3476/AB XX.GP
Beantwortung
der Anfrage der Abgeordneten Kier und PartnerInnen
betreffend Grundsicherungs - Arbeitsgruppe im Sozialministerium,
Nr. 3591/J
Die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und Armutsgefährdung zählt zu den
wesentlichsten Eckpfeilern eines humanen sozialpolitischen Verständnisses. Es ist
unverzichtbar, permanent zu überprüfen, inwieweit die gegenwärtigen
sozialpolitischen Instrumente diesen Zielen gerecht werden und wie ergänzende
oder andere Modelle der sozialpolitischen Intervention wirken könnten. In diesem
Zusammenhang ist eine gemeinsam vom ,,Armutsnetzwerk" und BMAGS initiierte
Expertenarbeitsgruppe zum Thema ,,Bedarfsorientierte Mindestsicherung” einge -
richtet worden. Diese Arbeitsgruppe soll
1) eine kritische Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation vornehmen,
2) eine begriffliche und inhaltliche Klärung der sehr verschiedenartigen in der
öffentlichen Debatte als Grundsicherungssysteme bezeichneten Modelle
durchführen und
3) die möglichen positiven und negativen Effekte und die Zielkonflikte dieser
Modelle beschreiben.
Antwort zu den Fragen 1, 2 und 3:
Die Einladung zur konstituierenden Sitzung dieser Expertengruppe erfolgte im
Sommer 1997 gemeinsam vom "Armutsnetzwerk" und vom BMAGS. Die einge -
ladenen Personen kommen aus den das ,,Armutsnetzwerk” bildenden Organisa -
tionen (u.a. Berufsverband der Sozialarbeiter, Caritas, Volkshilfe, Bundesarbeits -
gemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Schuldnerberatung etc.), dem BMAGS, dem
AMS, dem Hauptverband und aus dem wissenschaftlichen Bereich.
Es gab bisher 3 Treffen der ,,Steuerungsgruppe” und insgesamt 8 Treffen der 4
thematischen Arbeitsgruppen. Eine Berichtslegung ist bis Ende 1998 geplant.
Antwort zu Frage 4:
Die Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit Fragen einer bedarfsorientierten
Mindestsicherung. Das Konzept eines bedingungslosen Bürgergeldes für alle (z.B.
das Grundsicherungsmodell des Liberalen Forums), welches fast alle bestehenden
monetären Sozialleistungen ersetzen soll, ist nicht Thema dieser Arbeitsgruppe.
Nach meiner Ansicht und nach Ansicht vieler Vertreter des "Armutsnetzwerkes” ist
ein solches Modell unter den heutigen Rahmenbedingungen hinsichtlich
Effektivität, Kosten und Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe nicht
zielführend.
Das Konzept der bedarfsorientierten Mindestsicherung wird in 4 Arbeitsgruppen
mit folgenden Themenstellungen behandelt:
1) Mindestsicherung bei Arbeitslosigkeit bzw. bei zu niederem Erwerbseinkommen,
2) Mindestsicherung für Kinder und Mindestsicherung nach Auflösung von Partner -
schaften,
3) Mindestsicherung bei behinderungsbedingter Erwerbsunfähigkeit und
4) Mindestsicherung für Personen in anderen Notlagen und mit sozialem Anpas -
sungsbedarf (Sozialhilfe).
Antwort zu Frage 5:
Ich teile Ihre Ansicht, daß dieses Thema einer breiten gesellschaftlichen Debatte
mit Einbindung möglichst vieler relevanter gesellschaftlicher und politischer
Gruppen bedarf. Ziel der Expertengruppe ist es, einen Bericht zu erstellen, der die
Fragestellungen präzisiert und die möglichen Vor - und Nachteile der verschie -
denen Modelle auflistet. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für eine seriöse
öffentliche Diskussion.
Wie bereits erwähnt, gehören Modelle eines Grundeinkommens nicht zum Auftrag
an diese Arbeitsgruppe. Ich übermittle in der Beilage meine Stellungnahme zum
Konzept "Umdenken: Liberale Steuerreform - Neue Solidarität", die ich am
2.2.1998 Frau Dr. Heide Schmidt
übermittelte.
Umdenken: Liberale Steuerreform - Neue Solidarität”
Anmerkungen von Eleonora Hostasch, Bundesministerin für Arbeit, Ge -
sundheit und Soziales
Unbestritten ist, daß die Verknüpfung zwischen Wirtschaftspolitik und So -
zialpolitik sehr eng sein muß und daß insbesonders Steuerpolitik ganz we -
sentliche sozialpolitische Komponenten enthält.
