RN/84
15.35
Bundesrätin Mag. Daniela Gruber-Pruner (SPÖ, Wien): Hohes Präsidium! Sehr geehrter Herr Minister! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuseher:innen zu Hause via Livestream! Als Vorsitzende des Kinderrechteausschusses im Bundesrat möchte ich natürlich zu diesem Thema, das meine Kollegin schon sehr umfangreich ausgeführt hat – danke, Andrea, auch für deine Initiativen in diesem Bereich –, noch einmal auf diese Situation und vor allem auf diesen Verstoß gegen so viele Rechte von Kindern und gegen ihre Kinderrechte Bezug nehmen. Gerade heute, am 8. Mai, am Tag der Befreiung, am Tag, als in Österreich vor 80 Jahren endlich wieder Frieden einkehrte – also es war natürlich in dieser Situation noch kein Frieden, aber es war der erste Schritt zum wiedererlangten Frieden –, gerade an so einem Tag hat dieser Antrag, oder diese Initiative, die wir heute miteinander beschließen, eine besondere Bedeutung.
Ich bin sicher, wir sind uns da alle einig: Krieg ist niemals ein Ort und niemals eine Zeit, in der man eine Kindheit verbringen soll. Kindheit soll geprägt sein von Sicherheit, von Freude, von Unbeschwertheit, von Gesundheit, Spiel, Spaß. Krieg verstößt gegen all diese Dinge, gegen alle Kinderrechte. Sowohl das Leben im Krieg als auch die Flucht vor diesem Krieg sind furchtbar. Diesem besonderen Phänomen, dem sich dieser Antrag widmet, nämlich der Verschleppung von Kindern, möchte ich jetzt auch mein Augenmerk widmen.
Diese Kinder werden verschleppt, zum Teil direkt aus Waisenhäusern. Es sind also Kinder, die bereits keine Eltern mehr haben und dementsprechend wenig Schutz haben. Sie wurden zum Teil direkt aus Ferienlagern abgeholt und konnten nicht mehr nach Hause kommen; und sie werden ganz gezielt von ihren Familien in den Kriegsgebieten getrennt.
In Russland oder in den besetzten Gebieten werden sie dann Pflegefamilien angeboten; sie werden zur Adoption freigegeben; sie werden russifiziert; und je länger diese Situation andauert, desto schwieriger wird es natürlich auch für diese Kinder, ihre Identität zu erfassen. Sie bekommen neue Namen, sie bekommen neue Pässe, sie verlieren ihre ursprüngliche Identität. Andrea hat es bereits gesagt: Wir reden hier von 19 000 oder 20 000 Kindern, von denen man es bisher weiß, die derzeit verschleppt sind und keinen Kontakt zu ihren Familien, keinen Kontakt zu ihrer Herkunft haben. All das verstößt natürlich ganz offensichtlich gegen die UN-Kinderrechtskonvention.
Ich möchte an ein paar Artikeln noch einmal verdeutlichen, welche Kinderrechte alle gebrochen werden: Es gibt ein dezidiertes Recht auf Schutz vor Entführung, Verkauf und Handel. Das ist Artikel 35 der Kinderrechtskonvention, in der sich alle Vertragsstaaten verständigt haben, „alle geeigneten innerstaatlichen [...] Maßnahmen“ zu treffen, „um die Entführung“, „den Verkauf“ und „den Handel mit Kindern zu irgendeinem Zweck und in irgendeiner Form zu verhindern“. – Das ist natürlich der direkteste Bezug zu dieser Verschleppung.
Ein zweiter Artikel, 7, und auch der Artikel 8 benennen das Recht auf Identität und familiäre Beziehungen. Da geht es darum, einen Namen zu haben, eine Staatsangehörigkeit und die Kenntnis, wer die Eltern sind. Weiters geht es da um den Schutz der Identität im Sinne der Staatszugehörigkeit und der familiären Bindungen. Auch diese Artikel werden direkt gebrochen. Diese Kinder haben wahrscheinlich, je länger die Situation andauert, umso mehr Probleme, ihre ursprüngliche Identität möglicherweise wieder anzunehmen.
In den Artikeln 38 und 39 der Kinderrechtskonvention geht es um den Schutz von allen Kindern bei Krieg und bei bewaffneten Konflikten. Kinder müssen also in bewaffneten Konflikten speziell geschützt werden, müssen vor Vernachlässigung und Ausbeutung geschützt werden und haben auch Anspruch auf Rehabilitation.
