18.43

Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ, Wien): Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Es ist gut, dass wir mit Ihnen heute etwas klären können. Das eine betrifft diese Bundesregierung und die parlamentarischen Institutionen.

Wir haben seit einigen Monaten nicht nur das Gefühl, sondern auch die Tatsache, dass ein Minister und eine Ministerin nach der anderen nicht hier im Bundesrat erscheint, sondern sich entschuldigt. (Bundesrätin Steiner-Wieser: Nur drei!) Ich meine, unsere Plenarsitzungen des Bundesrates sind lange im Vo­raus bekannt.

Das Nächste: Sie waren vielleicht zu kurz Abgeordneter, bevor Sie in Ministerfunktion gekommen sind, aber eines der allerwichtigsten Rechte von Abgeordneten ist das Interpellationsrecht, das Recht, Fragen stellen zu können. Wir haben in den letzten drei Jahren ganze zwei Minister gehabt – einmal Minister Anschober, einmal Minister Kocher –, die zu einer Frage­stunde hierhergekommen sind. An sich sollte jede Plenarsitzung mit einer Fra­gestunde beginnen. Diese Regierung verweigert das Interpellationsrecht der Abgeordneten. (Beifall bei der SPÖ. – Bundesrat Tiefnig: Nein, das ist eine Prä­sidiumsfrage! Stefan, das weißt du!)

Deshalb haben wir das heute auch unterstützt, da wir geschockt waren, dass eine Aktuelle Stunde einfach gestrichen wird. Niemand kann verhindern, dass jemand krank ist – dafür gibt es auch volles Verständnis –, nur fügen sich diese heutige Krankheit und die Streichung der Aktuellen Stunde in eine endlos lange Reihe von Missachtungen des Parlamentarismus ein; deshalb war das Notwehr.

Ich stehe nicht an zu sagen, dass es gut ist, dass Sie diesem parlamentarischen Brauch, eine Dringliche Anfrage zu beantworten, heute auch nach einem mühsamen Untersuchungsausschuss gefolgt sind, denn das ist Parlamentaris­mus: Eine Regierung hat sich gegenüber dem Parlament zu verantworten. (Beifall bei der SPÖ sowie des Bundesrates Steiner.)

Natürlich, Herr Bundeskanzler, sind meine Fragen an Sie ganz andere als die, die bisher gestellt wurden. Ich sage das ganz offen. – Ich bedaure sehr, Kollege Leinfellner, dass Sie hier fast schon ein wenig einer Verhetzung das Wort gere­det haben – nämlich damit, Menschenketten an Grenzen zu bilden –, also denken Sie einmal nach, was Sie hier gesagt haben!

Ich glaube, den Menschen brennt es derzeit wirklich unter den Nägeln, Herr Bundeskanzler, und ich möchte Ihnen eine Empfehlung geben, soweit ich das überhaupt darf.

Wir hatten hier gestern eine parlamentarische Enquete, und ich glaube, uns ist allen ganz kurz das Herz stehengeblieben, als Frau Mag. Doris Anzengruber von der Caritas Wien über Familienarmut und Kinderarmut gesprochen hat. Vielleicht könnten Sie diese Frau Anzengruber und in Begleitung die Dame, die hinter Ihnen sitzt, Frau Daniela Gruber-Pruner, einladen, denn die können Ihnen etwas zu der derzeitig grassierenden aktuellen Kinderarmut in unserem Land erzählen. Ich glaube, es wäre auch als Bundeskanzler wichtig, zu wis­sen, welche Form und welches Ausmaß Kinderarmut in Österreich bereits an­genommen hat.

Wir können vieles diskutieren, aber Kinderarmut ist in etwa das Schlimmste, was passieren kann. Kinderarmut heißt dann immer Familienarmut, das heißt Exis­tenzgefährdungsängste.

Herr Bundeskanzler, das war jetzt eine Empfehlung an Sie, Sie müssen dem auch überhaupt nicht folgen, aber ich bitte Sie, zu hören, dass Ihnen jetzt nicht nur eine politische Fraktion sagt, dass die Kinderarmut in diesem Land sehr, sehr schlimm aussieht, sondern das sagen auch andere. Die Vertreterin der Caritas Wien hat das gestern genau hier an diesem Rednerpult in einer für mich beein­druckenden und erschütternden Weise gesagt.

Mich interessiert ja viel weniger, was hier heute über die Geschichte der Coro­napandemie diskutiert wurde, sondern was wir haben, ist die explodierende und galoppierende Inflation, die die Menschen an den Rand des Existenziellen bringt, die auch Betriebe an den Rand des Existenziellen bringt. Wir haben Gas- und Energiepreise, die einfach nicht mehr in den Griff zu bekommen sind. Die Regierung zögert, was den Gaspreisdeckel betrifft, sie zögert, was einen Eingriff bei den Übergewinnen und Zufallsgewinnen betrifft. Da müssen wir einen Ausgleich in der Gesellschaft finden, so wie es die deutsche Regie­rung derzeit mit dem Gaspreisdeckel macht. Das geht nicht an, wir können nicht anders. Wenn wir unsere Wirtschaft nicht schädigen wollen, müssen wir da Schritt um Schritt ähnliche Wege gehen.

