10837 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Bundesrates
Bericht
des Justizausschusses
über den Beschluss des Nationalrates vom 16. Dezember 2021 betreffend ein Bundesgesetz, mit dem ein Sterbeverfügungsgesetz erlassen wird sowie das Suchtmittelgesetz und das Strafgesetzbuch geändert werden
Hauptgesichtspunkte des Beschlusses:
A) Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs
Mit Erkenntnis vom 11.12.2020 zu G 139/2019 hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) die Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ in § 78 StGB mit Wirkung ab 1.1.2022 als verfassungswidrig aufgehoben. Bis zu diesem Zeitpunkt ist es strafbar, jemandem bei dessen Selbsttötung Hilfe zu leisten. Das Verbot, jemanden auf dessen Verlangen zu töten (§ 77 StGB), und auch das weiter gehende Verbot, jemanden dazu zu verleiten, sich selbst zu töten (§ 78 erster Fall StGB), hat der Gerichtshof nicht angetastet; die darauf gerichteten Anträge hat er zurückgewiesen. Er hat auch darauf hingewiesen, dass seine Überlegungen zur Verfassungswidrigkeit des § 78 zweiter Fall StGB nicht ohne weiteres auch für das Verbot der Tötung auf Verlangen gelten.
Der VfGH hat das in seinem Erkenntnis vom 11.12.2020 zentrale Recht auf freie Selbstbestimmung aus der Bundesverfassung in dieser Form erstmals ausdrücklich herausgearbeitet, wenn auch die Herleitung, nicht die Garantie eines solchen Rechts neu ist (Khakzadeh, RdM 2021, 48 [50]). „Freiheit“ und „Gleichheit“ werden durch Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) und Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) sowie den Gleichheitssatz (Art. 2 StGG und Art. 7 Abs. 1 B-VG) konkretisiert, aus dem der VfGH auch das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf freie Selbstbestimmung ableitet, das wiederum sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das „Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“ umfasst (VfGH G 139/2019 Rz 65; Khakzadeh, RdM 2021, 48 [50]; Gamper, JBl 2021, 137 [141]).
Da die Strafbarkeit einer Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) nicht angetastet wurde, beschränkt sich der vorliegende Beschluss allein auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen es künftig zulässig sein soll, jemandem bei seinem Suizid Hilfe zu leisten. Die Befürchtung, dass die Entscheidung des VfGH und der darauf aufbauende Beschluss zu einem verwerflichen Umgang mit kranken Menschen oder Menschen mit Behinderung führen werden, erscheint unter diesem Aspekt nicht gerechtfertigt: Denn in Ländern, die sowohl die Tötung auf Verlangen als auch die Suizidassistenz erlauben, wird die Tötung auf Verlangen ungleich häufiger durchgeführt. Und obwohl die Häufigkeit der Tötung auf Verlangen in den Niederlanden und Belgien in den letzten Jahren signifikant gestiegen ist, bleibt der assistierte Suizid in diesen Ländern weiterhin eine Seltenheit (Borasio ua, Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben² [2020] 69). Rechtlich, medizinisch und ethisch besteht ein gravierender Unterschied zwischen der Tötung einer anderen Person auf deren Verlangen und ihrer Unterstützung bei der freiverantwortlichen Selbsttötung: Dort stirbt eine sterbewillige Person von fremder Hand, hier wird ihr durch die Verschaffung einer tödlichen Substanz geholfen, wobei sie die Tatherrschaft (Handlungskontrolle) behält und ohne ihre notwendige letzte Handlung nicht sterben würde.
Dass sich der Beschluss auf die Regulierung der Suizidassistenz beschränkt, kann dazu führen, dass Menschen, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu töten, in ihrem Wunsch, ihr Leben zu beenden, nicht unterstützt werden können. Das nimmt der Beschluss in Kauf, um die Probleme zu umgehen, die mit einer Erweiterung der Suizidassistenz auf Fälle der Tötung auf Verlangen verbunden wären. Der vorliegende Beschluss will weiters nur solche Fälle der Suizidassistenz regeln, in denen der Suizident oder die Suizidentin auch im Zeitpunkt seines/ihres Todes entsprechend entscheidungsfähig ist. Wenn eine nicht ausreichend entscheidungsfähige Person bei der Beendigung ihres Lebens unterstützt wird, kann damit aus strafrechtlicher Sicht die Grenze zum Fremdtötungsdelikt überschritten werden. Im Übrigen ist es ein zentrales Anliegen des Beschlusses, das vom VfGH in das Zentrum seiner Erwägungen gestellte Grundrecht auf Selbstbestimmung auszuführen und gegen damit allenfalls verbundenen Missbrauch abzusichern (siehe Punkt B.b.).
