2553/AB-BR/2010
Eingelangt am 05.08.2010
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BM für Wissenschaft und Forschung
Anfragebeantwortung

BMWF-10.001/0007-III/FV/2010
Herrn
Präsidenten des Bundesrates
Martin Preineder
Parlament
1017 Wien
Wien, 4. August 2010
Die schriftliche parlamentarische Anfrage Nr. 2761/J-BR/2010 betreffend Kostensteigerung beim Projekt ITER (Kernfusion), die die Bundesrätin Elisabeth Kerschbaum, Kolleginnen und Kollegen am 8. Juni 2010 an mich richteten, wird wie folgt beantwortet:
Einleitend muss ich festhalten, dass sich Österreich gemeinsam mit allen anderen Mitgliedstaaten weiterhin zu diesem internationalen Forschungs- und Entwicklungsprojekt im Sinne einer langfristigen, alle Möglichkeiten sondierenden und global orientierten Zukunftssicherung bekennt. Diese weitblickende, solidarische Perspektive orientiert sich aber auch an den Möglich-keiten und Erfordernissen der Gegenwart. Bei allem Verständnis für die Unvorhersehbarkeiten und Probleme eines derart komplexen Projekts hat Österreich stets einen klaren Standpunkt hinsichtlich Kostenkontrolle vertreten und zusätzliche Mittel aus dem nationalen Haushalt strikt abgelehnt.
Zu Frage 1:
Nach Fertigstellung des aktuellen generischen ITER Designs wurden 2001 die Kosten für den Bau in der damals verwendeten Verrechnungseinheit IUA (ITER Unit of Account, 1 IUA = 1000 $ zum Wert Jänner 1989) auf 3578 kIUA geschätzt, entsprechend etwa 5,1 Mrd. € bzw. 2,3 Mrd. € (2,68 Mrd. zu Preisen 2008) für den EU-Anteil von rund 45 %. Diese Schätzung auf alleiniger Basis der technischen Spezifikationen ohne Standort- und Durchführungskosten diente auch als Basis für den ITER-Vertrag 2006 der dann 7 Partner EU (Anteil 5/11) und China, Indien, Japan, Süd-Korea, Russland, USA (je 1/11) vereint hat. Im Zuge der weiteren Detaillierung des Projekts, der Berücksichtigung von Designänderungen und des technischen/technologischen Fortschritts erfolgte 2008 eine Aktualisierung der Kostenschätzung für den EU-Anteil zu 5,87 Mrd. € (nur Bau inkl. Risikovorsorge). Die aktuelle Gesamtkostenschätzung der Kommission von März 2010 beträgt 7,25 Mrd. € (in Preisen 2008) für die Zeit bis 2020, die Mitgliedstaaten fordern eine Beschränkung auf 6,6 Mrd. €.
Zu Frage 2:
Die Kostensteigerungen seit 2001 haben folgende Gründe:
1. Notwendigkeit zusätzlicher hochkomplexer Komponenten aufgrund neuer wissenschaft-licher und technischer Erkenntnisse;
1. Inflation seit 2001;
2. Überproportionale Kostensteigerungen (weit über der Inflationsrate) bei vielen Rohstoffen, speziell hochpreisigen;
3. Starker Anstieg der Komplexität der Projektintegration und der Schnittstellen durch Änderungen der Voraussetzungen für die Durchführung des Projekts (2001 waren 3 Partner vorgesehen, jetzt sind es 7);
4. Infrastruktur- und Managementkosten wurden 2001 nicht spezifiziert, da weder der Standort bekannt war noch die institutionelle Abwicklung der europäischen Beteiligung (z.B. Kosten für 28 Gebäude von. ca. 600 Mill. €; völliger Neuaufbau einer eigenen Organisation – F4E (Fusion for Energy) – in Barcelona als sog. „Domestic Agency“);
5. Die Probleme bei der Umsetzung und weiteren technischen Detaillierung des generischen Designs 2001 in ausschreibungsreife Unterlagen;
6. Die verbesserten Kostenschätzungen für alle Komponenten inklusive realistischer Risiko-zuschläge;
7. Die Notwendigkeit höherer Ressourcen für die Qualitätssicherung und die Notwendigkeit von zusätzlichen Abnahmetests der einzelnen Komponenten vor Ort.