Ich weiß, wir haben derzeit multiple Krisen zu bewältigen. Wir haben mitten in Europa einen Krieg. Niemand hätte mehr gedacht, dass die Nachkriegs­ordnung Europas, die Ordnung der OSZE und der Helsinkischlussakte durch einen Angriffskrieg jemals dermaßen auf den Kopf gestellt wird und dass wir wieder so einen Krieg erleben müssen. Wir haben zwar an unseren Grenzen einen Krieg, sozusagen einen Jugoslawiennachfolgekrieg, erlebt, aber was sich derzeit in der Ukraine abspielt, ist unfassbar.

Ich sage Ihnen hier von diesem Rednerpult aus, Herr Bundeskanzler: Alle solidarischen Schritte, die Österreich da setzt, sind richtig. Wir sollen nicht Opfer und Täter verwechseln. Es gibt klare Opfer, und die Regelung, Menschen aus der Ukraine – es sind hauptsächlich Frauen mit Kindern – aufzunehmen, ih­nen eine Chance zu bieten, Solidarität zu leben, ist richtig und wichtig als eine europäische Zusammenarbeit.

Es war wichtig, dass wir Ambulanzwägen zur Verfügung gestellt haben, dass die Stadt Wien zum Beispiel die Einrichtung für zwei Spitäler gespendet hat. All das ist wichtig und hilft auch den Menschen in dieser extremen Not. Wir alle können uns nicht vorstellen, was Krieg auslöst und welche Not Krieg bewirkt.

Die multiple Krise heißt natürlich explodierende Energiepreise, die extreme Inflation und auch noch die Aufarbeitung der Pandemiezeit. Da, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ist die Hilfe für die Städte und Gemeinden, die diese Bundesregierung leistet, zu wenig. Es geht darum, den Menschen genau dieses Gefühl zu geben, aufgehoben zu sein, jene offenen Hände zu finden, die die Städte und Gemeinden in solchen Krisenzeiten den Menschen bieten kön­nen, das können nämlich nur die Städte und Gemeinden, und da leistet die Regierung zu wenig, um die Städte und Gemeinden bei den unmittelbaren Auf­gaben der Daseinsvorsorge kräftig zu unterstützen. (Beifall bei der SPÖ.)

Auch wenn die Regierung die Valorisierung vieler Sozialleistungen beschlossen hat, was richtig ist, ist ein Punkt offen, Herr Bundeskanzler: Wo bleibt die Erhöhung des Arbeitslosengeldes? (Bundesrat Preineder: Wir haben Vollbeschäf­tigung!) Gerade in einer Zeit der Inflation, in einer Zeit der Preistreiberei: Warum verschließen Sie und diese Bundesregierung sich noch immer beim Ar­beitslosengeld?

Zweitens: Wann fordern Sie die Mittel aus der Überförderung durch die Cofag zurück? (Beifall bei der SPÖ.) Da sind klare Überförderungen, die wir ja mitt­lerweile alle kennen, passiert. (Bundesrat Preineder: Beispiel?)

Wenn ich mir all diese Maßnahmen der Regierung in dieser multiplen Krise anschaue – und da kommt jetzt unsere Kritik –, dann finde ich, sie sind nicht nachhaltig, wenig wirksam und vielfach überhaupt nicht durchdacht.

Deshalb, Herr Bundeskanzler: Wann setzen Sie eine Preisüberwachung in Kraft, wie es das Gesetz auch vorsieht? Es gibt in vielen Bereichen unfassbare Preisausreißer, und Sie haben die Möglichkeit – die Bundesregierung hat diese Möglichkeit; reden Sie mit Ihrem Arbeitsminister, mit Ihrem Wirtschafts­minister! –, eine Preisüberwachung - - (Die Bundesrätinnen Hahn und Prischl sprechen miteinander.) – Bitte? Ich habe mir gedacht, Frau Kollegin Hahn hilft mir jetzt noch bei ein paar weiteren Dingen, aber das muss ja nicht sein. (Heiterkeit.)

Wissen Sie, jetzt kommen wir noch zur Anständigkeit, Herr Bundeskanzler, die mir persönlich in der Politik immer wichtig ist. Herr Schmid – Sie kennen ihn – macht eine Aussage. Diese Aussage wird publik. Genau an demsel­ben Wochenende werden auf einmal in österreichischen Dörfern und Städten Zelte aufgestellt. Ein Schelm, der etwas anderes denkt als: eine große Ab­lenkung von den Inhalten einer Aussage, die sehr unangenehm war. (Bundesrat Preineder: In Niederösterreich wird der Wahltermin bekannt, und die Frau Landeshauptmann wird eingeladen!) – Na, die Zelte hat der Innenminister veran­lasst, lieber Kollege Preineder. (Bundesrat Preineder: Ja, aber die Ladung der Frau Landeshauptfrau von Niederösterreich ist ...!) Wie durch ein Wunder hat man plötzlich über die Zelte diskutiert und nicht über die Aussagen des Herrn Schmid. (Bundesrat Preineder: So einfach geht das?) – Ja, ihr macht das ja, das ist ja eure Messagecontrol.

