9.22

Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten Mag. Alexander Schallenberg, LL.M.: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Zuerst einmal möchte ich mich für diese Aktuelle Stunde und die Möglichkeit der Aussprache bedanken, weil ich glaube, die Situation ist tatsächlich sehr ernst, sie ist brandgefährlich und unglaublich angespannt. Wie ja schon gesagt wurde, Russland hat über 100 000 Soldaten an der ukrainisch-russischen Grenze zusammen­gezogen, schweres militärisches Gerät dort geballt. Das ist ein Aufmarsch, der keines­wegs in die Kategorie Übung fallen kann. Das ist eine massive Drohkulisse, die hier aufgebaut wird, eine massive Drohkulisse, untermauert mit der Forderung Moskaus nach rechtlich verbindlichen Sicherheitsgarantien der Vereinigten Staaten und der Nato.

Aber ganz offen gesagt: Mit Panzern und Raketen kann man nicht verhandeln, mit, wie Secretary of State Antony Blinken es gesagt hat, der Pistole am Kopf der Ukraine kann man nicht verhandeln. Es kann nur Lösungen im Rahmen des Dialogs geben. Es ist daher richtig und wichtig, und ich begrüße das ausdrücklich, dass in den letzten Tagen die diplomatischen Kanäle auf Hochtouren gelaufen sind, heißgelaufen sind: einerseits zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, zwischen der Nato und Russland und auch im Rahmen – was ich für besonders wichtig halte – der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit hier in Wien. Ich unterstütze diese Gespräche, die ernsthafte Fortsetzung dieser Gespräche.

Ich möchte aber auch dazusagen, weil ich das immer wieder höre: Das Lamentieren, dass die Europäische Union nicht an diesem Tisch sitzt, halte ich für fehlgeleitet. Erstens macht sich damit die Europäische Union kleiner, als sie ist, zweitens gibt es genug Rückkoppelungsmechanismen zwischen den europäischen Partnern und den Vereinig­ten Staaten. Auch die Ukraine, um die es ja letztlich in diesem Zusammenhang geht, sitzt ja nicht am Tisch, sondern wird laufend eingebunden, genauso wie die Euro­päische Union.

Ich halte es im Gegensatz für sehr zielführend und richtig, dass in diesem so ange­spannten Moment vor allem die Vereinigten Staaten als Stimme der freien Welt hier mit den Russen reden. Man stelle sich nur vor, es wäre umgekehrt, wir hätten die Situation, die Amerikaner würden sagen: Die Ukraine ist nicht unser Thema, das ist ein euro­päisches Thema, wir ziehen uns zurück und engagieren uns nicht! – Da würde die Kritik aus dem europäischen Bereich sehr viel stärker ausfallen.

Ich sehe es aber auch so wie Sie, Herr Abgeordneter, dass wir nicht geschichts­verges­sen sein dürfen. Und vergessen wir nicht, Lemberg ist näher zu Wien als Lech am Arlberg! Das, was wir gerade sehen, unterstreicht eigentlich die Bedeutung, die Wichtig­keit auch der europäischen Integration, die Bedeutung und Wichtigkeit all dessen, was wir in den letzten 60 Jahren aufgebaut haben, inklusive der OSZE, inklusive der Schlussakte von Helsinki, aber eben auch die europäische Integration.

Ja, die Ausgangslage, der wir uns gegenübersehen, ist alles andere als einfach. Es ist klar, dass weite Teile der russischen Forderungen einfach inakzeptabel sind, etwa recht­lich verbindliche Garantien, dass die Ukraine nie der Nato beitreten wird. Wir Öster­reicher sind nicht Nato-Mitglied, und ich glaube, das ist auch richtig, wir sind ein neutraler Staat. Aber so, wie wir aus freien Stücken mit dem Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität unsere Neutralität beschlossen haben, so können andere Staaten ihre Sicherheitspolitik bestimmen. Letzten Endes ist es die Allianz selber, die Nato, die darüber zu befinden hat, und nicht ein Drittstaat. Oder etwa die andere Forde­rung Moskaus: rechtlich verbindliche Garantien, dass die Nato ihr Einflussgebiet auf das Ausmaß von 1997 zurückziehen soll.

Es gilt weiterhin der Satz, den Frank-Walter Steinmeier einmal geprägt hat, und ich halte ihn für sehr wichtig: Nachhaltige Sicherheit und Stabilität wird es in Europa nicht gegen Russland, sondern nur mit Russland geben können, aber es müssen sich Moskau und Russland bewusst sein, dass man die Geschichte nicht einfach umschreiben kann, das Rad der Zeit nicht zurückdrehen kann.

