2460/AB-BR/2009

Eingelangt am 28.05.2009
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BM für Gesundheit

Anfragebeantwortung

Alois Stöger diplô

Bundesminister

 

Herrn

Präsidenten des Bundesrates

Harald REISENBERGER

Parlament

1017 Wien

 

 

Wien, am     27. Mai 2009

GZ: BMG-11001/0099-I/5/2009

 

 

Sehr geehrter Herr Präsident!

 

Ich beantworte die an mich gerichtete schriftliche parlamentarische Anfrage Nr. 2664/J-BR/2009 der Bundesräte Jürgen Weiss, Edgar Mayer und Ing. Reinhold Einwallner nach den mir vorliegenden Informationen wie folgt:

 

Frage 1:

Der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes teilte Folgendes mit:

Aus verfassungsrechtlicher Sicht wäre die Frage einer verpflichtenden Mehlanreicherung mit Folsäure nach Maßgabe des Sachlichkeitsgebots (Art. 7 B-VG, Art. 2 StGG) zu prüfen, insbesondere ob auf Grund der neuen Erkenntnisse nicht ein anderer Ansatz für die Erreichung des Ziels der Vermeidung von Gesundheitsschädigungen durch Folsäuremangel gewählt werden könnte. Weiters müsste der mit dieser Verpflichtung verbundene Eingriff in die Erwerbsfreiheit (Art. 6 StGG) sachlich gerechtfertigt sowie das gelindeste Mittel zur Erreichung der gesundheitspolitischen Zielsetzung sein. Hinsichtlich eines allfälligen Eingriffs in das Privat- und Familienleben (Art.8 MRK) bzw. die persönliche Freiheit (§ 1 PersFrG) scheint nach Ansicht des BKA-VD eine verpflichtende Mehlanreicherung mit Folsäure nicht von besonderer Relevanz zu sein. Der BKA-VD verweist darauf, dass die Fragen in erster Linie auf naturwissenschaftlich-empirischer Ebene beantwortet werden sollten.

Das Regierungsprogramm enthält den ausdrücklichen Passus, dass „Risikostudien zur Anreicherung von Mehl mit Folsäure weitergeführt werden.“ Wie in der Beantwortung der Fragen 2 und 3 dargestellt, sollte zuerst der Ausgang weiterer Studien abgewartet werden, bevor ein umfassendes verfassungsrechtliches Gutachten eingeholt wird, welches sich auf eben diese Studeinergebnisse stützen können muss.

 

Frage 2:

Der Endbericht der im Auftrag des Gesundheitsministeriums vom Ludwig Boltzmann Institut Health Technology Assessment erarbeiteten Übersichtsarbeit „Risiko und Nutzen von Folsäureanreicherung im Mehl in Österreich“ liegt nunmehr vor. Die Arbeit fasst den derzeitigen Wissenstand zusammen. Daraus ableitbar ist derzeit keine klare Empfehlung für eine verpflichtende Mehlanreicherung.

 

Grundsätzliches:

Folsäure ist ein wasserlösliches B-Vitamin, das in seiner natürlichen Form (Nahrungsfolat) in Lebensmitteln vorkommt bzw. vermehrt auch als synthetische Folsäure (Pteroylmonoglutaminsäure – PGA) Lebensmitteln zugesetzt wird (z.B. Frühstücksflocken, Getränken, Fertiggerichten, Süßigkeiten). Die biologische Aktivität der verschiedenen Folsäure-Formen ist unterschiedlich, daher hat man sich international geeinigt, als Mengenangabe sogenannte Folat-Äquivalente zu verwenden (Summe folatwirksamer Verbindungen), um verschiedene untereinander nicht vergleichbare Angaben zu vermeiden.

 

Der Folsäurebedarf pro Tag ist vom Alter und Geschlecht abhängig. Die Empfehlungen der deutschen, österreichischen und schweizerischen Gesellschaften für Ernährung für die Zufuhr von Folsäure (DACH-Referenzwerte) berücksichtigen den Grundbedarf, einen Sicherheits- und einen Vorsorgezuschlag. Die nachfolgede Tabelle gibt einen Überblick über diese DACH-Empfehlungen.

 

Alter

Zufuhr Empfehlung

µg-Äquivalt/Tag

Zusätzlich bei Frauen

0-4 Monate

60

 

4-12 Monate

80

 

1-4 Jahre

200

 

4-10 Jahre

300

 

Ab 10 Jahren

400

 

Schwangere

600

400 µg PGA/Tag im ersten Trimester*

Stillende

600

 

 

*Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten, sollten zusätzlich 400 µg synthetische Folsäure (=Pteroylmonoglutaminsäure/PGA) pro Tag in Form von Supplementen aufnehmen, um Neuralrohrdefekten bestmöglich vorzubeugen. Diese erhöhte Folsäurezufuhr sollte spätestens 4 Wochen vor Beginn der Schwangerschaft erfolgen und während des ersten Drittels der Schwangerschaft beibehalten werden.

