News

Zwischen Tinte und Tastatur: 175 Jahre Stenographische Protokolle

Von den Anfängen 1848 bis zur modernen Herausforderung durch Spracherkennungssysteme.

Auch im wiedereröffneten Parlamentsgebäude sitzen sie in der Mitte des Plenarsaals rechts und links vor dem Redner:innenpult: die Parlamentsstenografen und Parlamentsstenografinnen – ausgestattet wie eh und je mit Block und Bleistift, mit wachsamem Rundumblick und Pokerface. Schon Theophil Hansen, der Architekt des Parlamentsgebäudes, wollte, dass durch ihre sichtbare Anwesenheit im Saal deutlich wird, dass das Geschehen in den Plenarsitzungen protokolliert und veröffentlicht wird. Doch welche Rolle haben Stenographische Protokolle heute, 175 Jahre nach der ersten schriftlichen Aufzeichnung einer Sitzung des Reichstags im Jahr 1848?

Die Geburtsstunde der Stenografie

Die Verbindung zwischen Stenografie und Parlamentarismus ist tief verwurzelt. Der Vater der modernen Stenografie im deutschen Sprachraum, Franz Xaver Gabelsberger, beschäftigte sich ab 1817 mit der Entwicklung des kurrent-kursiven Systems, das 1818 erstmals bei den Sitzungen der bayerischen Ständeversammlung zum Einsatz kam.

Die Eröffnung des Reichstags in der Winterreitschule der Hofburg im Juli 1848 markiert die Geburtsstunde der Stenographischen Protokolle in Österreich, unter der Leitung von Ignaz Jakob Heger, einem Schüler Gabelsbergers.

Die Stenografie zur Zeit der Oktoberrevolution

Die dramatischen Ereignisse während der 52. Sitzung des Reichstags am 6. Oktober 1848, der Beginn des Oktoberaufstandes und die Ermordung des Kriegsministers Latour, stellten die Stenografen vor eine einmalige Herausforderung. Inmitten von Chaos und Aufständen gelang es ihnen, die Protokolle zu sichern und so ein wichtiges Stück Geschichte zu bewahren. Der Stenograf Leopold Conn beschreibt die Ereignisse wie folgt: "Das Tosen der Volksmenge, der Donner der Kanonen, das Knattern des Kleingewehrfeuers mischte sich in die stürmisch bewegten Verhandlungen des Reichstages, und zu den Fenstern des Saales herein leuchtete unheimlich der Flammenschein von dem brennenden Zeughause."

Mit der Auflösung des Reichstags am 4. März 1849 und der Wiederherstellung des Absolutismus fand die erste Blütezeit der Stenografie in Österreich ihr jähes Ende. Erst mit der Einsetzung des Reichsrats ab 1860 nahm ihre Bedeutung wieder zu und Leopold Conn wurde damit beauftragt, das „reichsräthliche Stenografenbüro“ zusammenzustellen. 

Stenografie im 19. Jahrhundert: Vom Pauschalgehalt zur Beamtenstelle

Im 19. Jahrhundert wurden die Mitarbeiter des Stenografenbüros noch pauschal entlohnt. Erst 1897 wurden Beamtenstellen geschaffen. Juristen oder nebenberuflich als Stenografen tätige Rechtsanwälte, Richter oder auch Ärzte dominierten damals das Büro. Frauen wurden erst 1945 aufgenommen. Heute ist der Ausbildungshintergrund der Stenograf:innen in der Abteilung Stenographische Protokolle des Parlaments weitaus vielfältiger. Im Vordergrund stehen heute nicht mehr Stenografiekenntnisse, sondern das Redigieren der Reden. Daher müssen Stenograf:innen in erster Linie Lektoratskompetenzen aufweisen, neben der auch im 19. Jahrhundert vorausgesetzten ausgezeichneten Allgemeinbildung und einem wachen politischen Interesse.

Heute wie damals ist auch eine hohe Konzentrations- und Belastungsfähigkeit Voraussetzung für Stenograf:innen, wenn auch nicht im gleichen Umfang wie im 19. Jahrhundert. Leopold Conn berichtete, dass er einmal nach vier Sitzungstagen im September 1860 bewusstlos im Büro zusammenbrach und fortan an Herzproblemen litt. Das Protokoll musste damals mit Sitzungsende fertiggestellt sein und am nächsten Morgen gedruckt im Präsidialbüro abgegeben werden. Zugleich wurden Berichte an die Zeitungen übermittelt, denn die Stenograf:innen übernahmen damals auch die Aufgabe der Berichterstattung. Erst im Zuge der Reorganisation 1994, wurden Stenografenbüro und Parlamentskorrespondenz getrennte Abteilungen.

Stenografie im 21. Jahrhundert: Zwischen Tradition und Innovation

Die Einführung neuer Technologien wie Schreibmaschinen, Audioaufzeichnungen und Computer veränderte die Arbeitsprozesse, das Ziel blieb aber dasselbe: die Öffentlichkeit am demokratischen Diskurs teilhaben zu lassen. Das sichtbare Stenografieren im Sitzungssaal ist dabei nur ein Aspekt, der Großteil der Arbeit von Stenograf:innen geschieht im Verborgenen: Nach zehn Minuten Einsatz im Sitzungssaal haben sie knapp drei Stunden Zeit, um aus ihrer Mitschrift und dem Transkript der Audioaufnahme ein gut lesbares, valides und veröffentlichbares Protokoll zu erstellen. Rund 16.000 Seiten jährlich werden von der Leiterin der Parlamentsstenograf:innen Bettina Brixa und ihrem Team für die Öffentlichkeit erstellt.

Der Bleistift im digitalen Zeitalter: Warum die Stenografie weiterhin relevant ist

Die Debattenkultur im deutschsprachigen Raum ist lebendig und dynamisch, und eine authentische Wiedergabe der Debatten trägt zur Transparenz bei. "Unser digitales Aufzeichnungssystem kann zwar alles aufnehmen, was in der Nähe eines Mikrofons gesprochen wird, aber zum Beispiel keine Zwischenrufe aus dem Plenum oder von der Regierungsbank", sagt die Leiterin der Parlamentsstenograf:innen Bettina Brixa. Das schnellste und effizienteste Mittel, um dies alles zu erfassen, ist nach wie vor der Bleistift.

Bereits 1843 beschreibt Louis-Marie de Lahaye de Cormenin in "Das Buch der Redner" die Bedeutung der Stenografie wie folgt: „Vier Personen kennen das Geheimnis der Schwäche des parlamentarischen Redners: sein Arzt, sein Beichtvater, seine Geliebte und sein Stenograph.“