10.57

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Herr Minister! Sehr geehrtes Hohes Haus und sehr geehrte Damen und Herren! Ja, Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen vor zwei Wochen zugeschaut, zuge­hört, ich habe das Video gesehen, und ich frage mich: Wie überheblich, wie arrogant kann man sein (Beifall bei der SPÖ sowie der Abgeordneten El-Nagashi und Brand­stätter), uns zu belehren, uns Europa zu erklären, uns zu erklären und zu suggerieren, dass Emotionalität das Gegenteil von Sachlichkeit ist? – Ich kann Ihnen eines sagen: Ich bin stolz, Emotionen und Werte zu haben, denn das macht uns zu Menschen, und Menschlichkeit und Humanität sind die Basis unseres europäischen Wertesystems. (Bei­fall bei der SPÖ sowie des Abg. Brandstätter.)

Die Klubobfrau der NEOS hat die Situation auf Moria sehr eindrücklich beschrieben. Zwei Wochen nach dem Brand ist die Situation dort nicht viel besser, noch immer sind die Zustände verheerend: Kinder schlafen, liegen im Dreck. Ja, und das alles spielt sich mitten in unserem Europa, wenige Flugstunden von Wien entfernt, ab. Die Brände von Moria machen eines deutlich – das ist klar –, sie sind dafür ein Vergrößerungsglas: das Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik. Nur – so ehrlich müssen wir sein –: Zu Euro­pa gehört Österreich, und damit ist es auch ein Versagen der österreichischen Bundes­regierung. (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Brandstätter. – Bundeskanzler Kurz: Was sagt Doskozil?)

Denn was konkret, Herr Bundeskanzler, hat die österreichische Bundesregierung unter Ihrer Leitung in den letzten drei Jahren tatsächlich getan, um die Situation zu verbes­sern? Was haben Sie getan, um ein einheitliches, gut funktionierendes europäisches Asylsystem zu entwickeln, Verfahrenszentren an den EU-Außengrenzen mit UNHCR-Standards zu etablieren? Was haben Sie getan, um die Fluchtursachen nachhaltig zu bekämpfen – das wäre ja der Schüssel? – Nichts, sehr geehrte Damen und Herren, nichts! (Abg. Wöginger: Der Doskozil sieht das anders! – Präsidentin Bures übernimmt den Vorsitz.)

Und warum nicht? – Deswegen nicht, weil es manchen europäischen politischen Bewe­gungen wohl den politischen Nährboden entziehen würde, wenn Fluchtursachen be­kämpft werden, wenn das System gut und besser funktionieren würde – denn dann kann man Flüchtlinge nicht mehr in der täglichen politischen Debatte zum Feindbild machen, denn dann kann man aus dem Leid von Kindern kein politisches Kapital mehr schlagen. Ja, und das, sehr geehrte Damen und Herren, passiert gerade, mitten in Österreich! (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Brandstätter. – Abg. Wöginger: Was sagt der Dos­kozil dazu? – Abg. Kickl: Eine sozialistische Weltrevolution hat noch selten was Gutes ausgelöst!)

Man könnte jetzt als österreichische Bundesregierung hergehen und sagen: Ja, wir leis­ten unseren Beitrag zu einem funktionierenden EU-Migrationssystem, ja, jetzt braucht es das, spätestens jetzt, aber gleichzeitig – und das eine schließt das andere nicht aus (Zwischenruf des Abg. Wöginger) – leisten wir unseren Beitrag auf humanitärer Ebene, indem wir eine Notaktion für die Schwächsten der Schwachen unterstützen und gemein­sam mit anderen europäischen Ländern 100, 200, seien es 500 Kinder aus diesem Elend befreien! (Beifall bei der SPÖ.)

Es sind nicht wir alleine, es sind nicht nur die NEOS und die SPÖ, die diese Auffassung vertreten, es sind auch Hunderte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, viele aus der ÖVP (Abg. Wöginger: Was sagt denn der Doskozil dazu? Was sagt denn der Landes­hauptmann im Burgenland?), Herr Wöginger, die Kinder aus Moria aufnehmen würden. (Beifall bei der SPÖ. – Zwischenruf der Abg. Gabriela Schwarz.)

All diese Menschen betreiben keine Symbolpolitik, denn Kinder zu retten ist niemals Symbolpolitik. (Beifall bei der SPÖ.) Es ist vielmehr feige von der Bundesregierung (Abg. Wöginger: Doskozil ist feige?!), sich hinter Floskeln wie Pullfaktoren zu verstecken, Kin­der zu entmenschlichen, das Thema zu entemotionalisieren. (Abg. Wöginger: Im Bur­genland sind die Kinder entmenschlicht!) Das ist beschämend und das ist unwürdig, sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Bundeskanzler, ich kann mich erinnern, Sie haben vor zwei Jahren von einem Be­such in Israel berichtet. Sie haben damals sehr berührende Gespräche mit Überleben­den des Holocaust, Österreicherinnen und Österreichern, heute 90 Jahre alt, geschil­dert. Man kann die Situation in Moria nicht mit dem Holocaust vergleichen (Ruf bei der ÖVP: Das glaube ich auch! – Bundeskanzler Kurz: Das glaube ich auch! – weitere Zwi­schenrufe bei der ÖVP), nichts ist vergleichbar, aber: Wissen Sie, wie alt diese Überle­benden 1939 waren? – Sie waren Kinder und Jugendliche, und damals wie heute gilt: Kinder sind Kinder sind Kinder, Herr Bundeskanzler! (Anhaltender Beifall bei der SPÖ sowie Beifall bei Abgeordneten der NEOS.)

Hätten alle Regierungschefs 1939 so gedacht wie Sie heute, hätten Sie diese Gespräche vor zwei Jahren in Tel Aviv nicht mehr führen können. (Abg. Haubner: Das ist ja ab­surd! – Abg. Martin Graf: ... ja verharmlosend! – Weitere Zwischenrufe bei ÖVP und FPÖ.) Sie haben damals Verantwortung für Gegenwart und Zukunft versprochen. Herr Bundeskanzler, die Gegenwart heißt Moria. (Abg. Wöginger: Erklären Sie das dem Dos­kozil!) Halten Sie Ihre Versprechen! – Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der SPÖ und Beifall bei Abgeordneten der NEOS sowie der Abg. Tomaselli.)

11.02

Präsidentin Doris Bures: Als nächster Redner ist das Mitglied des Europäischen Par­laments Georg Mayer zu Wort gemeldet. – Bitte. (Zwischenruf des Abg. Kickl. Abg. Haubner: Ein Skandal ist das!)