Abgeordneter Dr. Reinhard Eugen Bösch (FPÖ): Herr Präsident! Herr Bundeskanzler! Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist die österreichische Neutralität aus verschie­denen Richtungen in Kritik geraten. Wir Freiheitliche halten sie jedoch für ein taugliches Mittel, um in diesem Konflikt nicht nur die Interessen der Republik Österreichs, sondern auch die Interessen des Friedens in Europa voranzutreiben.

Ich stelle Ihnen die Frage in Bezug auf den Begriff Zeitenwende, den Sie im Rahmen eines Interviews verwendet haben:

187/M

„Wie interpretieren Sie den Begriff Zeitenwende in Bezug auf die Beziehung Österreichs zur NATO?“

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Herr Bundeskanzler, bitte.

Bundeskanzler Karl Nehammer, MSc: Danke für die Frage, Herr Abgeordneter.

Der Begriff stammt ja nicht von mir, sondern ich habe zitiert. Bundeskanzler Olaf Scholz hat ihn das erste Mal in die mediale Diskussion miteingebracht. Ich glaube, er trifft sehr gut, was gerade jetzt passiert, wenn man den Paradigmenwechsel – etwa bei der Bun­desrepublik Deutschland, die bereit ist, jetzt 100 Milliarden Euro in die Aufrüstung der Bundeswehr zu investieren – betrachtet.

Auf der einen Seite erleben wir, dass sich die Nato tatsächlich erweitert, durch Staaten, die freiwillig der Nato beitreten. Das sind Finnland und Schweden, und das ist tatsächlich außergewöhnlich. Beide Länder haben aber jetzt eine Grenze mit einem Krieg führenden Land und sehen ihre eigene Sicherheit im Nato-Bündnis gewährleistet.

Auf der anderen Seite bedeutet das für Österreich, dass es eine Veränderung auch in der Europäischen Union insgesamt darstellt, weil von den 27 EU-Mitgliedstaaten jetzt nur noch drei neutrale Staaten präsent sind – das ist Österreich, das ist Irland, das ist Malta –, und ein bündnisfreies Land, Zypern, das gerne der Nato beitreten würde, was aber durch den Konflikt mit der Türkei derzeit keine Denkoption darstellt.

Das heißt, unsere Aufgabe als Neutrale innerhalb der Europäischen Union muss jetzt sein, die Interessen, das Potenzial und die Möglichkeiten von neutralen Staaten sichtbar und klar zu machen.

Ich halte die österreichische Neutralität für eine gute Möglichkeit, um Friedensbemühun­gen konstruktiv zu unterstützen. Ich habe gerade erst Präsident Erdoğan getroffen, der ja mit dem Istanbuler Friedensprozess die größten Fortschritte gemacht hat und von sich aus auch die wichtige Rolle Österreichs als keinem Militärbündnis angehörig, aber Mit­glied der Europäischen Union betont und hervorgestrichen hat.

Auf der anderen Seite sind wir Teil der Europäischen Union und somit, wie Sie wissen, auch der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Das heißt, wir sind als vollwerti­ges Mitglied in der Europäischen Union vollumfassend solidarisch, haben über 800 Sol­daten in Friedensmissionen. Ich halte diesen Weg Österreichs für gut und richtig. Das ist das, was ich auch vorher und nachher und immer wieder sagen werde: Wir waren neutral, wir sind neutral und aus meiner Sicht bleiben wir das auch, weil es eine gute Möglichkeit ist, konstruktive Außenpolitik zu betreiben, Sicherheitspolitik zu betreiben und trotz Neutralität auch dann, wenn es darum geht, einen Aggressor zu benennen, der ein anderes Land überfällt, eine Meinung zu haben. (Beifall bei der ÖVP.)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter? – Bitte.

Abgeordneter Dr. Reinhard Eugen Bösch (FPÖ): Herr Bundeskanzler, welche Be­mühungen setzen Sie auf EU-Ebene, so wie wir es während unserer gemeinsamen Re­gierungszeit als FPÖ und ÖVP getan haben, nicht nur zur Implementierung eines effi­zienten EU-Außengrenzschutzes – Sie führen dieses Thema immer im Munde –, son­dern auch zum Aufbau einer eigenständigen europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik?

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Herr Bundeskanzler, bitte.