Es gibt den Artikel 9, der das Recht auf elterliche Fürsorge und den Schutz vor Trennung benennt. Auch der zielt offensichtlich in diese Richtung.
Ich möchte noch einen Artikel erwähnen, der möglicherweise selbst in Friedenszeiten nicht immer berücksichtigt wird, aber in Kriegssituationen noch viel weniger. Das ist der Artikel 12, das Recht auf Meinungsäußerung und Beteiligung. Wir können uns vorstellen, dass diese Kinder nie gefragt wurden, wo sie leben wollen und mit welcher Familie sie leben wollen. Diese Mitsprache ist systematisch abgebrochen.
Das heißt, diese Verschleppungen sind nicht nur ein individuelles Verbrechen gegen die Menschlichkeit dieser einzelnen Kinder, sondern sie sind tatsächlich ein schwerwiegendes humanitäres und völkerrechtliches Problem. Es wurde auch schon von der OSZE als Kriegsverbrechen benannt, und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bereits Haftbefehle ausgesprochen.
Wichtig ist – und da kommen NGOs und andere Behörden ins Spiel –, dass alles, was möglich ist, dokumentiert wird, dass versucht wird, Daten zu erfassen, wo es möglich ist, damit einerseits Strafen bei den Kriegsverbrechern erfolgen können und andererseits möglichst bald diesen einzelnen Fällen nachgegangen werden kann.
Wir haben als Österreichische Kinderfreunde im letzten Sommer – wir werden das auch heuer wieder tun, und viele andere NGOs und Initiativen sind aufgefordert, das auch zu tun – Frauen und Kinder aus der Ukraine für ein paar Wochen nach Österreich geholt, weil es in solchen Kriegssituationen auch darum geht, zwischenzeitlich Erholung von diesem Alltagsstress, dem diese Menschen ausgesetzt sind, zu schaffen.
Wir hören von diesen Familien unter anderem auch, dass der Unterricht unterirdisch abgehalten wird. Sie haben bestimmt schon davon gehört: Es werden jetzt tatsächlich neue Schulen unterirdisch gebaut, nach bestem Wissen und Gewissen. Man muss sich vorstellen, was das mit Kindern und den Lehrpersonen macht, wenn Kinder stunden- oder tagelang ohne Tageslicht unter der Erde beschult werden müssen – was das für eine Situation ist.
Diese Frauen schildern uns: Jeden Morgen, wenn sie die Kinder losschicken, beten sie zum Himmel, dass sie ihre Kinder am Abend wiedersehen. Ich glaube, wir können es uns nicht wirklich vorstellen, aber Sie alle kennen diese Berichte. Wenn diese Frauen und Kinder einige Tage in Österreich ein bisschen Erholung finden, dann, glaube ich, sind wir ihnen das, zumindest diesen Puzzleteil, schuldig.
Ein letztes Thema möchte ich noch anbringen: Wir sind zurzeit auch damit konfrontiert, dass viele Kinder aus der Ukraine bereits mehrere Jahre hier in Österreich leben, zum Teil auch Waisenkinder, die in der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht werden. Da wird gerade debattiert, welches Recht wichtiger ist: Sollen diese Kinder jetzt wieder zurück in die Ukraine gebracht werden, um ihre Identität, ihre Heimat erleben zu können, um dort Anschluss finden zu können, oder darf man Kinder, die jetzt gerade in einem friedlichen Land leben, eigentlich nicht in ein Kriegsgebiet schicken?
Das ist, wie gesagt, eine Debatte, die uns in der Kinder- und Jugendhilfe gerade beschäftigt. Da gibt es keine einfache Antwort, denn die Frage, ob man Kinder in ein Kriegsgebiet schicken kann, ist eine sehr schwierige. Dieser Krieg dauert schon über drei Jahre, und wir fragen uns: Wann kann man diese Kinder wieder guten Gewissens zurückschicken?
Ich bin deshalb sehr froh, dass wir heute diese gemeinsame Initiative hier beschließen werden. Ich danke auch der Frau Ministerin, die heute nicht hier ist, für ihre Bemühungen in diesem Bereich. Ich denke, jede kleinste Bemühung ist es wert, dass wir sie treffen. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam diese sofortige Rückführung all dieser verschleppten Kinder einfordern und vor allem auch die strafrechtliche Verfolgung aller Verantwortlichen. – Herzlichen Dank. (Beifall bei SPÖ, ÖVP und Grünen sowie der Bundesrätin Sumah-Vospernik [NEOS/W].)
15.45
Vizepräsident Michael Wanner: Danke schön.
Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Sandra Jäckel.