Herr Kollege Preineder, jetzt wundere ich mich langsam. Du sitzt da in der ersten Reihe, schmunzelst wie das Christkindl, das gerade etwas getan hat, und tust so, als ob du kein Wässerchen trüben könntest, und das als jemand, der von der ÖVP Niederösterreich kommt. (Bundesrätin Eder-Gitschthaler: Was heißt das? Ist das schlecht? – Bundesrat Preineder: Was heißt das?) Also das kann ich mir schon überhaupt nicht vorstellen.

Noch einmal zurückkommend: Herr Bundeskanzler, Sie wissen, das ist eine Ablenkung.

Und jetzt komme ich zu Ihrem Fraktionsvorsitzenden. Heute hat hier eine große Mehrheit die Achtung der Europäischen Menschenrechtskonvention be­schlossen. Diese Diskussion über die Europäische Menschenrechtskonvention, Herr Bundeskanzler, ist auch so eine Ablenkung. Das hat mit Asyl und Fremden gar nichts zu tun. Da geht es nämlich um die Rechte aller Europäer und Europäerinnen, ob jung oder alt und wo immer sie in den Mitgliedstaaten des Europarates leben. Es sind unsere Menschenrechte, die seit 1950 in dieser Konvention niedergeschrieben sind, die unterzeichnet wurden, die von allen Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert wurden und die Verfassungsrang haben.

Da kann nicht der kleine Gusti Wöginger herkommen (Heiterkeit bei Bundesrät:in­nen der SPÖ – Bundesrat Preineder: Hallo! Hallo!) und sagen: Jetzt diskutieren wir da ein bisschen weiter!, weil jedes einzelne Mitgliedsland das in den Verfas­sungsrang genommen hat. Niemand ist neugierig darauf, was dazu aus Österreich kommt. Es geht nur darum, dass man ein bisschen von der Migra­tionsfrage ablenkt. (Beifall bei der SPÖ.)

Unsere Position in der Migrationsfrage ist sehr, sehr klar: Integration vor Zuzug! Allerdings muss Zuzug auch möglich sein, und die Integration muss ernst sein. Deshalb haben wir zum Beispiel in Wien die Wiener Charta entwickelt, in der wir sagen, ab einem bestimmten Zeitpunkt muss es eine Erleichterung auf dem Weg zur Staatsbürgerschaft geben. (Bundesrat Spanring: Ja, natürlich, damit sie euch wählen können, weil ihr sie vorher subventioniert habt, und jetzt können sie euch wählen!) Es kann doch nicht angehen, dass ein Drittel der Bewohner ei­ner Stadt kein Wahlrecht hat. Das geht ja nicht (Bundesrat Spanring: Genau! Das geht nicht!), das klafft dermaßen auseinander. (Beifall bei der SPÖ.)

Das heißt: Integration in allen Bereichen des Lebens! Deshalb: Wenn Menschen bei uns wohnen, die wir auch dringend brauchen – wir haben zu wenige Menschen, die Facharbeiter sind, und so weiter und so fort. (Zwischenruf der Bundesrätin Schartel.) – Ja, schreit nur weiter! Die Deutschen sind derzeit sehr froh, dass sie eine solche Zuwanderung und Migration haben. Allerdings muss man sehr viel tun, um eine Vertiefung der Integration herbeizuführen, und darf nicht nur über die Menschen reden, die vor der Türe stehen. (Zwischen­rufe der Bundesrät:innen Spanring und Steiner-Wieser.)

Asyl ist ein Menschenrecht; wir haben auch die Genfer Flüchtlingskonven­tion unterschrieben, und solange die Bundesregierung es nicht schafft, endlich ein Klimaschutzgesetz auf die Reihe zu bringen, wird der Druck auf alle In­dustrieländer, was Klimaflüchtlinge betrifft, enorm wachsen.

Herr Bundeskanzler, als letzten Punkt, wir haben ja nicht sehr oft die Möglich­keit, darf ich noch etwas an Sie persönlich richten: Österreich ist nicht gerade ein Land mit einer extrem großen Medienvielfalt. Es gibt eine Qualitätszeitung, die Sie derzeit töten wollen, das heißt einstellen wollen. Das ist die „Wiener Zei­tung“. (Heiterkeit bei Bundesrät:innen der ÖVP.) Wir ersuchen Sie dringend, die älteste, die am längsten erscheinende Tageszeitung der Welt weiter erschei­nen zu lassen, so wie es auch alle Religionsgemeinschaften dieses Landes von Ihnen gefordert haben. – Danke sehr. (Beifall bei der SPÖ sowie des Bundes­rates Arlamovsky.)

19.00

Präsidentin Korinna Schumann: Zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Schreu­der. – Bitte.