Auf internationaler Ebene (IUNS-International Nutrition Society) diskutiert man derzeit eine Herabsetzung der generellen Empfehlung für Erwachsene von 400 µg auf 200 µg Folat-Äquivalente. Dieser Wert ist auch im aktuellen Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission zur Kennzeichnung von Lebensmitteln („EU-Informationsverordnung“) als „Tagesempfehlung“ angeführt.

 

In Österreich gehört Folsäure zu den „kritischen“ Nährstoffen d.h. viele ÖsterreicherInnen erreichen die empfohlenen Zufuhrmengen (DACH-Referenzwerte) nicht. Das kann vor allem bei Mädchen und Frauen, die schwanger werden, problematische Folgen haben, denn in den ersten Wochen der Schwangerschaft wird besonders viel Folsäure benötigt. Liegt in dieser Zeit eine Unterversorgung vor, können schwere Missbildungen beim Kind die Folge sein (Neuralrohrdefekte).

 

Auch in vielen anderen Ländern weisen Ernährungserhebungen auf eine kritische Folsäureversorgung hin. Zahlreiche Länder haben sich daher in den letzten Jahrzehnten mit der Rolle von Folsäure bei der Entstehung von Krankheiten, allen voran Neuralrohrdefekten, beschäftigt. Neuralrohrdefekte treten regional sehr unterschiedlich häufig auf. Eine Reduktion des Auftretens von Neuralrohrdefekten durch zusätzliche perikonzeptionelle Folsäuregabe ist durch Studien belegt. Einige nicht-europäische Länder haben sich daher zu einer verpflichtenden Anreicherung von bestimmten Nahrungsmitteln mit Folsäure entschlossen. In einigen EU-Ländern wurde diese Maßnahme ebenfalls diskutiert, bisher aber von keinem EU-Staat eingeführt.

 

In Österreich wurde die gesetzlich verpflichtende Anreicherung von Mehl mit Folsäure als Maßnahme zur Verminderung von Neuralrohrdefekten diskutiert. Gleichzeitig traten allerdings immer wieder Zweifel an der Sicherheit und Angemessenheit dieser Maßnahme auf. Daher hat das Gesundheitsministerium letztes Jahr die eingangs schon erwähnte Übersichtsarbeit in Auftrag gegeben, die als wissenschaftliche Basis für eine Entscheidungsfindung zugunsten oder gegen eine obligatorische Folsäureanreicherung von Mehl in Österreich dienen soll. Ziel des systematischen Reviews war es, den letzten Stand des Wissens zu Nutzen und Risken, Wirksamkeit und Sicherheit der Folsäureanreicherung aufzubereiten.

 

Untersucht wurde die Wirksamkeit von Folsäuresupplementierung einerseits bzw. Folsäureanreicherungen andererseits im Bezug auf die Verringerung von Neuralrohrdefekten und anderen Fehlbildungen. Fragen zum Effekt von Anreicherungen auf den Folatstatus im Serum, zum Risiko von Aborten und Zwillingsschwangerschaften, zur Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen, Brustkrebs und kolorektalem Karzinom, und die Sicherheit in Hinblick auf eine Maskierung eines Vitamin-B12-Mangels und bei Antiepileptika-Therapie wurden beleuchtet. Zusätzlich liefert auch der im April präsentierte Ernährungsbericht neuere Daten zur Nährstoffversorgung der ÖsterreicherInnen.

 

Wie der Ernährungsbericht zeigt, liegt die Folsäurezufuhr in Österreich in allen Bevölkerungsgruppen unterhalb der Empfehlungen (bezogen auf die DACH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr). Hier muss allerdings angemerkt werden, dass diese Daten auf Ernährungsinterviews zurückzuführen sind. Die Angaben werden entsprechend mit in Nährwertdatenbanken zur Verfügung stehenden Durchschnitts-Gehaltswerten für eine breite Auswahl von Lebensmittel hochgerechnet. In den Datenbanken zur Berechnung sind viele heute erhältliche angereicherte Lebensmittel nicht enthalten. Aussagekräftige Statusdaten wird der nächste Österreichische Ernährungsbericht liefern, in welchem erstmal auf breiter Basis auch Blutanalysen vorgesehen sind. Dieser Bericht wird derzeit konzipiert und soll 2012 präsentiert werden.

