1164/J-BR
DRINGLICHE ANFRAGE
der Bundesräte Dr. Kapral, Dr. Bösch und
Kollegen
an den Bundeskanzler
betreffend Aushöhlung des Föderalismus
Die von der Bundesregierung seit 1989 angestrebte
Teilnahme Österreichs an der europäischen
Integration hat in den mit 1. Jänner 1995 erfolgten
Beitritt Österreichs zur Europäischen Union
gemündet. Seit Beginn der Integrationsbemühungen
war unbestritten, daß die damit
verbundene Verlagerung von Kompetenzen an Unionsorgane
auch eine zeitgemäße
Neuordnung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung
zwischen dem Bund und den Ländern
nach sich ziehen müsse. Im sogenannten Perchtoldsdorfer
Übereinkommen vom Oktober 1992
wurden deshalb zwischen dem Bundeskanzler als Vertreter
des Bundes und dem damaligen
Landeshauptmann von Niederösterreich als Vertreter
der Länder eine ''große
Bundesstaatsreform" paktiert und in der Folge
eine entsprechende Regierungsvorlage ( 14
BlgNR XIX. GP, Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1994)
sowie entsprechende
Änderungen des Finanz-Verfassungsrechtes (15
BlgNR XIX. GP) ausgearbeitet.
lm Zuge der parlamentarischen Beratungen wurde die
Bundesstaatsreform durch
föderalismusfeindlichc Anreicherungen geradezu
ein Modell zentralistischer
Staatsvorstellungen, weshalb die Länder ihre
ursprüngliche Zustimmung zurückzogen. ln der
Sitzung des Verfassungsausschusses des Nationalrates
vom 14. Dezember 1994 wurde die
Beratung über die Bundesstaatsreform daher vertagt
und während der gesamten XIX.
Gesetzgebungsperiode nicht wieder aufgenommen.
In der nunmehrigcn XX. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates
wurden die erwähnten
Gesetzesanträge von der Bundesregierung neuerlich
eingebracht. Der Bundeskanzler hat in der
Beantwortung der schriftlichen parlamentarischen
Anfrage Nr. 503/J erklärt, daß die
Fragestellung von der unzutreffenden Auffassung ausgehe,
daß es Sache der Vollziehung sei,
einen Konsens "über einen neuen Entwurf
einer Bundesstaatsreform herzustellen'' und
allenfalls "die Oppositionsparteien bereits
im vorparlamentarischen Raum in die Beratungen
einzubeziehen". Dem gegenüber erinnere
er daran, daß die Regierungsvorlage betreffend eine
derartige Bundes-Vcrfassungsgesetz-Novelle dem Nationalrat
bereits zur verfassungsmäßigen
Behandlung vorliege und damit grundsätzlich
der Ingerenz der Vollziehung entzogen sei.
Dieser Aussage ist zu entnehmen, daß der Bundeskanzler
ungeachtet des Umstandes, daß der
vorliegende Entwurf einer Bundesstaatsreform als
gescheitert zu betrachten ist, nicht bereit ist,
diesbezüglich neue Initiativen zu ergreifen.
Der Beitritt Österreichs zur Europäischen
Union hat tatsächlich zu einer Verlagerung zahlreicher
und erheblicher Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenzen
an deren Organe bewirkt. Davon
sind insbesondere die Gesetzgebungskompetenzen sowohl
des Bundes als auch der Länder
betroffen.
Vor dem Hintergrund des Umstandes, daß die
Gesetzgebungskompetenzen der Länder bereits in
der Vergangenheit bei Novellierungen der Bundesverfassung
oftmals eingeschränkt wurden,
verstärkt der neuerliche Kompetenzverlust eine
Entwicklung, die das bundesstaatliche
(föderalistische) Prinzip der Bundesverfassung
aushöhlt und in der Lehre als schleichende
Gesamtänderung der Verfassung bezeichnet wird
(vgl. auch Walter-Mayer, Grundriß des
österreichischen Bundesverfassungsrechts, 7.
Auflage, Seite 68). Es ist nicht zu bezweifeln, daß
Österreich bereits jetzt ein relativ schwach
ausgebildeter Bundesstaat ist, da der Bund ein
erhebliches Übergewicht an Kompetenzen aufweist
und der Einfluß des Bundesrates auf die
Bundesgesetzgebung gering ist.