Zu Frage 3:
a. Die Partner (bzw. ihre Domestic Agencies - DA) sind nicht verpflichtet, ihre Kosten offen-zulegen. Daher kann mangels Daten von den 6 anderen ITER-Partnern keine Angabe gemacht werden. Die Partner stehen voll hinter der von der ITER-Organisation vorgelegten Zeitplanung für den ITER-Bau und damit auch zu den damit für sie verbundenen Kosten und Verpflichtungen zur in-kind Lieferung der diesen Partnerländern zugeteilten Kompo-nenten bzw. Zahlungen in-cash. Inoffiziell kursieren Gesamtkosten zwischen 11-15 Mrd. €, die jedoch bisher nicht verifiziert werden konnten. Aus den Erfahrungen Europas ist jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auch alle Partner von ähnlichen Kostensteigerungen betroffen sind.
b. Laut Kommission beträgt der EURATOM-Anteil 5,9 Mrd. € (in Preisen 2008, Stand 2010), falls die Gesamtkosten 7,25 Mrd. € betragen, entsprechend weniger, wenn die Kosten – wie von Österreich deutlich und wiederholt gefordert – auf 6,6 Mrd. € begrenzt werden.
c. Der österreichische Beitrag zur EU enthält keine Spezifizierung hinsichtlich eines Beitrags zu EURATOM (siehe auch Beantwortung der Frage 4).
d. 5.128 Mill. € (Preise 2008) – verglichen mit 1.735 Mill. € (2001).
e. Keine.
Zu Frage 4:
Zu
den Fragen 3 c. und 4. weise ich darauf hin, dass das so genannte
„EURATOM-Budget“ in der jüngsten Vergangenheit bereits
Gegenstand mehrerer parlamentarischer Anfragen war. Ich verweise insbesondere
auf die Beantwortung der Anfrage Nr. 909/J-NR/2009 XXIV. GP
(1001/AB) durch meinen Amtsvorgänger sowie auf die Beantwortung der Anfrage Nr. 1337/J-NR/2009 XXIV. GP (1379/AB) durch den Herrn Bundesminister für Finanzen. Diesen Dar-stellungen ist weiterhin nichts hinzuzufügen.
Zu Frage 5:
Nein.
Zu Frage 6:
Vom Rat Landwirtschaft und Fischerei wurden am 12. Juli 2010 im Hinblick auf das Juli-Treffen des ITER-Council „Schlussfolgerungen des Rates zum ITER-Projekt: aktueller Stand und Zukunftsperspektiven“ verabschiedet.
Zu Frage 7:
Im Beratenden Ausschuss für das Euratom-Programm (Fusion), in der Ratsarbeitsgruppe „Forschung/Atomfragen“ und in der ITER Task Force.
Zu Frage 8:
Bundesministerium für Finanzen, Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend und Bundes-ministerium für europäische und internationale Angelegenheiten.
Zu Frage 9:
Diese Fragestellung entzieht sich mangels konkreter Daten für die nächste finanzielle Vorausschau der EU ab 2014 und wegen der Zuständigkeit des BMF für die Finanzplanungen des Bundes im Hinblick auf den EU-Beitrag einer Beantwortung.
Zu Frage 10:
Dass es sich bei ITER um ein Vorhaben mit zweifelhaftem Erfolg handeln soll, entbehrt jeder wissenschaftlich-technischen Grundlage. Tatsächlich sind die Fortschritte zur Erzielung von fusionsrelevanten Parametern für die Plasmadichte und die Einschlusszeit in den letzten Jahrzehnten vergleichbar mit den Erfolgen zur Miniaturisierung von Halbleiterbauelementen (Moore’sches Gesetz). Was die Kosten betrifft, so ist zu bedenken, dass 1. Kosten über einen Zeitraum von etwa 13 Jahren angesprochen sind, und dass 2. praktisch alle Einzelkomponenten von ITER High-Tech-Produkte sind, die in dieser oder ähnlicher Form bisher noch nie von der Industrie gefertigt wurden.
Zu Frage 11:
Keine. Auf EU-Ebene wird es zu Umschichtungen kommen, die aber zu keinen Einschränkungen bei bestehenden Projekten führen.
Zu Frage 12:
Dass
das ITER-Projektmanagement neben all den Erfolgen auch Fehler gemacht hat, ist
heute unbestritten und wurde in einem internationalen Evaluierungsbericht
dokumentiert. Ent-sprechend wird die Ablöse des derzeitigen
ITER-Generaldirektors in Kürze erfolgen. Einer straffen Koordination durch
das ITER-Management steht zum Teil die gewählte Projekt-organisation mit
7 Partnern („Procurement sharing“) entgegen, die den
jeweiligen „Domestic Agencies“ weitgehende Freiheiten bei der
Bereitstellung der Komponenten einräumt. Es muss
jedoch festgehalten werden, dass gerade die Erstellung eines endgültigen,
zeitgemäßen und belastbaren Kostenplans für das ITER-Projekt in
den letzten drei Jahren zu den Hauptaktivitäten der ITER-Organisation
gezählt hat. EU-interne sowie internationale Evaluierungen der
Kostenplanungen haben zu einem weltweiten Konsens darüber geführt,
dass das Projekt mit dem vorliegenden Kostenrahmen realisiert werden kann.
