1951/AB XX.GP
Die Abgeordneten zum Nationalrat Andreas Wabl, Freundinnen und Freunde haben
an mich eine schriftliche Anfrage, betreffend Unterbringung des G.H. in eine Anstalt
für geistig abnorme Rechtsbrecher - Az: 2a Vr 41 88/94, gerichtet und folgende Fra-
gen gestellt:
"1 . Wie viele Beschwerden sind bis heute beim Europäischen Gerichtshof für Men-
schenrechte wegen des österreichischen Maßnahmenvollzuges eingebracht
worden und welches Ergebnis brachten diese Beschwerden jeweils?
2. Wie rechtfertigen Sie den Maßnahmenvollzug angesichts des Grundrechtes,
daß für jede Person das Ausmaß der Strafe abschätzbar sein muß, und ange-
sichts der europäischen Strafvollzugsgrundsätze, wonach Personen, bei denen
eine Geisteskrankheit festgestellt wird, nicht in Anstalten des Strafvollzuges
untergebracht werden sollen?
3. Werden Sie dafür sorgen, daß diese Gesetzeslage menschenrechtskonform
geändert wird?
Wenn ja, wann?
Wenn nein, warum nicht?
4. Wie viele Personen, deren Unterbringung gemäß § 21 Abs 1 StGB angeordnet
wurde, wurden im Jahre 1996 in einer Justizanstalt, wie viele davon in einer öf-
fentlichen Krankenanstalt untergebracht?
5. Wie viele Personen, deren Unterbringung gemäß § 21 Abs 2 StGB angeordnet
wurde, wurden im Jahre 1996 in einer Justizanstalt, wie viele davon in einer öf-
fentlichen Krankenanstalt untergebracht?
6. Wie viele Personen, deren Unterbringung gemäß § 22 StGB angeordnet wur-
de, wurden im Jahre 1996 in einer Justizanstalt, wie viele davon in einer öffent-
lichen Krankenanstalt untergebracht?
7. Wie viele Personen, deren Unterbringung gemäß § 23 StGB angeordnet wur-
de, wurden im Jahre 1996 in einer Justizanstalt, wie viele davon in einer öffent-
lichen Krankenanstalt untergebracht?
8. Von der UN-Generalversammlung wurde eine Resolution betreffend den
Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Ver-
sorgung beschlossen (46/119; abgedruckt im StVG-Kommentar von Holz-
bauer/Brugger, Seite 656). Halten Sie den Maßnahmenvollzug, wie er in Öster-
reich praktiziert wird, mit den der Resolution angeschlossenen Grundsätzen
vereinbar?
9. Welche Konsequenzen haben Sie aus dem beim Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte anhängigen Verfahren gezogen?
10. Was spricht im gegenständlichen Fall gegen eine Entlassung des Herrn H.G.
aus der Haft bzw. gegen eine klare Festlegung der Dauer der restlichen Haft-
zeit?"
Ich beantworte diese Fragen wie folgt:
Zu 1:
Im Zusammenhang mit dem Maßnahmenvollzug
erging nach den im Bundesmini-
sterium für Justiz vorhandenen Unterlagen lediglich eine Entscheidung des Europäi-
schen Gerichtshofes für Menschenrechte. Es handelt sich dabei um das Urteil vom
24.9.1992 in der Sache Herczegfalvy gegen Österreich, mit dem eine Verletzung
des Art. 5 Abs. 4 und des Art. 8 MRK festgestellt wurde. Die Verletzung des Art. 5
Abs. 4 wurde darin gesehen, daß das Gericht Entscheidungen nach § 25 Abs. 3
StGB verspätet gefällt hatte. Weiters sprach der Gerichtshof aus, daß der in § 167a
StVG in der Fassung vor der Strafvollzugsnovelle 1 993 normierte Verweis auf das
Krankenanstaltengesetz (insbesondere auf dessen § 51) keine ausreichend präzise
gesetzliche Grundlage für die im konkreten Fall vorgenommene Einschränkung des
Briefverkehrs des Betroffenen dargestellt habe, wodurch Art. 8 MRK verletzt worden
sei.
