1283/AB-BR BR
 
Die Bundesräte Alfred Schöls und Kollegen haben an mich eine schriftliche Anfrage,
betreffend Anwendungsbereich des außergerichtlichen Tatausgleichs, gerichtet und
folgende Fragen gestellt:
"1. Wie stehen Sie zum Einwand der Sicherheitsexekutive, daß ein außergerichtli -
cher Tatausgleich bei Verbrechen nach § 269 StGB nicht zur Anwendung kom -
men soll?
2. Gibt es sonstige kriminalitätsbereiche, in denen Diversionsmaßnahmen aus
grundsätzlichen Überlegungen nicht zur Anwendung kommen sollen?
3. Wie sind die bisherigen Ergebnisse des Begutachtungsverfahrens zu diesen
Fragen?
4. Wie werden Sie den Einwänden bei Erarbeitung der Regierungsvorlage Rech -
nungtragen?
5. Welche Maßnahmen werden Sie setzen, um einen Ausgleich für die mit dem
Diversionsgesetz und noch mehr mit der Neuregelung des strafgerichtlichen
Vorverfahrens einhergehende Befugniserweiterung der weisungsgebundenen
Staatsanwaltschaften zu schaffen?"
 
Ich beantworte diese Fragen wie folgt:
Zu 1:
Von einem "Einwand der Sicherheitsexekutive", daß ein außergerichtlicher Tataus -
gleich in Fällen des Widerstandes gegen die Staatsgewalt (§ 269 StGB) nicht zur
Anwendung kommen solle, kann insofern nicht gesprochen werden, als im Begut -
achtungsverfahren ein solcher Einwand lediglich aus dem Bereich der Justizwache
vorgetragen wurde. Das Bundesministerium für Inneres gab überhaupt keine Stel -
lungnahme ab. Aus dem gewerkschaftlichen Bereich der Sicherheitsexekutive wur -
den Einwände nicht erhoben. Die Vertreter der Justizwache wurden vom Bundesmi -
nisterium für Justiz zu einem klärenden Gespräch mit den für die Ausarbeitung der
Regierungsvorlage zuständigen Beamten eingeladen, in der die jeweiligen Stand -
punkte erörtert wurden.
Ich habe grundsätzlich Verständnis für den Einwand der Justizwache und bin der
Ansicht, daß die aufgrund der mehrjährigen Erfahrung im Jugendgerichtsbereich
und im Rahmen des Modellversuchs "ATA - E" prominenteste Diversionsform "außer -
gerichtlicher Tatausgleich" bei Delikten, die nicht gegen eine konkrete Person, son -
dern gegen den Staat bzw. gegen ein abstraktes Rechtsgut - wie z.B. die Staatsge -
walt - gerichtet sind, im Regelfall nicht als das geeignetste Mittel anzusehen sein
wird, den der strafbaren Handlung zugrundeliegenden Konflikt zu lösen. Doch hat
die bisherige Praxis gezeigt, daß Einzelfälle durchaus denkbar und auch schon vor -
gekommen sind, in der der außergerichtliche Tatausgleich auch in Fällen des § 269
StGB zu einem für beide Seiten zufriedenstellenden Ergebnis gekommen ist.
Zu 2:
Da ich der Überzeugung bin, daß der Einsatz von Diversionsmaßnahmen im leichte -
ren und zum Teil auch im mittleren Kriminalitätsbereich im Vergleich zum förmlichen
Strafverfahren grundsätzlich eine qualitativ bessere oder zumindest gleichwertige
Reaktion des Staates auf strafbares Verhalten ermöglicht, ist nicht daran gedacht,
spezielle Deliktsbereiche generell aus der Anwendung des Diversionsgesetzes aus -
zunehmen. Bei keiner Deliktsgruppe kann man von vornherein ausschließen, daß
es nicht doch Einzelfälle gibt, in denen die eine oder andere der möglichen Diversi -
onsformen eine geeignete Reaktion darstellt. Der Gesetzesentwurf sieht daher ge -
nerelle Kriterien für die Begrenzung des Anwendungsbereichs der Diversion vor
 
