4138/J-BR/2023
Eingelangt am 07.12.2023
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Anfrage
des Bundesrates Andreas Arthur Spanring
an die Bundesministerin für Justiz
betreffend Nicht veranlasste Strafverfolgung von Eltern, Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vormunden bei Beschneidung von Mädchen und jungen Frauen (FGM/C).
Durch das Gewaltschutzgesetz 2019 gab es Strafverschärfungen, es wurde die Anzeigepflicht und die Gewaltpräventionsberatung eingeführt. Ein richtiger und großer Schritt in Richtung Schutz von möglichen Opfern, Opfern und Angehörige von Opfern.
Mit der Vereinheitlichung der Melde- und Anzeigepflicht bei schwerwiegenden Gewaltdelikten wurde damals dem artikulierten Interesse für die Gesundheitsberufe (Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen z.B.) Rechnung getragen. Im Falle des begründeten Verdachts einer gerichtlich strafbaren Handlung, sind alle Angehörigen der Gesundheitsberufe zur Anzeige an die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wenn
(...) Kinder oder Jugendliche misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden oder worden sind (...)
Interessant ist jedoch, dass das Angehörigenprivileg nur dezidiert bei der Körperverletzung im StGB bei der „Fahrlässigen Körperverletzung“ vorgesehen ist
§ 88 StGB:
(2) Handelt der Täter nicht grob fahrlässig (§ 6 Abs. 3) und ist
1. die verletzte Person mit dem Täter in auf- oder absteigender Linie verwandt oder verschwägert oder sein Ehegatte, sein eingetragener Partner, sein Bruder oder seine Schwester oder nach § 72 Abs. 2 wie ein Angehöriger des Täters zu behandeln (...)
Laut dem Bundesministerium für Soziales, Pflege, Gesundheit und Konsumentenschutz besteht eine Ausnahme von der Melde- und Anzeigepflicht.[1]
Bei Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen, darunter fällt auch die Verstümmelung oder sonstige Verletzung der Genitalien, im § 85 StGB ist dieses Angehörigenprivileg nicht vorgesehen. Mit dem § 90 Abs. 3 StGB (Einwilligung des Verletzten) - „In eine Genitalverstümmelung (§ 85 Abs. 1 Z 2a) kann nicht eingewilligt werden“ - wird klargestellt, dass es keine Einwilligung in eine Genitalverstümmelung im Vorhinein geben kann, egal welches Alter das Opfer hat. Damit macht der der Gesetzgeber sogar deutlich, dass dieses Verbrechen so schwer wiegt, dass es auch kein Angehörigenprivileg im Nachhinein geben kann.
Hingegen besteht die Pflicht zur Anzeige nicht, wenn (Ausnahmen § 54 Abs. 6 ÄrztG, § 7 GuKG, § 11e Medizinisch-Technische Dienste usw.)
(...) Bei Kindern und Jugendlichen kann die die Anzeige unterbleiben, wenn sich der Verdacht gegen einen Angehörigen (§ 72 StGB) richtet, sofern dies das Wohl des Kindes oder Jugendlichen erfordert und eine Mitteilung an die Kinder- und Jugendhilfeträger und gegebenenfalls eine Einbeziehung einer Kinderschutzeinrichtung an einer Krankenanstalt erfolgt. (...)
Der § 72 StGB definiert den Begriff Angehörige, die unter das „Angehörigenprivileg“ bei der Strafverfolgung fallen:
Angehörige
§ 72.
(1) Unter Angehörigen einer Person sind ihre Verwandten und Verschwägerten in gerader Linie, ihr Ehegatte oder eingetragener Partner und die Geschwister des Ehegatten oder eingetragenen Partners, ihre Geschwister und deren Ehegatten oder eingetragene Partner, Kinder und Enkel, die Geschwister ihrer Eltern und Großeltern, ihre Vettern und Basen, der Vater oder die Mutter ihres Kindes, ihre Wahl- und Pflegeeltern, ihre Wahl- und Pflegekinder, sowie Personen, über die ihnen die Obsorge zusteht oder unter deren Obsorge sie stehen, zu verstehen.
(2) Personen, die miteinander in Lebensgemeinschaft leben, werden wie Angehörige behandelt, Kinder und Enkel einer von ihnen werden wie Angehörige auch der anderen behandelt.
In den Justizausschüssen des Nationalrates und des Bundesrates wurde inhaltlich ein und derselbe Antrag der FPÖ[2] [3] vertagt, der in seine Beschlussformel verlangte:
· Erweiterung der Strafbarkeit bei der Veranlassung und Zulassung von weiblicher Genitalverstümmelung,
· ein erhöhtes Strafmaß, wenn die Genitalverstümmelung im Ausland veranlasst wurde und
· eine Anzeigepflicht der Ärzte, wenn eine Genitalverstümmelung bei minderjährigen Mädchen festgestellt wurde
Die Begründung der Vertagung war, dass diese drei Forderungen bereits Gesetz seien. Die Eltern oder Erziehungsberechtigten oder andere gesetzlichen Vormunde würden ohnehin unter die Beitragstäterschaft subsumiert werden:
Behandlung aller Beteiligten als Täter
§12. Nicht nur der unmittelbare Täter begeht die strafbare Handlung, sondern auch jeder, der einen anderen dazu bestimmt, sie auszuführen, oder der sonst zu ihrer Ausführung beiträgt.