Ob gegen Österreich weitere Beschwerden wegen des Maßnahmenvollzugs erho-
ben wurden, kann insoweit nicht festgestellt werden, als die Bundesregierung mit
Beschwerden nicht befaßt wird, die von der Kommission a limine zurückgewiesen
werden.
Zu 2 und 3:
Der Zweck der freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahme, der - anders als
der Strafe - keine Tadelsfunktion zukommt, besteht darin, der Gefährlichkeit des Tä-
ters für die Zukunft zu begegnen. Art und Ausmaß der Maßnahme richten sich nach
Art und voraussichtlicher Dauer der Gefährlichkeit des Täters, die im Urteilszeitpunkt
nicht voll abschätzbar sind, weshalb die vorbeugende Maßnahme auf unbestimmte
Zeit verhängt wird.
Die unterschiedlichen Funktionen einerseits der Maßnahme, die auf die Gefährlich-
keit des Täters abstellt, und andererseits der Strafe, die sich am Unrechtsgehalt der
Tat und an der Schuld des Täters orientiert, rechtfertigen eine unterschiedliche
Handhabung bei der Festsetzung von Art und Ausmaß der Rechtsfolgen. Hinzuwei-
sen ist auch auf die in § 25 Abs. 3 StGB normierte jährliche Überprüfungspflicht, die
eine über das erforderliche Ausmaß hinausgehende Anhaltung im Maßnahmenvoll-
zug ausschließen soll.
Personen, bei denen es aufgrund der Gefährlichkeitsprognose des Einsatzes thera-
peutischer Mittel bedarf, werden entweder in dafür besonders bestimmten Anstalten,
in öffentlichen Krankenanstalten für Psychiatrie oder in speziell dafür eingerichteten
Abteilungen der Strafvollzugsanstalten untergebracht. Die zuletzt erwähnte Möglich-
keit besteht jedoch nur bei zurechnungsfähigen Untergebrachten (§ 21 Abs. 2
StGB). Dieses System der Unterbringung im Maßnahmenvollzug steht mit Punkt
100 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze im Einklang, der vorsieht, daß Per-
sonen, bei denen eine Geisteskrankheit festgestellt wird, nicht in Anstalten des
Strafvollzugs (prisons) untergebracht werden sollen, und deren Verlegung in eine
"geeignete Einrichtung für Geisteskranke" empfiehlt. Die Eignung der zuvor erwähn-
ten Einrichtungen ergibt sich aus deren therapeutischer Ausrichtung.
Die Möglichkeit, Personen im Maßnahmenvollzug dauernd in allgemeinen psychia-
trischen Krankenhäusern anzuhalten, ist - abgesehen von Kapazitätsüberlegungen -
dadurch begrenzt, daß solche Anhaltungen gemäß § 158 Abs. 4 Z 1 StVG grund-
sätzlich nur insoweit in Frage kommen, als unter Berücksichtigung des Zustands der
Betroffenen mit den Einrichtungen das Auslangen gefunden werden kann, die in den
öffentlichen Krankenanstalten für die Unterbringung von psychisch Kranken nach
dem Unterbringungsgesetz, also im Rahmen einer grundsätzlich offenen Psychia-
trie, zur Verfügung stehen. Andererseits eröffnet § 71 StVG die Möglichkeit, jeden
Strafgefangenen und jeden im Maßnahmenvollzug Untergebrachten bei akutem, an-
ders nicht abdeckbarem Behandlungsbedarf aufgrund psychischer Erkrankung
in eine öffentliche Krankenanstalt zu überstellen, die zur Aufnahme verpflichtet ist;
auch dadurch wird der in der Anfrage angesprochenen Empfehlung der Europäi-
schen Strafvollzugsgrundsätze Rechnung getragen.
