nicht.

Bis heute gibt es auch kein großes, wirksames Konjunktur- und Wirtschaftspaket, das die Wirtschaft nachhaltig stärkt und Arbeitsplätze schafft. Bis heute gibt es keine große, wirksame Steuersenkung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um den Konsum nachhaltig und wirklich wirksam anzukurbeln.

Es stellt sich schön langsam die Frage, nicht nur bei uns, ob die Bundesregierung den Ernst der Lage wirklich erkannt hat: sechs Monate kein Plan, sechs Monate keine wirksamen Maßnahmen – nur ein Problem: Arbeitslosigkeit kann man nicht verwalten. Arbeitslosigkeit muss man aktiv bekämpfen, sehr geehrte Bundesregierung! (Beifall bei der SPÖ sowie der Abg. Strache.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Politik heißt eines: Es heißt handeln, machen, tun. Es heißt nicht nur: reden. Es heißt handeln, machen, tun. Politik ist Verantwortung, und Verantwortung nicht für sich selbst, Herr Bundeskanzler, sondern für die Zukunft unseres Landes und für die Menschen in Österreich.

Herr Bundeskanzler, wenn Ihnen schon die Menschen, die arbeitslos sind oder vielleicht arbeitslos werden könnten, nicht so wichtig sind, dann handeln Sie doch aus eigenem Interesse, denn für ein Land und eine Regierung gibt es nichts Schlimmeres als stei­gende Arbeitslosigkeit. Einer Sache können Sie sich sicher sein: dass die Sozialde­mokratie hier nicht einfach zusehen wird, so wie wir es heute auch nicht tun, wie die Wirtschaft, wie die Menschen, die Beschäftigten am Abgrund stehen, nicht zusehen wird, wie die Armut in Folge in Österreich größer wird und zu steigen droht. Da werden wir nicht zuschauen, sehr geehrte Bundesregierung! (Beifall bei der SPÖ.)

Deswegen möchte ich Sie ganz konkret fragen, und ich hoffe, Sie werden auch konkret auf meine Fragen antworten. Ich frage Sie: Herr Bundeskanzler, was machen Sie konkret, um den Negativrekordwinter mit 500 000 Arbeitslosen in Österreich zu verhin­dern? Wie stellen Sie sicher, dass jeder Jugendliche auch eine Lehrstelle findet, wenn er eine Lehrstelle sucht? Wieso blockieren Sie eine dauerhafte Erhöhung des Arbeits­losengeldes? Warum verweigern Sie die Weiterentwicklung der Kurzarbeit in Form einer geförderten, freiwilligen Viertagewoche, durch die Hunderttausende Jobs gesichert werden könnten? (Zwischenruf der Abg. Kirchbaumer.) Warum verweigern Sie den Hel­dinnen und Helden des Alltags, darunter sehr, sehr vielen Frauen, die in der Coronakrise Beachtliches geleistet haben, als finanzielle Anerkennung den Coronatausender, sehr geehrter Herr Bundeskanzler?

Ich hoffe, Sie werden konkret auf diese Fragen antworten, und ich bin gespannt, ob und wie Sie auf diese Fragen antworten werden. Ich bin mir auch sicher, dass 422 000 Ar­beitslose sehr gerne genau wissen wollen, warum das Arbeitslosengeld nicht dauerhaft und nur einmalig erhöht wurde, warum Sie sie stattdessen zu Almosenempfängern ge­macht haben.

Ja, eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes um rund 300 Euro im Monat für alle Be­troffenen wäre ein richtiger und wichtiger Schritt gewesen. Warum? – Weil sich aufgrund Ihrer Tatenlosigkeit Arbeitslosigkeit gerade verfestigt, das heißt, die Dauer der Arbeits­losigkeit wird immer länger, es wird immer schwieriger, einen Arbeitsplatz zu finden. Daher wäre es ein wichtiger Schritt, diese wichtige Erhöhung des Arbeitslosengeldes wirklich umzusetzen.

Die wirkliche Chuzpe dabei ist aber, dass die Hälfte der Arbeitslosen nicht einmal ihre Almoseneinmalzahlung erhalten, keinen Cent davon sehen – die Hälfte der derzeitigen Arbeitslosen! Es ist völlig unverständlich und ungerecht, warum das so ist, denn selbst jene Menschen, die in dieser Zeit 60 Tage arbeitslos waren, gehen leer aus – wissen Sie, wann? –, wenn sie in dieser Zeit krank waren. Wenn sie krank waren, erhalten sie diese versprochene Einmalzahlung nicht. Es scheint, als wären für diese Bundes­regie­rung die arbeitslosen Menschen offenbar Menschen zweiter Klasse.

Ja, sehr geehrte Damen und Herren, Augen zu und durch ist kein Krisenmanagement. In einer Krise braucht es entschlossenes Handeln, ein Handeln für unsere Zukunft, ein Han­deln für alle Menschen in unserem Land, insbesondere auch für jene, die es am schwersten haben, die es schon jetzt am schwersten haben, einen Arbeitsplatz zu finden.

Es war eine namhafte österreichische Journalistin, die gestern in einer Tageszeitung sehr treffend geschrieben hat – ich zitiere –: „Es wird, beschleunigt durch Corona, Dau­erverlierer auf dem Arbeitsmarkt geben, die Zusammenhalt und Rücksicht ver­dienen“ – Zusammenhalt und Rücksicht von uns allen als Gesellschaft. Und ich ergänze das: Die Respekt von uns allen verdienen (Beifall bei der SPÖ), Respekt von uns allen und vollsten Einsatz von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihrem Regierungs­team!

Jede Fraktion in diesem Parlament hat in den letzten Monaten sinnvolle Vorschläge ge­macht. Springen Sie endlich über Ihren Schatten, greifen Sie diese Vorschläge auf und werden Sie aktiv! – Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der SPÖ sowie Beifall der Abg. Strache.)

15.20

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet hat sich der Herr Bundeskanzler. – Bitte.