Eingebracht von: Buxbaum, Otto

Eingebracht am: 05.07.2021

 

Stellungnahme zum Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2021 (128/ME)

 

Beim Ministerialentwurf zum Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2021 besteht ein grundlegendes Problem. Dies ist die Diagnose von Geisteskrankheit oder einer gleichwertigen seelischen Störung (§ 11) sowie einer psychischen Störung (§ 21 Abs. 1 und 2).

 

Denn im Ministerialentwurf ist nicht der aktuelle Stand der Forschung im psychiatrisch-psychologischen Bereich berücksichtigt. Dieser besteht in einer Beweislage, die internationale Experten, darunter die Präsidentin der World Psychiatric Association, Frau Dr. Herrman, sowie der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Herr Dr. Wancata, nicht widerlegen konnten. Diese Beweislage, die auf meinen beiden Büchern und einigen Studien beruht, bedeutet daher einen neuen international implizite anerkannten medizinischen Qualitätsstandard für die psychiatrisch-psychologische Praxis (Diagnose, Ätiologie, neurowissenschaftlich fundierte Psychotherapie, Prävention).

 

In Bezug auf die Diagnoseerstellung und Begutachtung erfordert die Beweislage, dass bestimmte Diagnosekategorien nicht mehr verwendet werden. Diese Kategorien sind insbesondere Schizophrenie oder andere psychotische Störungen (Schizophrenia or other primary psychotic disorders), Affektive Störungen (Mood disorders) und Persönlichkeitsstörungen (Personality disorders and related traits).

 

Verschiedene neurowissenschaftlich fundierte Gesetzmäßigkeiten belegen, dass schwere psychische Störungen psychosozial bedingte Störungen der Hirnaktivität sind. Dies bedeutet, dass Lebensumstände, die als schwer belastend erlebt werden, die Hirnaktivität in den unteren oder oberen Extrembereich verschieben, und dass dadurch die Selbststeuerung verlorengeht, also das Koordinieren von Gegebenheiten und Zielen durch Wahrnehmen, Urteilen, Denken und Verhalten. Wenn es dabei zu eindeutig erkennbarer Selbst- und/oder Fremdgefährlichkeit kommt, erfordert dies die Unterbringung (Zwangseinweisung) in eine geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik (Notfallpsychiatrie).

 

Die Gesetzmäßigkeiten über die Ätiologie schwerer psychischer Störungen gelten auch für die Voraussetzungen zur strafrechtlichen Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum, die im Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2021 genannt werden.

 

Eine Lösung des eingangs dargestellten Diagnoseproblems von § 11 und     § 21 (1) ergibt sich somit dadurch, dass der § 11 StGB entsprechend neu formuliert wird:

 

                                § 11 Zurechnungsunfähigkeit

Wenn zur Zeit der Tat die Selbststeuerung verloren gegangen ist, besteht Schuldunfähigkeit. Dies wird durch eine schwere psychische Störung, eine hirnorganische Störung (Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns) oder den Einfluss psychotroper Substanzen verursacht. Schwere psychische Störungen sind psychosozial bedingte Störungen der Hirnaktivität. Dies bedeutet, dass Lebensumstände, die als schwer belastend erlebt werden, die Hirnaktivität in den unteren oder oberen Extrembereich verschieben, und dass dadurch die Selbststeuerung verlorengeht, also das Koordinieren von Gegebenheiten und Zielen durch Wahrnehmen, Urteilen, Denken und Verhalten.

 

Der erste Satz von § 11 kann auch mit einem Relativpronomen beginnen:

Wer zur Zeit der Tat ohne Selbststeuerung ist, ist schuldunfähig.

Wer zur Zeit der Tat die Selbststeuerung verloren hat, ist schuldunfähig.

 

Bei § 21 (2) besteht dagegen das Problem, dass der Begriff der schweren psychischen Störung, der durch Verlust der Selbststeuerung sowie Selbst- und/oder Fremdgefährlichkeit (Zurechnungsunfähigkeit) definiert ist, nicht anwendbar ist. Daher ist es notwendig, auf diesen Begriff zu verzichten und zu berücksichtigen, dass bei zurechnungsfähigen Personen rechtswidrige Bedürfnisse dominieren können, die zu bestimmten Straftaten führen, mit denen anderen Menschen schweres Leid zugefügt wird. Dies kann eine strafrechtliche Unterbringung begründen, um durch psychiatrisch-psychologische Behandlung eine passende Veränderung der Motivationshierarchie zu erreichen. 