Des Weiteren wurde im Justizausschuss des Nationalrates vonseiten der ÖVP kritisiert, dass in der Begründung veraltetes Zahlenmaterial verwendet worden sei.
Die Vertagungsgründe stimmen nur oberflächlich, den die Melde- und Anzeigepflicht ist nicht absolut, sondern kann bei genitalverstümmelten Kindern und Jugendlichen entfallen. Das heißt, dass es auch bei einer Genitalverstümmelung im Ausland, veranlasst durch die Erziehungsberechtigten, nicht zu einer Strafverfolgung kommen würde.
Weiters wurde im Justizausschuss des Nationalrates vonseiten der Grünen und der Ministerin zugegeben, dass es kein neueres Zahlenmaterial gäbe.
Die Folge dieser Aufweichung der Melde- und Anzeigepflicht ist, wie ein Experte im Justizausschuss des Bundesrates feststellte, dass es keine Verurteilungen von Eltern, Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vormunden, die eine Beschneidung von Mädchen und jungen Frauen veranlasst haben, gebe. Wortwörtlich sagte er:
„Die Zahl der Verurteilten ist NULL!"
Vor diesem Hintergrund stellen die unterfertigten Bundesräte an die Bundesministerin für Justiz folgende
Anfrage
1. Hat das Justizministerium neueste Zahlen/Statistiken über Genitalverstümmelungen von Mädchen und junge Frauen?
a. Wenn nein, liegt es nicht im Interesse des Justizministeriums und der Justiz, Zahlenmaterial zu haben, um Statistiken anzufertigen, die Grundlage für Maßnahmen oder mögliche Gesetze wären?
b. Wenn ja, wo sind diese einsehbar?
c. Falls diese Materialien nicht öffentlich einsehbar sind, werden sie diese dem Bundesrat, insbesondere den Mitgliedern des Justizausschusses übermitteln?
2. Gibt es eine Schätzung, wie hoch die Dunkelziffer von Genitalverstümmelung von Mädchen und jungen Frauen ist?
a. Wenn ja, wie hoch ist die Schätzung der Beitragstäterschaft von Eltern, Erziehungsberechtigten und Vormunden?
3. Wie viele Anzeigen oder Meldungen gab es durch Ärzte?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
4. Wie viele Anzeigen oder Meldungen gab es durch Kranken- oder Pflegepersonal?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
5. Wie Viele Anzeigen oder Meldungen gab es durch Psychologen?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
6. Wie viel Anzeigen oder Meldungen gab es durch Psychotherapeuten?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
7. Wie viele Anzeigen oder Meldungen gab es durch Hebammen?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
8. Wie viel Anzeigen oder Meldungen gab es durch Medizinische- und Heilmasseure?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
9. Wie viel Anzeigen oder Meldungen gab es durch das Personal vom MTD?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
10. Wie viele Anzeigen gab es durch andere Personen, die zur Anzeige und Meldung gesetzlich verpflichtet wären?
a. Zu wie vielen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren kam es?
b. Zu wie vielen Strafverfahren kam es deswegen?
c. Zu wie vielen Strafverfahren kam es gegen Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde wegen Beitragstäterschaft?
11. Wie viele Verurteilungen wurden bedingt oder teilbedingt nachgesehen?
12. Gibt es bei Mädchen und jungen Frauen, die durch die Folgen einer Genitalverstümmelung versterben, eine Autopsie?
a. Wenn ja, wie oft kommt das vor?
b. Wenn nein, warum nicht?
13. Wie viele Eltern, Erziehungsberechtigte oder Vormunde, die in Österreich leben und schon einmal eine Tochter an ihren Genitalien verstümmelt haben, haben nach Beratungen durch staatliche Institutionen dennoch die jüngeren Schwestern an ihren Genitalien verstümmelt?
a. Falls Sie keine Rückfallstatistiken haben, werden Sie und Ihr Ministerium mit dem Gesundheitsministerium zusammenarbeiten, um Zahlenmaterial für solch eine Statistik zusammenzutragen?
14. Haben Sie Zahlenmaterial, wie viele diese genitalverstümmelten Mädchen und jungen Frauen dauerhafte Schäden davongetragen haben?
a. Wenn ja, gibt es Verfahren wegen Schmerzensgeldforderungen und entsprechende gerichtliche Verfahren von Geschädigten gegenüber ihren Eltern, Erziehungsberechtigten oder Vormunden?
i. Wenn ja, wie viele gab es von 2016 bis Ende 2022?
b. Falls Sie kein Zahlenmaterial haben, werden Sie und Ihr Ministerium mit dem Gesundheitsministerium und dem Gesundheitsminister zusammenzuarbeiten, um solch ein Zahlenmaterial zu erheben?
i. Wenn nein, warum nicht?