Sehr zu begrüßen ist das Bekenntnis zu einer neuen Solidarität im Sinne
eines gesamtgesellschaftlicher Zusammenhalts und einer höchstmöglichen
Chancengleichheit für alle.
Unverständlich ist es hingegen, daß eine Geringschätzung, ja sogar Diffamie -
rung bestehender sozialstaatlicher Formen und Einrichtungen Ausgangs -
punkt des liberalen Programmes ist. Um so bedenklicher ist diese Grundhal -
tung, als sie kaum durch eine gesellschaftspolitische Analyse oder gar Fak -
ten und Daten erhärtet wird, sondern aus meiner Sicht in vielen Bereichen
auf der Übernahme zum Teil widersprüchlicher Stimmungen und Urteile be -
ruht.
Mit keinem Wort wird erwähnt, daß die derzeitigen sozialstaatlichen Einrich -
tungen und Leistungen gerade für die einkommensschwächeren Gruppen in
unserer Bevölkerung den wesentlichsten und unverzichtbaren Beitrag dazu
leisten, daß Massenarmut wesentlich besser bekämpft werden kann als in
den meisten anderen Staaten, insbesondere jenen, die liberale Grundsätze
ohne soziale Komponente an die Spitze ihrer Ideologie stellen. Mit keinem
Wort wird erwähnt, daß alle statistischen Daten darauf hinweisen, daß trotz
zunehmender Schwierigkeiten im Zuge zunehmender Arbeitslosigkeit und
sonstiger gesellschaftlicher Veränderungen (Änderung der Familienstruktur,
hohe Scheidungsrate) die als arm
qualifizierten Personen Ende der 90iger
Jahre über erheblich mehr materielle Ressourcen verfügen als etwa Bezieher
von Durchschnittseinkommen Mitte der 70iger Jahre. All diese Daten wer -
den im Sozialbericht, in Studien der Wirtschaftsforschungsinstitute und
auch auf europäischer Ebene belegt, sie hindern die Verfasser des Pro -
gramms des Liberalen Forums nicht daran, allen ihren Überlegungen die
These vom Versagen des Sozialstaates voranzustellen.
Die Arbeitsbeziehungen, vor allem die Rechte der Arbeitnehmer, werden in
der Analyse völlig ausgeblendet. Offenbar soll dieser Bereich dem freien Spiel
der Kräfte überlassen werden. Dabei wird vergessen, daß ausgebaute Arbeit -
nehmerrechte und die finanzielle Leistungskraft eines Großteils der Arbeit -
nehmer Basis für jede Umverteilung sind. Es ist eine völlige Illusion zu glau -
ben, daß bei einer Auseinanderentwicklung der Verteilung der Primärein -
kommen durch scheinbar egalitäre Maßnahmen im Sozialleistungssektor die
Chancengleichheit oder gar die Gleichberechtigung in der Gesellschaft ver -
bessert werden könnte.
Der Sozialstaat darf nicht als Reparaturanstalt gesehen werden, ebenso
nicht als Ruhigstellung einer in der Arbeitswelt unterprivilegierten Bevölke -
rungsgruppe, um bei der Primärverteilung von Einkommen Einkommenstär -
kere ohne Gefahr von sozialen Konflikten ihre Macht ausspielen lassen zu
können.
Sozialpolitik muß meiner Ansicht nach als wesentlichsten Bestandteil ein
hohes Ausmaß an Chancengleichheit und Gleichberechtigungen der Ar -
beitswelt mitbeinhalten und ermöglichen, daß nicht nur Unternehmen, son -
dern auch Arbeitnehmer in ihrem Einkommen, ihren Aufstiegsmöglichkei -
ten, ihrer sozialen Absicherung, aber auch ihrem sozialen Umfeld (z.B. Frei -
zeitansprüche) in möglichst hohem Ausmaß gefördert werden.
Die Kritik an der Erwerbszentriertheit unseres Sozialsystems läßt völlig au -
ßer Acht, daß diese in erster Linie darin besteht, daß Beiträge und Steuern
vom Einkommen unselbständig Erwerbstätiger zum ganz überwiegenden Teil
das Funktionieren des Sozialstaates
ermöglichen. Gleichzeitig bestehen aber
auch innerhalb der Sozialversicherungssysteme, um so mehr aber in den
anderen sozialen Sicherungssystemen, eine Fülle von Leistungs - und Aus -
gleichsansprüchen für nicht Erwerbstätige.