B) Diskussion über eine Nachfolgeregelung – das Dialogforum Sterbehilfe
Um die Auswirkungen des Erkenntnisses und den daraus für den Gesetzgeber erzeugten Handlungsbedarf auszuloten, veranstaltete das Bundesministerium für Justiz zwischen 26. und 30.4.2021 ein Dialogforum. Dazu waren insbesondere Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft, der Bioethikkommission, von Kirchen und Religionsgemeinschaften, von Organisationen, Kammern und Berufsgruppen, die mit dem Thema des Wunsches nach einer selbstbestimmten Lebensbeendigung konfrontiert sind oder sein könnten, der Rechtsberufe und der Befürworterinnen und Befürworter des assistierten Suizids eingeladen. Die Diskussion wurde anhand von einigen Themenkreisen strukturiert, die nachstehend angeführt werden. Parallel wurden auch alle übrigen Interessenten und Interessentinnen dazu aufgerufen, gegenüber dem Bundesministerium für Justiz Stellung zu nehmen. Daraufhin langten 85 schriftliche Stellungnahmen ein, davon 50 von Privatpersonen und 35 von Einrichtungen und Organisationen, die teilweise auch an den Gesprächen im Dialogforum beteiligt waren. Die Zusammenfassung der Diskussionen und der eingelangten Stellungnahmen wurden am 28.6.2021 auf der Webseite des Bundesministeriums für Justiz veröffentlicht. Der vorliegende Beschluss nimmt auf die Ergebnisse dieses Dialogforums sowie anderer nach Veröffentlichung der Entscheidung des VfGH durchgeführter Veranstaltungen, wie zum Beispiel die vom Institut für Ethik und Recht in der Medizin (IERM) der Universität Wien veranstaltete Tagung „Beihilfe zum Suizid“ am 22.4.2021 samt des anschließenden „Human Rights Talk“ des Ludwig Boltzmann-Instituts für Menschenrechte, ebenso wie auf die sehr lebhafte und kontroverse wissenschaftliche Diskussion der Entscheidung des VfGH Bedacht. Das Dialogforum diskutierte am 29.10.2021 noch einmal über konkrete Fragen des Begutachtungsentwurfs.
Der Justizausschuss hat den gegenständlichen Beschluss des Nationalrates in seiner Sitzung am 20. Dezember 2021 in Verhandlung genommen.
Berichterstatter im Ausschuss war Bundesrat Ernest Schwindsackl.
Gemäß § 30 Abs. 2 GO-BR wurde beschlossen, Bundesrat MMag. Dr. Karl-Arthur Arlamovsky mit beratender Stimme an den Verhandlungen teilnehmen zu lassen.
An der Debatte beteiligten sich die Mitglieder des Bundesrates Mag. Elisabeth Grossmann, MMag. Dr. Karl-Arthur Arlamovsky, Mag. Franz Ebner, Dr. Peter Raggl und Stefan Schennach.
Bei der Abstimmung wurde mit Stimmenmehrheit beschlossen, gegen den Beschluss des Nationalrates keinen Einspruch zu erheben (dafür: V, S, G, dagegen: F).
Zum Berichterstatter für das Plenum wurde Bundesrat Ernest Schwindsackl gewählt.
Der Justizausschuss stellt nach Beratung der Vorlage mit Stimmenmehrheit den Antrag, gegen den vorliegenden Beschluss des Nationalrates keinen Einspruch zu erheben.
Wien, 2021 12 20
Ernest Schwindsackl Claudia Hauschildt-Buschberger
Berichterstatter Vorsitzende