 

Daher ist eine entsprechende Änderung in § 21 (2) notwendig, indem die Wendung „einer schwerwiegenden und nachhaltigen psychischen Störung“ durch die Wendung „rechtswidriger Bedürfnisse“ ersetzt wird:

 

(2) Besteht eine solche Befürchtung, so ist in einem forensisch-therapeutischen Zentrum auch unterzubringen, wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, als unmittelbare Folge rechtswidriger Bedürfnisse eine Tat nach Abs. 3 und 4 begangen hat. In diesem Fall ist die Unterbringung zugleich mit der Verhängung der Strafe anzuordnen.

 

Die Lösung des Diagnoseproblems in § 11 und § 21 (1), (2) erfordert eine passende Fortbildung der im Maßnahmenvollzug tätigen Fachärzte für Psychiatrie und medizinische Psychotherapie. Wegen des neuen medizinischen Qualitätsstandards für die psychiatrisch-psychologische Praxis ist aber auch die ebenfalls noch ausstehende Fortbildung der übrigen Fachärzte für Psychiatrie und medizinische Psychotherapie dringend notwendig. Alle notwendigen Unterlagen befinden sich beim Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Herrn Dr. Wancata, sowie in der Österreichischen Ärztekammer.  

 

In Zusammenhang mit der Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum ist das kontinuierliche Zusammenwirken zwischen Kriminalprognostik (Verhaltensvorhersagen als Grundlage für gerichtliche Entscheidungen) und Behandlung wesentlich. Ein wichtiger neuer Aspekt der Behandlung ist die neurowissenschaftlich fundierte Psychotherapie, die in der Notfallpsychiatrie und im Maßnahmenvollzug angewendet werden kann.

                                                                                         

In der Notfallpsychiatrie sowie im Maßnahmenvollzug nach § 21 (1) betrifft dies, nach Wiederherstellung der Selbststeuerung durch Psychopharmaka, insbesondere das Lernen von Regeln, um Belastungen zu verkraften. Denn damit kann dem neuerlichen Verlust der Selbststeuerung sowie der Selbst- und/oder Fremdgefährlichkeit und der damit verbundenen Notfallpsychiatrie oder dem Maßnahmenvollzug vorgebeugt werden.

 

Im Maßnahmenvollzug nach § 21 (2) zielen die Lernprozesse darauf, die Aktivierung rechtswidriger Bedürfnisse zu verhindern, die Taten gemäß Absatz 3 bewirken. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Günstig ist das Hemmen von Gedanken und Vorstellungen, die rechtswidrige Motive aktivieren und zum Vorbereiten und Ausführen rechtswidriger Verhaltensweisen führen. Günstig ist auch das Aktivieren von Gedanken und Vorstellungen, die sozial erwünschte Motive aktivieren und zum Vorbereiten und Ausführen sozial erwünschter Verhaltensweisen führen.

 

Vielen Tätern hat es in der Kindheit und Jugend an Vorbildwirkung in der Familie und durch andere Bezugspersonen gemangelt. Daher haben sie nicht Einstellungen und Verhaltensweisen lernen können, welche die Sozialisierung fördern. Die verschiedenen Formen von Vernachlässigung bewirken, dass die betroffenen Personen an intensiven oder lang dauernden emotionalen Belastungen leiden. Dies führt häufig zum Verlust der Selbststeuerung sowie zu Selbst- und/oder Fremdgefährlichkeit, oder dazu, dass bei verfügbarer Selbststeuerung rechtswidrige Bedürfnisse aktiviert werden und entsprechende Taten folgen.

 

Daher ist eine positive Beziehung zwischen Therapeut und Patient besonders wichtig, auch um die Motivation zur Behandlung zu erhöhen und dadurch den Behandlungserfolg zu begünstigen.

 

Dr. Otto Buxbaum

(otto.buxbaum@outlook.com)