Es gibt auch andere Vorschläge, die Moskau auf den Tisch gelegt hat, die ich für sehr sinnvoll erachte und die wir auch im Rahmen der Europäischen Union positiv aufgreifen wollen: etwa Rüstungskontrolle für konventionelle Waffen, die Beschränkung der Statio­nierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen – ich glaube, dass es wesentlich ist, dass wir in diesem Bereich weiterkommen –, größere Transparenz bei Militärmanövern oder mehr vertrauensbildende Maßnahmen wie zum Beispiel Hotlines zwischen den militäri­schen Apparaten auf beiden Seiten.

Das bedarf seriöser Verhandlungen und seriöse Verhandlungen brauchen Zeit. Das ist aber momentan, wie es scheint, die größte Mangelware. Die Zeit scheint uns davonzu­laufen, denn ganz offen gestanden: Russland dreht immer weiter an der Eskalations­spirale, durch gemeinsame Manöver in Belarus, die Androhung der Stationierung von Truppen in Venezuela und Kuba oder Cyberangriffe, die weite Teile der Ukraine in Mitlei­denschaft gezogen haben. Ja, die Cyberangriffe lassen sich nicht eindeutig zuordnen, aber sie sind extrem beunruhigend. Man hat schon fast das Gefühl, dass wir im Vorhof eines Kriegsschauplatzes sind, wenn wir die Situation in der Ukraine momentan be­trachten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Moskau beruft sich in den vergangenen Wochen immer und immer wieder auf die Grundprinzipien der europäischen Sicherheits­ordnung. Und ja, es gibt eine ganz klare Basis für diese europäische Sicherheitsordnung, eine Basis, die Russland mit verhandelt hat, mit akzeptiert hat, die die Vereinigten Staaten und alle europäischen Staaten mittragen, nämlich die Schlussakte von Helsinki von 1975. Sie ist Grundpfeiler der Sicherheitsarchitektur in diesem Land. Gerade ein Land wie Österreich mit seiner historischen Erfahrung weiß zu schätzen, wie wichtig dieser Grundpfeiler ist. Die Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten, der Nichtandrohung von Gewalt, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität, das ist alles in der Schlussakte von Helsinki rechtsverbindlich festgelegt.

Also wenn es darum geht, dass man über europäische Sicherheitsarchitektur spricht und sprechen will, und das ist sicher richtig und zutreffend, dann müssen wir das als Aus­gangsbasis nehmen und Moskau daran erinnern, dass es sich zu diesen Prinzipien international, völkerrechtlich verbindlich verpflichtet hat. Man kann da nicht auf einem Auge blind sein oder Rosinenpickerei machen. Wenn, dann gelten diese Prinzipien auch für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine. Und ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Abgeordneter: Hände weg von der Ukraine! Das ist in Wirklichkeit die Kern­bot­schaft, um die es momentan geht.

Wir haben letzte Woche in Frankreich beim informellen Außenministertreffen der EU-Außenminister eine ganz klare Linie der Europäischen Union festgelegt: Wir treten ein für Dialog, wir treten ein für Verhandlungen, aber sicher nicht, niemals auf Kosten der Sicherheit und der Souveränität und der Unabhängigkeit unserer Partner! (Beifall bei der ÖVP, bei Abgeordneten der Grünen sowie der Abg. Oberrauner.)

Ganz offen gestanden: Das russische Narrativ, dass man sich durch die Ukraine und durch den Westen bedroht fühlt, ist teilweise einfach nicht nachzuvollziehen. Nicht die Ukraine hat Teile Russlands besetzt, nicht die Ukraine rüstet auf und finanziert separa­tistische Bewegungen in Russland. Man hat manchmal das Gefühl, es ist der Brand­stifter, der jetzt erklärt, er hat Angst vor dem Feuer.

Es ist in Wirklichkeit – und das ist das Bittere – ein Ausdruck des Scheiterns; ein Aus­druck des Scheiterns, weil Moskau glaubt, ähnlich wie schon 1956, ähnlich wie schon 1968, nur mit Panzern und Raketen seinen Positionen Gehör verschaffen zu können. Wenn es Russland mit einer europäischen stabilen, nachhaltigen Sicherheitsarchitektur nämlich wirklich ernst wäre, dann gäbe es einen einfachen Weg, das zu zeigen: sich aus Transnistrien zurückzuziehen, sich aus Donbass zurückzuziehen, sich aus der Krim zurückzuziehen, sich aus Ossetien zurückzuziehen, sich aus Abchasien zurück­zuzie­hen. Das wäre der Weg, um zu zeigen: Ja, wir nehmen die Schlussakte von Helsinki ernst, ja, wir wollen eine nachhaltige, stabile Sicherheitsordnung in Europa und darüber hinaus!