 

Nichtsdestotrotz kann aus den zur Verfügung stehenden Daten abgeleitet werden, dass Österreichische Frauen im gebärfähigen Alter und Schwangere eine verbesserungswürdige Versorgung mit Folsäure aufweisen. Besonders geringe Folsäureaufnahmen weisen häufiger (jüngere) Frauen von nicht-österreichischer Herkunft und niedrigem sozioökonomischen Status auf. Dieses Kollektiv ist somit die Hauptrisikogruppe hinsichtlich Neuralrohrdefekten und muss somit Hauptzielgruppe von Maßnahmen sein.

 

Zur Inzidenz von Neuralrohrdefekten und Wirksamkeit von Anreicherung bei Neuralrohrdefekten: Die Inzidenz von Neuralrohrdefekten in Österreich ist nicht exakt zu benennen. Extrapoliert aus internationalen Daten kann in Österreich von jährlich etwa 60 „Fällen“ (Lebend- und Totgeburten sowie induzierte Aborte) ausgegangen werden. Etwa 12 Kinder werden jährlich lebend mit Neuralrohrdefekten geboren. In Ländern mit obligatorischer Folsäureanreicherung eines Grundnahrungsmittels (USA, Kanada oder Chile) zeigt sich eine relative Risikoreduktion von Neuralrohrdefekten von durchschnittlich 35%, das entspricht etwa einer absoluten Reduktion von 1 - 4 verhinderten Neuralrohrdefekten pro 10.000 Geborenen. Bei insgesamt ca. 77.000 Geburten in Österreich jährlich (Zahl 2008) könnte mit einer derartigen Maßnahme (fiktiv) eine Verhinderung von 7-30 Neuralrohrdefekten pro Jahr erreicht werden. Die Wirksamkeit der Maßnahme im Bezug auf die Verhinderung von Neuralrohrdefekten kann somit als hoch angesehen werden.

 

Wissen zu möglichen nachteiligen Effekten von Anreicherung von Mehl mit Folsäure: Eine Erhöhung von Risiken wie der Maskierung eines Vitamin-B12-Mangels bei älteren Menschen oder der Entwicklung von neurologischen Störungen oder der Anfallshäufigkeit bei Antiepileptika-PatientInnen ist weder belegt noch wiederlegt. Die Daten bezüglich einem mit erhöhter Folsäureaufnahme verbunden Risiko für Zwillingsschwangerschaften widersprechen sich. Die Hypothese, dass Folsäure das Auftreten von Aborten erhöht, wird durch Studienergebnisse nicht ausreichend unterstützt.

 

Der Anstieg der Folatspiegel im Blut durch die Folsäureanreicherung in den USA ist deutlich höher als ursprünglich prognostiziert. Hier kommt sicherlich dazu, dass in den USA auch viele andere Lebensmittel (freiwillig) mit Vitamincocktails angereichert sind, die meist auch synthetische Folsäure enthalten. Die mit dem Überschreiten der zulässigen oberen Grenze für Folsäure verbundenen Auswirkungen sind derzeit unklar.

 

Evidenz zu Folsäure und kardiovaskulären Erkrankungen: Derzeit können keine Aussagen bezüglich der Wirksamkeit einer Folsäure-Intervention auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen getroffen werden. Weder in der Primär- noch in der Sekundärprävention konnte bisher eine signifikante Risikoreduktion für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bewiesen werden, nur für Schlaganfall zeigte sich eine Risikoreduktion.

 

Evidenz zu Folsäure und Krebserkrankungen: Synthetische Folsäure (die typische Form für Nahrunsgmittelanreicherungen und Supplemente) in hohen Mengen hat möglicherweise einen dualen Effekt bei der Tumorentwicklung: eine hemmende Wirkung auf die Tumorentwicklung in normalem Gewebe und einen Progressionseffekt bei bereits bestehenden Tumoren. Limitierte Evidenz liegt dafür vor, dass folathaltige Nahrung gegen kolorektales Karzinom schützt. Die Ergebnisse zum Zusammenhang von Folsäure und Brustkrebs sind inkonsistent. Eine durchgeführte Studie bezüglich des Auftretens von Prostatakrebs ist mit einigen Unsicherheiten verbunden und teilweise von limitierter Aussagekraft. Hier wären Folgestudien nötig, um exaktere Aussagen ableiten zu können.

 

Zu Frage 3:

Beim derzeitigen Stand des Wissens beugt bei Schwangeren die Sicherung eines ausreichenden Folsäurestatus einer etwaigen spezifischen Schädigung der Leibesfrucht abgeklärtermaßen vor.