Zu 4:
Mit Stichtag 31.12.1996 wurden von insgesamt 195 gemäß § 21 Abs. 1 StGB Unter-
gebrachten 1 17 in der Justizanstalt Göllersdorf und 78 in öffentlichen Krankenan-
stalten für Psychiatrie angehalten.
Die Statistik über den Maßnahmenvollzug wird - aus Gründen der Vergleichbarkeit
mit anderen Statistiken - nicht als Jahres-, sondern als (monatliche) Stichtagsstati-
stik geführt. Nach Erfahrungswerten ist
davon auszugehen, daß die Zahl der Maß-
nahmenfälle insgesamt zwar mittelfristig steigt (insbesondere derjenigen nach § 21
StGB), jedoch während des Jahres - anders als die Zahl der Strafgefangenen -
kaum zyklischen Schwankungen unterworfen ist.
Zu 5:
Mit Stichtag 31.12.1996 wurden von insgesamt 203 gemäß § 21 Abs. 2 StGB Unter-
gebrachten 102 in der Justizanstalt Wien-Mittersteig und deren Außenstelle Stok-
kerau und 101 in den besonderen Abteilungen für den Maßnahmenvollzug (§ 158
Abs. 5 StVG) in anderen Justizanstalten angehalten, davon eine weibliche Unterge-
brachte in der Justizanstalt Schwarzau und zehn männliche Jugendliche in der
Justizanstalt Gerasdorf.
Zu 6:
Mit Stichtag 31.12.1996 wurden 20 Untergebrachte gemäß § 22 StGB angehalten,
davon zehn in der Justizanstalt Wien-Favoriten und zehn in den besonderen Abtei-
lungen für den Maßnahmenvollzug (§ 159 Abs. 1 StVG) in anderen Justizanstalten.
Zu 7:
Mit Stichtag 31 .1 2.1996 wurden drei Untergebrachte gemäß § 23 StGB angehalten,
davon einer in der Justizanstalt Stein, einer in der Justizanstalt Wien-Favoriten und
einer in der Justizanstalt Sonnberg.
Zu 8:
Ich halte den österreichischen Maßnahmenvollzug mit den "Grundsätzen für den
Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Versor-
gung", die in der Resolution 46/1 1 9 der UN-Generalversammlung enthalten sind,
unter Bedachtnahme auf die im Grundsatz 20 vorgesehenen Einschränkungen für
vereinbar.
Zu 9:
Aufgrund des zu Frage 1 erwähnten Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte vom 24.9.1 992 wurde mit der Strafvollzugsnovelle 1 993, BGBl.Nr. 799,
der § 167a StVG novelliert und durch die Verweisung auf die §§ 33 bis 38 des Un-
terbringungsgesetzes eine dem Urteil
entsprechende Rechtsgrundlage für die Rah-
menbedingungen der Anhaltung von geistig abnormen Rechtsbrechern in öffentli-
chen Krankenanstalten für Psychiatrie geschaffen.
Zu 10:
Mit Beschluß des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6.3.1996, 18 d BE
35/96, wurde die Notwendigkeit der weiteren Anhaltung von G.H. in einer Anstalt für
geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 1 StGB mit der Begründung be-
jaht, daß die einweisungsrelevante Gefährlichkeit zum Entscheidungszeitpunkt nach
wie vor gegeben war.
Es handelt sich um einen Fall von Sexualdelinquenz (§§ 15, 207 Abs. 1,208 StGB),
der einen besonderen, hinsichtlich seiner Dauer nicht einschätzbaren therapeuti-
schen Aufwand erfordert, so daß die Festsetzung einer bestimmten weiteren Anhal-
tezeit nicht möglich ist.
Derzeit ist hinsichtlich des Untergebrachten beim Landesgericht für Strafsachen
Wien als Vollzugsgericht ein neuerliches Verfahren gemäß § 25 Abs. 3 StGB anhän-
gig. Die vom Gericht in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten liegen noch
nicht vor.