Lassen Sie mich eines völlig unmissverständlich klarstellen: Jede weitere Aggression – ich betone das: jede weitere Aggression – gegen die Ukraine wird massive Konsequen­zen für Russland haben. Die Rechnung wird hoch sein – sie wird wirtschaftlich und politisch hoch sein –, aber nichts tun, die Hände in den Schoß legen und Appeasement kann es auch nicht sein. Wünschen wir das? – Natürlich nicht! Hätten wir gerne eine andere Situation? – Na selbstverständlich hätten wir gerne eine andere Situation! Ge­rade wir Österreicher, ähnlich wie auch andere Partner, etwa Deutschland, haben ein massives Interesse daran, eine tragfähige, stabile, auf Augenhöhe ausgerichtete Partnerschaft mit Russland zu haben, aber es sind nicht wir, die das unmöglich machen.

Ich habe das in diesem Hohen Haus schon einmal gesagt: Wer ist der erste Anwen­dungsfall des Sanktionsregimes wegen Cyberangriffen? – Russland. Des Sanktionsregi­mes wegen Menschenrechten? – Russland. Wer hat uns in Europa immer wieder vor Situationen gestellt, die uns im weitesten Sinne des Wortes wirklich herausgefordert haben? – Ja, leider Russland. Wir haben nicht diese Akte gesetzt, wir haben nicht in anderen Territorien diese Akte gesetzt und wir werden auch nicht die Hände in den Schoß legen und zuschauen, falls es da zu weiteren Aggressionen kommen sollte. Das ist bitte die ganz klare Linie dieser Bundesregierung. Ich habe das immer wieder gesagt: Dialog, wo möglich, Kante, wo notwendig. Wir sind jetzt gerade wieder in einer Situation, in der wir gegenüber Russland Kante zeigen müssen und nicht falsche Signale aussen­den dürfen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch kurz auf den – wenn man so will – Elefanten im Raum eingehen; Sie haben ihn angesprochen: Nord Stream 2. Ganz offen gestanden: Ich halte das präventive Verbot eines wirtschaftlichen Projektes, das noch nicht einmal eine Betriebsgenehmigung hat, nicht für eine Drohkulisse gegenüber Moskau und nicht für einen sinnvollen Ansatz. Ich kann Ihnen aber eines versichern: Sollte es zu einer Aggression kommen, dann wird die Antwort Europas völlig klar und unmissverständlich ausfallen. Unsere Kernbotschaft ist klar: Die Souveränität, die territo­riale Integrität und die Unabhängigkeit der Ukraine sind unantastbar, sind nicht Teil der Verhandlungsmasse des Westens mit Moskau. (Beifall bei der ÖVP sowie bei Abgeord­neten von Grünen und NEOS.)

Moskau muss einsehen, dass es kein Jalta 2.0 geben kann, dass die europäische Außen- und Sicherheitspolitik und die Sicherheitsstruktur nicht am Reißbrett gemacht werden; eine Absteckung von Einflusssphären über die Köpfe der betroffenen Völker hinweg. Wir alle kennen ja das berühmte Bild, das Foto von Winston Churchill, als er sozusagen die europäische Karte mit Filzstift angestrichen hat und gesagt hat: Dort haben wir 30 Prozent Einfluss, ihr 70 Prozent, dort 50 : 50! Das war früher. Es hat damals schon nicht funktioniert, und jetzt funktioniert es schon gar nicht! (Beifall bei ÖVP und Grünen sowie des Abg. Brandstätter.)

Ich werde auch ganz bewusst Anfang Februar mit meinen tschechischen und slowa­kischen Kollegen im Rahmen des Slavkovformats nach Kiew und an die Kontaktlinie im Osten, nach Donbass, reisen – als klares Signal, als klares zentraleuropäisches Signal der Unterstützung, der Solidarität, des Engagements für die Unversehrtheit, für die Sou­veränität, für die Integrität der Ukraine.

Ich habe es ja schon erwähnt, vergessen wir eines nicht: Es geht in diesem Zusam­menhang nicht um ein fernes Land im Osten – wie gesagt, die ukrainische Grenze ist näher zu uns in Wien als Vorarlberg –, es geht auch um unsere eigene Sicherheit, daher kann es da auch keine falsch verstandene Neutralität geben. Österreich wird sich in diesem Sinne in Brüssel und darüber hinaus weiterhin für eine starke, handlungs- und lösungsorientierte EU-Position einsetzen, für eine nachhaltige Entspannung und für ein Mehr an Sicherheit und Stabilität in Europa. – Ich danke Ihnen. (Beifall bei ÖVP und Grünen.)

9.34

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Abgeordneter Lopatka. – Bitte sehr.