Die Empfehlung, dass Frauen, die schwanger werden wollen (oder könnten) schon vor der Konzeption bis einschließlich der achten Schwangerschaftswoche zusätzlich 400 µg synthetische Folsäure (PGA) in Form von Supplementen zu sich nehmen sollen, ist unabhängig davon, ob im jeweiligen Land ein Nahrungsmittel (z.B. Mehl) verpflichtend angereichert wird. Die wichtigste und vordringlichste Maßnahme ist daher, diesen Umstand ausreichend bekannt zu machen und den Zugang zu Folsäure-Supplementen für Mädchen und Frauen zu erleichtern.

Für alle anderen Bevölkerungsgruppen ist eine abgesicherte Aussage für oder gegen eine Folsäuresupplementierung im Sinne einer verpflichtenden Anreicherung von Lebensmitteln nicht möglich.

 

Die obligatorische Folsäure-Anreicherung eines Grundnahrungsmittels würde zur Erhöhung des Folatstatus in der Allgemeinbevölkerung und mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Rückgang der Neuralrohrdefekte führen, wobei die Größenordnung ungewiss ist. Allerdings würde die Pflichtanreicherung eines Grundnahrungsmittels möglicherweise auch zur Überschreitung der oberen Sicherheitsgrenze bei einer (nicht klar definierbaren) Anzahl von Individuen führen - vor allem auch darum, weil das Angebot an freiwillig mit Folsäure angereicherten Produkten stetig steigt. Ein Verbot von freiwillig angereicherten Produkten in Österreich ist aber eu-rechtlich nicht möglich.

 

Aufgrund der genannten Unsicherheiten kann die Frage des gesamtgesundheitlichen Nutzens einer verpflichtende Anreicherung von Mehl, ein Umstand, der die Gesamtbevölkerung, und zwar über lange Zeiträume im Sinne einer chronischen Aufnahme, betreffen würde, wie z.B. im Entwurf des Folsäuregesetzes vorgesehen, aus wissenschaftlicher Sicht derzeit nicht abschließend beantwortet werden.

 

Was die tatsächliche Wirksamkeit eines österreichischen Alleinganges im Bezug auf die verpflichtende Mehlanreicherung betrifft, bleibt weiters die Frage offen, ob damit die hauptsächliche Risikogruppe für Neuralrohrdefekte erreicht wird (junge Mädchen, sozial benachteiligte Schichten, Mädchen mit Migrationshintergrund), da die Anreicherung nur für in Österreich hergestellte Mehle vorgeschrieben werden kann und Produkte, die nicht in Österreich hergestellt werden – und in der Regel die billigeren Produkte sind - nicht angereichert sind (z.B. ausländische Teiglinge). Die Höhe des dadurch verringerten Wirkungsgrades der Maßnahme ist anhand der derzeit verfügbaren Daten nicht abschätzbar.

 


Es gibt derzeit ungenügende Evidenz aus randomisiert kontrollierten Studien, die eine abschließende Beurteilung des Nutzens oder Risikos einer obligatorischen Folsäureanreicherung in Hinblick auf chronische Erkrankungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen oder auf das Krebsrisiko zulässt.

 

Die EU-Länder, die hinsichtlich einer Einführung einer verpflichtenden Mehlanreicherung am weitesten waren (Großbritannien und Irland) haben die Maßnahme derzeit aufgrund der unsicheren Datenlage bezüglich des Risikos einer chronischen Überversorgung auf Eis gelegt. Eine Fortführung der gezielten Aufklärung und Information zur Verbesserung der perikonzeptionellen Folsäureaufnahme ist daher von wesentlicher Bedeutung.

Jedenfalls sollten Folsäurestudien zu Krebsgeschehen und der Verhinderung embrionaler Schädigungen sowie zu anderen positiven wie z.B. angioprotektiven Wirkungen weiterhin genau beobachtet werden, um eine Nutzen/Risikorelevanz besser abklären zu können.

 

Ich möchte auch darauf verweisen, dass bei der Europäischen Lebensmittelsicherheits-behörde (EFSA) eine Arbeitsgruppe eingerichtet wurde, um das Thema Folsäure-Anreicherung zu bearbeiten.

 

Zu Frage 4:

Die Antwort ergibt sich aus den bisherigen Antworten und lautet: derzeit nein. Die Diskussionen und das Ergebnis der EFSA-Arbeitsgruppe soll jedenfalls abgewartet werden. Eine verpflichtende Anreicherung eines Grundnahrungsmittels sollte im Sinne einer Vermeidung einer chronischen Überversorgung einzelner spezieller Gruppen zudem mit einer gleichzeitigen Einschränkung der freiwilligen Anreicherung einhergehen. Letzteres ist aber eu-rechtich derzeit nicht möglich. Ein gemeinsames Vorgehen auf EU-Ebene ist daher einem österreichischen Alleingang vorzuziehen.