Diese massive, einen Eckpfeiler unseres Sozialsystems darstellende Um -
verteilung wird in diesem Zusammenhang mit keinem Wort, mit keinem Bei -
spiel (Mitversicherung, Ausgleichszulage, Notstandshilfe, Sonder -
notstandshilfe), erwähnt. Es wird einfach davon ausgegangen, daß Nichter -
werbstätige in unserem Sozialsystem generell benachteiligt seien. Damit wird
eher zur Verunsicherung als zur rationalen Klärung von Zusammenhängen
in unserem Sozialsystem ein Beitrag geleistet.
Wenn vom generellen Umbau unseres Sozialsystems die Rede ist, so müßte
auf die Grundfragen jeder sozialpolitischen Systematik eingegangen werden:
1. Sollen sozialstaatliche Leistungen bedarfsorientiert sein oder nicht?
2. Soll beim Leistungssystem nach sozialpolitischen Zielsetzungen differen -
ziert werden (z.B. Einkommensersatz im Alter, bei Krankheit, bei Arbeitslosig -
keit), oder soll auch in diesen Bereichen eine steuerfinanzierte Basisleistung
das Übergewicht haben?
3. Soll die Solidargemeinschaft bei der Erfüllung sozialpolitischer Ziele mög -
lichst groß und umfassend sein, oder soll über eine Basissicherung in Form
der "Armeleuteversorgung” hinaus das freie Spiel der Kräfte größere Un -
gleichheiten ermöglichen als derzeit?
4. Sollen soziale Bedingungen rein isoliert auf Individuen bezogen werden,
oder sind Menschen als Teil einer Gemeinschaft einschließlich von Unter -
haltsansprüchen, Differenzierungen nach Vermögen, Interessenlagen und
Einkommen außerhalb der Erwerbsarbeit ins Zentrum des sozialpolitischen
Handelns zu stellen?
Ohne Entscheidung dieser Grundfragen gerät jedes sozialpolitische Modell in
die Gefahr, Maßnahmen und Einrichtungen des Sozialstaates punktuell und
ohne Zusammenhang zu bewerten und widersprüchliche Ergebnisse zu
bringen.
Ich gebe zu, daß die lebendige Entwicklung unseres derzeitigen Sozial -
staatsmodells auch nicht frei von Widersprüchen ist, und daß in vieler Hin -
sicht die Diskussion solcher und ähnlicher Grundfragen in manchen Fällen
der Anlaßgesetzgebung in der Vergangenheit zu kurz gekommen ist
Im Programm des Liberalen Forums sehe ich aber keine Beseitigung dieses
Mangels, sondern im Gegenteil eine Verschärfung dadurch, daß ohne grund -
sätzliche Diskussion bestimmte Ergebnisse aufgrund allgemeiner Eindrücke
oder aufgrund zeitgeistlicher Strömungen vorweggenommen werden, ohne
die entscheidungsrelevanten Fragen auch nur zu stellen und der Bevölke -
rung Klarheit über die hinter den Konzepten stehenden Prinzipien zu ver -
schaffen.
Mit anderen Worten: Es ist bei vielen Menschen sehr populär, davon zu re -
den, daß ein Basiseinkommen für alle die Lösung sozialer Probleme wäre.
Wenn dabei aber verschwiegen wird, daß damit eine wesentliche Erhöhung
der Finanzierungsnotwendigkeiten eintreten, aber auch eine Gießkannen -
leistung geschaffen wurde, die eben nicht bedarfsorientiert ist, so ist dies
meiner Ansicht nach eine sehr verkürzte Argumentation.
Im folgenden soll noch zu einzelnen konkreten Punkten des Programmes
Stellung genommen werden:
Seite 1 letzter Absatz:
Die Behauptung, daß jemand, der nicht oder nur kurzfristig unselbständig
gearbeitet hat, keinen rechtlichen Anspruch auf ein “Überleben im Wohl -
fahrtsstaat” habe, ist grob falsch
und aus meiner Sicht nur als billige Pole -
mik zu werten. Selbstverständlich hat der Österreichische Sozialstaat seinen
wesentlichen Gehalt darin, daß niemand seinem Schicksal überlassen wer -
den darf. Es gibt aber verschiedene Zugänge für diese soziale Sicherung, die
danach ausgerichtet sind, wo die Ursachen sozialer Bedürftigkeit liegen, und
welche Bedarfslage im Einzelfall besteht. (Sozialversicherung - Transferleis -
ungen zur Unterstützung bei bestimmten Aufwendungen - soziale Versor -
ung bei Notlagen).