("nicht schwere Schuld", spezial - und generalpräventive Verträglichkeit der Erledi -
gung), die eine praxisgerechte Handhabung durch die Justizbehörden ermöglichen.
Es würde auch die Handhabbarkeit des Gesetzes unverhältnismäßig erschweren,
würde man die einzelnen Diversionsmöglichkeiten mit jeweils unterschiedlichen An -
wendungsbereichen ausstatten und von unterschiedlichen Voraussetzungen abhän -
gig machen. Um dem jeweiligen Einzelfall gerecht werden zu können, erscheint es
mir sinnvoller, im Rahmen der Erläuterungen des Gesetzes und durch entsprechen -
de Hinweise im Einführungserlaß den Praktikern Orientierungslinien an die Hand zu
geben, für welche Fallkonstellationen sich bestimmte Diversionsformen, insbeson -
dere der außergerichtliche Tatausgleich, typischerweise besonders gut oder eher
nicht eignen.
Zu 3:
Einzelne begutachtende Stellen haben für den von ihnen vertretenen Bereich die
Herausnahme typischer Delikte aus dem Anwendungsumfang der Diversion gefor -
dert. Hervorzuheben sind dabei die Stellungnahme der Bundesministerin für Frau -
enangelegenheiten in bezug auf Gewalt in der Familie sowie die bereits erwähnte
Stellungnahme der Justizwache in bezug auf § 269 StGB.
Mit den genannten Stellen fanden ausführliche Gespräche statt, in denen das Bun -
desministerium für Justiz seinen Standpunkt deutlich machen konnte, wonach den
legitimen Interessen bestimmter Opfergruppen dadurch Rechnung getragen werden
soll, daß auf deren Bedenken bei einzelnen Formulierungen des Gesetzestextes, in
den Erläuterungen und im Einführungserlaß Bedacht genommen werden wird, eine
gesetzliche Ausnahmeregelung für bestimmte Bereiche jedoch nicht nur die Klarheit
und Ausgewogenheit des Gesamtentwurfs beeinträchtigen würde, sondern auch
langwierige Verhandlungen auslösen könnte, die eine rasche Umsetzung des Ge -
setzesvorhabens gefährden würden.
Zu 4:
Um den Anwendungsbereich der Diversion (nämlich leichtere und zum Teil auch
mittlere Kriminalität) deutlicher zum Ausdruck zu bringen und allgemeinen Bedenken
gegen eine für das Gericht theoretisch unbegrenzte Anwendbarkeit der Diversion zu
begegnen, wird überlegt, zusätzlich zu den zu Frage 2 erwähnten generellen - ein -
 
schränkenden - Abgrenzungskriterien sowohl bei der Anwendung durch die Staats -
anwaltschaft als auch bei jener durch das Gericht eine von der Strafdrohung abhän -
gige Obergrenze einzuziehen sowie die Diversion bei Straftaten mit Todesfolge aus -
zuschließen, wie dies bereits im Jugendgerichtsgesetz der Fall ist. Außerdem soll,
wie bereits dargelegt, in den Erläuterungen sowie im Einführungserlaß für die not -
wendigen Klarstellungen gesorgt werden. Damit kann sichergestellt werden, daß
von der erweiterten Reaktionspalette, die den Staatsanwälten und Richtern mit der
Strafprozeßnovelle 1998 zur Verfügung gestellt wird, in der gleichen maßvollen und
verantwortungsvollen Weise Gebrauch gemacht wird, wie dies derzeit bereits bei
der Anwendung des Jugendgerichtsgesetzes und bei der Durchführung des Modell -
versuchs des außergerichtlichen Tatausgleichs für Erwachsene der Fall ist.
Zu 5:
Im Hinblick auf die positiven Erfahrungen mit den Diversionsmöglichkeiten im Ju -
gendgerichtsgesetz und mit dem Modellversuch des außergerichtlichen Tataus -
gleichs für Erwachsene sehe ich - abgesehen von einer verstärkten Fachaufsicht
der Staatsanwälte über die bei den Bezirksgerichten tätigen Bezirksanwälte - keine
unmittelbare Notwendigkeit, die Befugniserweiterung für die Staatsanwaltschaften
durch flankierende Maßnahmen auszugleichen.
Den sicherlich größeren Eingriff in das bestehende System der Rollenverteilung zwi -
schen Staatsanwaltschaft und Gericht wird die Reform des strafprozessualen Vor -
verfahrens bringen, deren Grundzüge in einem von mir vor wenigen Wochen der Öf -
fentlichkeit vorgestellten Diskussionsentwurf dargelegt sind. Im Bundesministerium
für Justiz wurde ein Arbeitskreis eingerichtet, dem Vertreter der Richter, der Staats -
anwälte und der Rechtsanwälte sowie der Lehre und des Bundesministeriums für In -
neres angehören und in dem auch die durch die Reformüberlegungen ausgelösten
Fragen diskutiert werden, auf welche Weise die rechtsstaatlichen Garantien in ei -
nem reformierten Strafverfahren bestmöglich gewährleistet werden können und wel -
che Konsequenzen sich für Struktur und Organisation der Justizbehörden aus der
Reform ergeben werden.