Letzteres aber nur, wenn der Zeitplan eingehalten wird und keine weiteren
Verzögerungen entstehen.
Zu Frage 13:
Die Mitgliedstaaten haben sich in ihren aktuellen Diskussionen darauf verständigt, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen, indem zukünftig nach dem Prinzip „design follows costs“ vorzugehen ist. Sie gehen davon aus, dass die Begrenzung des Beitrags aus dem EU-Haushalt zu einer strengen Überwachung führt und – zusammen mit der jährlichen Berichtslegung hinsichtlich der Umsetzung des Kostenbegrenzungs- und -einsparungsplans – als ausreichen-der Anreiz für effizientes Management und Kostenbegrenzung wirkt. Weiters muss F4E dem Rat bis 26. November 2010 einen Plan vorlegen, wie die Kosten unter Berücksichtigung notwendiger unvorhersehbarer Ausgaben wirkungsvoll begrenzt und möglichst weitere Einsparungen erzielt werden sollen. Bei Bedarf wird Österreich seine Meinung wie bisher deutlich artikulieren und seine Entscheidungen von allen relevanten Fakten abhängig machen.
Zu Frage 14:
Österreich ist nicht in der Position, personelle Änderungen in der ITER-Organisation oder in F4E vorzunehmen, wird aber in allen EU-internen (Beratungs-)Gremien kritisch die Entwicklungen verfolgen und – unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses weltweit einmaligen Zukunftsprojekts – weiterhin sachlich gerechtfertigte Positionen und eine restriktive Kosten-kontrolle vertreten.
Zu Frage 15:
Ausstiegsklauseln, die bei Kostensteigerungen wirksam werden, sind nicht enthalten.
a. Die 7 Partner sind mit der festen Überzeugung der Machbarkeit in dieses Projekt gegangen.
b. Bei den enormen Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, um den ITER-Standort nach Europa zu holen, wäre aus damaliger Sicht eine Diskussion um Ausstiegsklauseln als kontraproduktiv und die Interessen Europas schädigend angesehen worden.
Zu Frage 16:
Das so genannte „Baseline Design“, das Ende Juli 2010 vom ITER Council beschlossen werden soll, beinhaltet die Grundzüge des Projekts, d.h. den Umfang (das endgültige Anlagendesign), den Zeitplan und die Kosten für den Bau von ITER. Im Falle der Zustimmung herrscht Konsens zwischen der ITER-Organisation und den 7 Domestic Agencies, dass das ITER-Projekt unter diesen Bedingungen realisiert werden kann.
Zu Frage 17:
Die Evaluierung der ITER-Agentur hat ergeben, dass primär interne Strukturen und Prozessabläufe zu optimieren sind, um dem wesentlichen Auftrag der Agentur, nämlich der Beschaffung und begleitenden Qualitätskontrolle der in-kind Komponenten für ITER, besser gerecht zu werden. Die Umsetzung der Empfehlungen wird derzeit durch den neuen Direktor von F4E implementiert.
Zu Frage 18:
Nein. F4E ist jedoch aktiv bemüht, nationale Organisationen und Interessenvertretungen optimal über die anstehenden Aufträge zu informieren. Zu diesem Zweck verfügt jedes Mitgliedsland über einen „Industrial Liaison Officer“. Im Falle Österreichs wird diese Rolle von der WKO wahrgenommen.
Zu Frage 19:
Die Reaktion auf berechtigte Kritik zeigt einerseits das hohe Verantwortungsbewusstsein aller Beteiligten und andererseits die Bereitschaft zur Neuausrichtung der Leitung der europäischen ITER-Agentur in der mehr industrie- und auftragsorientierten zweiten Phase von F4E. Zum RH-Bericht ist aber auch festzuhalten, dass das Europäische Parlament für das Haushaltsjahr 2008 dem Direktor im Mai 2010 mit 544 zu 31 Stimmen (64 Enthaltungen) die Entlastung erteilt und den Rechnungsabschluss gebilligt hat. Bei aller Sorge um das bestmögliche Funktionieren dieser Spezialeinheit im High-Tech-(Beschaffungs-)Bereich ist auch darauf zu verweisen, dass der Rechnungshof erklärt hat, er habe mit angemessener Sicherheit feststellen können, dass der Jahresabschluss für das Haushaltsjahr 2008 zuverlässig ist und die zugrunde liegenden Vorgänge rechtmäßig und ordnungsgemäß sind sowie, dass dem Direktor von Seiten des Aufsichtsgremiums von F4E Dank und Anerkennung für die geleistete Aufbauarbeit aus-gesprochen wurde (eine Aufbauarbeit, die im Zeitraum von etwa 2 Jahren zur Etablierung einer Organisation mit ca. 220 Mitarbeitern, zum überwiegenden Teil Spezialisten aus allen Mitgliedsländern der EU, geführt hat).