Wenn diese bedarfsorientierte Systematik auf Seite 3, Mitte als
"Transferwirrwarr” bezeichnet und mit dem Gießkannenprinzip gleichgesetzt
wird, so ist dies eine sehr widersprüchliche Aussage. Die Anspruchsvoraus -
setzungen in einzelnen Sozialsystemen mögen zu kompliziert sein, und es
wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, Vereinfachungen zu erreichen, ohne
grobe Ungerechtigkeiten damit hervorzurufen. Das lnfragestellen von diffe -
renzierten Anspruchsvoraussetzungen für soziale Leistungen und die gleich -
zeitige Kritik an ,,Gießkannenleistungen” ist aber ein Musterbeispiel dafür,
wie man offenkundige Widersprüche mit gutklingenden Sätzen verbinden
und damit die Bevölkerung verwirren und verunsichern kann. Eine nach
Bedürftigkeiten differenzierende Sozialpolitik, die ohne konkrete Anspruchs -
voraussetzungen auskommt, gibt es nicht. Gießkannenleistungen sind hin -
gegen sehr einfach strukturiert.
Auf Seite 3 oben wird festgestellt, daß viele Menschen ohne eigenen Pensi -
onsanspruch bleiben. Dies wird als Fehlleistung bezeichnet, ohne auch nur
ansatzweise bemüht zu sein, die soziale Betroffenheit dieses Personen -
kreises näher zu analysieren. Im Regelfall handelt es sich bei diesen Perso -
nen um Menschen, die vor Erreichung des Pensionsalters und nach Errei -
chung des Pensionsalters durch andere als Erwerbseinkommen und/
oder durch Unterhaltsleistungen in unterschiedlich hohem Ausmaß sozial
abgesichert sind.
Ist dies nicht der Fall, so steht das zweite soziale Netz zur Verfügung, zu
dessen Abqualifizierung die fundamentale
Kritik unseres Sozialstaats der
letzten Jahre einen großen Beitrag geleistet hat. Man darf aber in einer se -
riösen Analyse nicht verschweigen, daß es eben bedarfs - und ursachenorien -
tierte Differenzierungen gibt, die in einem Bundesstaat auch unterschiedli -
che Kompetenzen der einzelnen Gebietskörperschaften im Gefolge haben.
Wenn dieses Problem schon ernsthaft diskutiert wird, so müßte auch auf die
Finanzierungsströme unter den Gebietskörperschaften hingewiesen wer -
den. Tatsache ist, daß finanzielle Probleme, die es in Sozialsystemen gibt,
zum erheblichen Teil darauf zurückzuführen sind, daß im Sozialversiche -
rungsbereich Leistungen eingeführt worden sind, die nur mit minimalen
Beitragsleistungen verbunden sind. Das heißt: Vom zweiten sozialen Netz,
für das die Länder verantwortlich sind, wurde massiv ins Sozialversiche -
rungssystem umgeschichtet, die Notwendigkeit der finanziellen Bedeckung
wird nun dem Sozialversicherungssystem vorgehalten, zusätzlich wird noch
sein Versagen deswegen konstatiert, weil es nicht alle Leistungen auch ohne
jegliche Beitragsäquivalenz erbringt.
Seite 3: Der Ansatz, durch eine Grundsicherung bisherige Sozialtransfers zu
ersetzen, ist nur dann seriös, wenn im Einzelfall darauf eingegangen wird,
welche Leistungs - und Beitragströme damit verbunden sind. Es kann ja
realistischerweise nicht erwartet werden, daß jemand von seinem Erwerb -
seinkommen Arbeitslosenversicherung bezahlt, wenn ohnehin jeder ohne
jegliche Voraussetzung eine Grundsicherung erhält. Diese Leistungen müß -
ten also samt und sonders steuerfinanziert werden. Ein Vergleich von Bei -
tragsleistungen derzeit und fiktiven Steuerleistungen später sowie die Zu -
ordnung solcher Steuerleistungen wäre unbedingt notwendig, um diesen ge -
danklichen Ansatz näher diskutieren zu können.
Weiters wird diese Konzeption in keiner Weise mit der Art und Weise der An -
spruchsvoraussetzungen auf diese Grundsicherung verbunden. Es mag sein,
daß bei näherer Ausführung und Analyse einige interessante Ansätze in die -
ser Konzeption enthalten sind. Das
vorliegende Papier bleibt aber sehr all -
gemein, so daß daraus kaum ein konkretes Verteilungsergebnis entnommen
werden kann.