Bundeskanzler Karl Nehammer, MSc: Zum einen ist aus meiner Sicht der Außen­grenzschutz derzeit tatsächlich eine der größten Wunden in der Sicherheitsarchitektur der Europäischen Union, weil er nicht funktioniert. Wir sind Zeugen einer immer stärker werdenden irregulären Migration. Dass wir als Binnenland – nicht Grenzland – davon betroffen sind, zeigt, dass dieser Außengrenzschutz offensichtlich nicht funktioniert.

Österreich hat konkrete Vorschläge eingebracht: schnelle Asylverfahren, schnelle Rück­führungen und eben ein guter, durch Frontex unterstützter Grenzschutz. All das ist aus meiner Sicht leider ein noch nicht umgesetztes Versprechen vonseiten der Kommis­sion – auch dafür zu sorgen, dass das möglich ist.

Auf der anderen Seite die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: Das österreichi­sche Bundesheer leistet einen großen Beitrag, indem es hochqualifizierte Offiziere in die Stäbe der jeweiligen Einrichtungen schickt. Wir müssen darauf achten – die Verteidi­gungsministerin hat sich das auch vorgenommen, so wie ihr Vorgänger, der Verteidi­gungsminister unserer damaligen gemeinsamen Koalition –, dass die Interoperabilität weiter ausgebaut wird. Das heißt, dass, wenn Friedensmissionen stattfinden, es selbst­verständlich ist, dass die dort eingesetzten Truppenteile gut miteinander kommunizieren können, Befehlsgebungsabläufe und auch die Frage der Taktik und der operativen Um­setzung harmonisiert sind. (Abg. Bösch: Danke!)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Die nächste Zusatzfrage stellt Abgeordneter Ofen­auer. – Bitte.

Abgeordneter Mag. Friedrich Ofenauer (ÖVP): Herr Präsident! Schönen guten Mor­gen, Herr Bundeskanzler! Dem österreichischen Bundesheer als der bewaffneten Macht Österreichs obliegt die Verteidigung der Neutralität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und damit auch die Gewährleistung der Unabhängigkeit Österreichs und der Un­verletzlichkeit des Staatsgebietes. Wie wichtig das ist, haben wir am 24. Februar 2022 gesehen. Dieser Angriffskrieg Putins auf die Ukraine war eine Zeitenwende – wie es bereits angesprochen wurde.

Meine Frage: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die europäische und ins­besondere für die österreichische Sicherheitspolitik?

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Herr Bundeskanzler, bitte.

Bundeskanzler Karl Nehammer, MSc: Herr Abgeordneter, Sie setzen sich ja schon seit vielen Jahren für die militärische Landesverteidigung und für die sicherheitspoliti­schen Interessen der Republik Österreich hier im Hohen Haus ein. Zum einen ein großes Danke an die Abgeordneten und Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates für den ein­stimmigen Beschluss, dass die Ausgaben für das österreichische Bundesheer erhöht werden müssen. Das ist notwendig und richtig.

Ich sage das durchaus selbstkritisch. Das österreichische Bundesheer hat über Jahr­zehnte viel zu viele Einsparungen erleiden müssen. Es sind aus meiner Sicht auch die falschen Maßnahmen gesetzt worden. Das heißt, wenn wir jetzt dem Bundesheer einen Investitionsschub geben, dann ist es tatsächlich ein Investitionsschub, der grundsätzlich einmal eine vernünftige Basis schafft, auf der dann aufgebaut werden kann, um rüs­tungstechnisch tatsächlich Fortschritte zu erreichen.

Es ist notwendiger denn je. Der Krieg ist in Wahrheit nicht einmal 500 Kilometer von uns entfernt, wenn man daran denkt, dass Lemberg angegriffen und bombardiert wird. Das heißt, wir haben auch als neutraler Staat, der an sich keinem Militärbündnis angehört, die Verpflichtung, für unsere Selbstverteidigungsfähigkeit zu sorgen. Wir sind dazu in intensiven Gesprächen mit unserem Koalitionspartner. Ich bin zuversichtlich, dass uns eine dementsprechende Vorlage gelingen wird. (Beifall bei der ÖVP sowie des Abg. Litschauer.)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Die nächste Anfrage stellt Abgeordnete Ernst-Dziedzic. – Bitte sehr.