Um eine weitere Aushöhlung des bundestaatlichen
Prinzips der Bundesverfassung zu
verhindern, sollten daher auf Regierungsebene die
Beratungen über die Bundesstaatsreform auf
der Grundlage der zwischen Bund und Ländern
bereits vereinbarten Grundsätze möglichst
rasch wieder aufgenommen werden. Ziel der Beratungen
muß dabei eine eindeutige Stärkung
der Länderrechte sein, wie sie etwa jüngst
auch von Landeshauptmann Dr. Purtscher wieder
eingefordert wurde. Als wesentliche Gesichtspunkte
sind dabei zu nennen:
. Mitspracherecht bei Bundesgesetzen, die die Landesfinanzen
belasten
. Abschaffung der mittelbaren Bundesverwaltung
. Einführung von Verwaltungsgerichten der Länder
. Aufhebung des Harmonisierungsgebotes des Art. 21
B-VG
. Inkorporationsgebot im B-VG
. Bereinigung von Kompetenzzersplitterungen
. Mitwirkungsrechte bei der Bestellung der Richter
des Verfassungs- und
Verwaltungsgerichtshofes
. Kompetenzaufteilung unter den Aspekten der Bürgernähe
und der
Verwaltungsvereinfachung
Im Gegensatz zu den Bestrebungen zur Stärkung
der Länderrechte stehen verschiedene
Äußerungen von Regierungsseite, die im
Zuge der Verhandlungen über das Belastungspaket
erfolgten. Demnach bestehen Überlegungen, die
Finanzautonomie der Länder tendenziell
einzuschränken und insbesondere die Gesetzgebungskompetenzen
betreffend das Dienst- und
Besoldungsrecht Länder - zumindest befristet
- in die Kompetenz des Bundes zu übertragen.
Auch Erwägungen, die eine Übertragung von
Koordinierungskompetenzen zwischen Bund
und Ländern an neu zu schaffende Gremien anregen,
werden von manchen Experten der
Koalitionsparteien angestellt. Eine derartige Entwicklung
hätte eine de-fakto Abwertung der
Bundesländer und des Bundesrates zur Folge.
Das Belastungspaket, das zweifellos auch
bedeutende Auswirkungen auf die Länderhaushalte
haben wird, sowie die Debatte über die
Konvergenzkriterien zur Teilnahme an der Währungsunion
werden offensichtlich für den
Versuch mißbraucht, in Länderrechte einzugreifen.
Eine information des Bundesrates über die
diesbezüglichen Absichten der Bundesregierung
erscheint daher dringend erforderlich.
Die unterfertigten Bundesräte richten daher
an den Bundeskanzler folgende
DRINGLICHE ANFRAGE
1. Werden Sie über die vorliegende Regierungsvorlage
hinaus Initiativen setzen, um die
geplante Bundesstaatsreform voranzutreiben?
Wenn ja, welche konkreten Maßnahmen sind wann
geplant?
Wenn nein, warum nicht?
2. Besteht seitens der Bundesregierung ein Konsens
darüber, daß das seinerzeit im
Perchtoldsdorfer Paktum zwischen Bund und Ländern
vereinbarte Paket über den Ausbau
des Föderalismus weiterhin verbindlich ist?
Wenn ja, inwieweit?
Wenn nein, warum nicht?
3. Sind seitens der Bundesregierung außerhalb
der Bundesstaatsreform andere Maßnahmen
geplant, die eine Stärkung der Länderrechte
zum Ziele haben?
Wenn ja, welche Maßnahmen sind konkret wann
geplant?
4. Durch welche Maßnahmen wird die Bundesregierung
die Bemühungen der Länder
unterstützen, ihre Verschuldung zu vermindern?
5. Welche Auswirkungen wird das Belastungspaket auf
die Haushalte der Länder haben?
6. Plant die Bundesregierung im Zuge der Verwirklichung
des Belastungspaketes die
Übertragung von Länderkompetenzen an den
Bund?
Wenn ja, welche Maßnahmen sind geplant? .
7. Besteht seitens der Bundesregierung die Absicht,
im Zuge der Verwirklichung des
Belastungspaketes in die Länderkompetenzen betreffend
das Dienst- und Besoldungsrecht
der Länder einzugreifen?
Wenn ja, welche Maßnahmen sind konkret geplant?
8. Besteht von Seiten der Bundesregierung die Absicht,
die unzeitgemäßen Regelungen des
Art. 21 B-VG, die die Gesetzgebungskompetenzen der
Länder hinsichtlich des Dienst- und
Besoldungsrechtes ihrer Bediensteten beschränken,
aufzuheben oder abzuändern?
Wenn ja, welche Maßnahmen sind konkret geplant?
Wenn nein, warum nicht?
9. Wird die Bundesregierung Maßnahmen im Sinne
des Perchtoldsdorfer Paktums setzen, die
eine Stärkung des Bundesrates zum Ziele haben?
Wenn ja, welche konkreten Maßnahmen sind wann
geplant?
Wenn nein, warum nicht?
10.Besteht seitens der Bundesregierung die Absicht,
Überlegungen, die die Übertragung von
Kompetenzen an die Landeshauptmännerkonferenz
oder andere neu zu schaffende
Koordinierungsgremien zum Ziel haben, zu unterstützen?
Wenn ja, aufgrund welcher Erwägungen?
In formeller Hinsicht wird verlangt, diese Anfrage
im Sinne des §61 GO-BR dringlich vor
Eingang in die Tagesordnung zu behandeln und dem
Erstunterzeichner Gelegenheit zur
Begründung zu geben.