Im letzten Absatz auf Seite 3 wird die Grundsicherung für alle 65jährigen
gefordert. Es wird verschwiegen, daß damit eine massive Umverteilung zu
Bevölkerungsgruppen verbunden wäre, die sozial nicht bedürftig sind. Oder
wird ernsthaft erwogen, einem 65jährigen Aktienbesitzer mit erheblichen
Dividendeneinkommen eine Grundsicherung zukommen zu lassen? Ver -
schwiegen wird außerdem, daß Systeme mit Grundsicherung und ergänzen -
der individueller Vorsorge zu wesentlich größeren Ungleichheiten führen als
ein ausgebautes öffentliches Alterssicherungssystem nach dem Versiche -
rungsprinzip, weil Beiträge der Besserverdienenden für die Zusatzpension in
Umverteilungsspielräume nicht eingebunden werden können.
Seite 5: Die Behauptung, daß das derzeitige Sozialsystem nicht finanzierbar
wäre, ist unseriös. Jedes Sozialsystem wird aus den Erträgen der Arbeit und
des produktiven Kapitaleinsatzes finanziert. Je größer die Solidargemein -
schaft ist, und je breiter die Basis von Solidarbeiträgen und Solidarleistun -
gen ist, desto krisensicherer ist ein System.
Die Behauptung, daß ein Grundsicherungsystem mit individueller zusätz -
licher Vorsorge krisensicherer wäre als unser derzeitiges Sozialsystem, hält
einer empirischen Überprüfung in der Vergangenheit und auch in der Ge -
genwart in keiner Weise stand, ich halte eine solche Prognose auch für die
Zukunft für falsch.
Die auf Seite 5 unten beginnende und auf Seite 6 fortgesetzte Schätzung be -
treffend die Finanzierung einer allgemeinen Grundsicherung enthält einige
nicht nachvollziehbare Größen und Annahmen über Finanzströme, die eine
seriöse Überprüfung unmöglich machen.
Wenn von "massiven Einsparungen"
bei der Gebarung des Staates durch
Aufgabenreform, Auslagerungen und Privatisierungen die Rede ist, so wer -
den damit verbundene Kosten gerade für die Sozialsysteme völlig vernach -
lässigt. Die Schlagworte "Ökologisierung des Steuersystems”, “Reduktion der
Agrarförderungen", Beseitigung von “ungerechten Ausnahmen des derzeiti -
gen Steuersystems" klingen gut, bleiben aber ohne Konkretisierung leere
Hülsen. Die Erfahrungen der praktischen Politik der letzten Jahre hat ge -
zeigt, daß konkrete Ansätze in diese Richtung mit dem massiven Widerstand
der Opposition rechnen können.
Zu den in Ihrem Papier enthaltenen Vorschlägen bezüglich der Neugestal -
tung des Steuersystems möchte ich im Detail nicht Stellung nehmen, weil
Einzelheiten in diesen Fragen nicht in meine Kompetenz fallen. Wie eingangs
erwähnt, bin ich mir aber der sozialpolitischen Komponenten von steuerli -
chen Maßnahmen sehr wohl bewußt.
Zusammenfassend bekräftige ich nochmals die Auffassung, daß das Pro -
gramm des Liberalen Forums "Umdenken: Liberale Steuerreform - Neue So -
lidarität” Anlaß für eine fruchtbringende Diskussion über Grundsätze der
Sozialpolitik hätte sein können, gerade durch Aussparung wichtiger Grund -
satzfragen und ihrer gesellschaftspolitischen Konsequenzen diese Chance
nicht genutzt wurde.
Meine Ausgangsposition bei einer solchen Grundsatzdiskussion ist die, daß
der Mensch in seiner Betroffenheit als Individuum und als Mitglied von
Gemeinschaften Mittelpunkt jeder Überlegung sein muß, und daß die So -
zialpolitik in diesem Sinn bedarfsgerecht zu sein hat;
ein differenziertes System der sozialen Sicherung besser in der Lage ist,
dieser Bedarfsorientierung zu entsprechen als eine Reduzierung der Sozi -
alpolitik auf eine notdürftige
Basisversorgung;
• die produktive Arbeit Grundlage des Reichtums ist und damit auch der
besonderen Absicherung vor Übermacht der Stärkeren am Arbeitsmarkt
bedarf;
• die Solidargemeinschaft in der Sozialversicherung nicht nur Feigenblatt
für die Entfaltungsmöglichkeiten der Stärkeren, sondern Grundbaustein
einer ausgleichenden Gesellschaft zu sein hat.
Unser Sozialsystem ist nicht perfekt und verbesserungswürdig. Seinen Ziel -
setzungen nach ist es aber richtig. Geänderte gesellschaftliche Verhältnisse
können berücksichtigt werden, wenn die Ziele bedarfsgerecht adaptiert wer -
den.