Zu Frage 20:
Österreich hat in die Task Force einen leitenden Beamten des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung mit langjähriger EU- und Verhandlungserfahrungen entsandt. Die Task Force hat Ende Juni ihre Arbeit beendet.
Zu Frage 21:
In den bereits erwähnten Schlussfolgerungen wird die EK aufgefordert, „zu gegebener Zeit“ einen Vorschlag vorzulegen. Dieser Vorschlag wurde von der EK am 21. Juli 2010 den Mitglied-staaten übermittelt, der aktuell von den haushaltsführenden Institutionen (Rat, Parlament) diskutiert wird.
Zu Frage 22:
Ein Darlehen erlaubt die Verteilung der Mittel über mehrere Jahre, verringert also aktuelle Finanzspitzen um den Preis zukünftiger Belastungen.
Zu Frage 23:
Aus Sicht des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung stellt ein EIB-Darlehen in erster Linie dann eine Möglichkeit zur Projektvorfinanzierung dar, wenn es in der Folge Gewinne zur Rückzahlung gibt. Aus österreichischer Sicht sollten die Mittel aus Umschichtungen des laufenden Finanzrahmens im EU-Haushalt aufgebracht werden.
Zu Frage 24:
Die Entscheidungen zur Aufbringung der benötigten Mittel für die Jahre 2012 und 2013 werden nach Vorschlag der EK entsprechend den Fristenläufen der EK, des Rates und des europäischen Parlaments erfolgen. Von der EK wurde ein Vorschlag am 21. Juli 2010 über-mittelt, der aktuell von den haushaltsführenden Institutionen (Rat, Parlament) diskutiert wird.
Zu Frage 25:
Der Rat hat mit Annahme der Schlussfolgerungen am 12. Juli 2010 die Kommission beauftragt, beim ITER-Rat im Juli die Grundzüge des ITER-Projekts zu billigen. Nach Vorlage eines Finanzierungsvorschlags durch die EK, ist dieser von der Haushaltsbehörde (ECOFIN-Rat und Budgetausschuss des EP) zu genehmigen. Beratungen wurden im EU-Unterausschuss des Nationalrates am 29. Juni 2010 zu ITER vorgenommen; der Ausschuss hat von einer schriftlichen Stellungnahme an die EK (im Rahmen des neuen Lissabon-Vertrages) abgesehen.
Zu Frage 26:
Es gibt in Europa keine Ortsteams der ITER-Organisation, deshalb auch nicht in Österreich.
Zu Frage 27:
Die europäischen Aufträge werden in der Regel an Firmenkonsortien vergeben, die üblicher-weise Firmen aus verschiedenen Mitgliedsländern umfassen. Konkrete Aufträge sind bisher an zwei Firmen ergangen. Weitere Firmen haben sich an Ausschreibungen beteiligt, sind aber im Wettbewerb nicht zum Zuge gekommen.
Zu Frage 28:
Erste Experimente sind für Dezember 2019 vorgesehen. Der reguläre Forschungsbetrieb mit D/T-Plasma soll 2026 aufgenommen werden. Die Nutzung von ITER ist für einen Zeitraum von 20 Jahren geplant.
Zu Frage 29:
ITER ist der entscheidende nächste Schritt zur Demonstration der technischen Machbarkeit der Energiegewinnung aus Kernfusion auf der Erde. Die Anlage soll einen 10-fachen Energiegewinn – verglichen mit der benötigten Energie zur Einstellung der erforderlichen Plasmabedingungen – liefern. Zudem sind essentielle Erkenntnisse der Plasmaeigenschaften, des Brennstoffzyklus sowie der gesamten (Hoch-)Technologie zu erwarten, die die Voraussetzung für die parallele Entwicklung und gegebenenfalls den späteren Bau von Folgeanlagen, die Strom an das Netz liefern sollen, schaffen.
Die Bundesministerin:
Dr. Beatrix Karl e.h.