4165/AB XX.GP

 

14. Juli 1998

GZ. 35.03.00/0002e-II.3/1998

An den

Herrn Präsidenten des Nationalrates

Parlament

1017 Wien

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Haupt und Genossen haben am 18. Mai 1998

unter der Nr. 4450/J an mich eine schriftliche Anfrage betreffend mangelnde Versöh -

nungspolitik der Tschechischen Republik in Fragen der Sudetendeutschen Volksgruppe

gerichtet, welche folgenden Wortlaut hat:

“1. Welche Maßnahmen wurden von Ihnen im Rahmen des Assoziationsvertrages und

im Zuge der Ostöffnung gesetzt, um die Sudetendeutsche Minderheit in der Tsche -

chischen Republik zu schützen?

2. Wie lauten die diesbezüglich von Ihnen im Ministerrat abgegebenen

Stellungnahmen?

3. Wie stehen Sie allgemein zur Frage der Wiedergutmachungsansprüche enteigneter

Heimatvertriebener?

4. Wie stehen Sie zur Frage der Wiedergutmachungsansprüche enteigneter

Heimatvertriebener am Beispiel der Sudetendeutschen in der Tschechischen Re -

publik?

5. Welche Haltung werden Sie in Zukunft gegenüber einem Land einnehmen, das

sich in seinem Umgang mit seinen alteingesessenen Minderheiten nicht als gleich -

berechtigter Partner erweist?

6. Welche Haltung werden Sie gegenüber der Tschechischen Republik konkret

einnehmen, wenn die Republik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Benesch -

Dekrete ihr Ansuchen für den Beitritt zur Europäischen Union stellt?

7. Welche genauen Maßnahmen, in Bezug auf die Abschaffung der Benesch - Dekrete,

werden Sie von der Tschechischen Republik im Falle eines Beitrittes zur EU for -

dern?”

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

ad 1) Die Assoziationsabkommen mit den Staaten Zentral - und Osteuropas sind Instru -

mente der wirtschaftlichen Heranführung dieser Staaten an die Europäischen Ge -

meinschaften und nicht als Instrumente zum Schutz von Minderheiten konzipiert.

Das Thema Minderheitenschutz wird daher von den EU - Mitgliedstaaten nicht im

Rahmen der Assoziationsabkommen aufgegriffen.

ad 2) Diese Frage war kein Gegenstand von Beratungen im Ministerrat.

ad 3) und 4) Österreich tritt gegenüber der Tschechischen Republik für die Entschädi -

gungsansprüche österreichischer Staatsbürger, insbesondere auch der Heimatver -

triebenen, ein, soweit diese nicht bereits durch den österreichisch - tschecho -

slowakischen Vermögensvertrag von 1974 entschädigt wurden. Aufgrund dieses

Vertrages wurden enteignete österreichische Staatsbürger bis zu einer Höhe von

szt 1 Mio TschKr (eine Mrd. öS) global entschädigt, während Österreich im Gegen -

zug einen lnterventionsverzicht für Ansprüche aus diesen Enteignungen leistete.

Nach österreichischer Rechtsauffassung umfaßt dieser Interventionsverzicht nur

jene Gruppen, die aufgrund des Vertrages abschließend entschädigt wurden und

somit weder Personen, die nach dem 27. April 1945 österreichische Staatsbürger

wurden, noch diejenigen, die nur bis in Höhe von einer Million TschKr entschädigt

wurden.

ad 5) Der Europäische Rat kam auf seiner Tagung im Juni 1993 in Kopenhagen zu dem

Schluß

"daß die assoziierten mittel - und osteuropäischen Länder; die dies wünschen,

Mitglieder der Europäischen Union werden können. Ein Beitritt kann erfolgen,

sobald ein assoziiertes Land in der Lage ist, den mit einer Mitgliedschaft

verbundenen Verpflichtungen nachzukommen und die erforderlichen

wirtschaftlichen und politischen Bedingungen zu erfüllen".

Als eine der grundsätzlichen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft wurde weiters

festgelegt, daß

“der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokrati -

sche und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte

sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben

muß”.

Österreich wird sich in Übereinstimmung mit der EK und den anderen EU -

Mitgliedstaaten an diesen Kriterien orientieren.

ad 6) Die Tschechische Republik hat ihren Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union

bereits am 17. Jänner 1996 gestellt. Der Ministerrat der Europäischen Union be -

schloß am 29. Jänner 1996 die Einleitung des Beitrittsverfahrens, das als ersten

Schritt die Anhörung der Kommission vorsieht. Die Stellungnahme der Kommission

zum Beitrittsantrag der Tschechischen Republik ("Avis") wurde dem EU - Ministerrat

im Juli 1997 vorgelegt. Die Gliederung der Stellungnahme berücksichtigt die

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates in Kopenhagen und enthält somit auch

eine Bewertung der Lage nach Maßgabe der vom Europäischen Rat aufgestellten

Kriterien (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Minderheitenschutz).

Wie die Kommission in ihrer Stellungnahme im Kapitel “Politische Kriterien” zur

Frage der Einhaltung der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes feststellt,

haben die Bestimmungen der internationalen Menschenrechtsübereinkünfte gemäß

Artikel 10 der tschechischen Verfassung Vorrang vor den Bestimmungen des

innerstaatlichen Rechts und gelten unmittelbar. Dies umfaßt nicht zuletzt die Rah -

menkonvention des Europarates zum Schutze von Minderheiten, die - auch für die

Tschechische Republik - am 1. Februar 1998 in Kraft getreten ist.

Die allgemeine Bewertung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Erfüllung

der für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union erforderlichen politischen Kri -

terien lautet folgendermaßen:

“Die Tschechische Republik besitzt die Merkmale einer Demokratie mit

stabilen Institutionen, die die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und

die Achtung und den Schutz von Minderheiten garantieren”.

Aufgrund der insgesamt positiven Stellungnahme der Kommission beschloß der

EU - Ministerrat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Tschechischen

Republik.

ad 7) Österreich hat seine ablehnende Haltung gegenüber den Benesch - Dekreten der

tschechischen Seite wiederholt zur Kenntnis gebracht und wird diese Haltung auch

weiterhin vertreten:

Die am 21. Jänner 1997 unterzeichnete deutsch - tschechische Erklärung über die

gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung führt u.a. dazu aus:

"Beide Seiten stimmen darin überein, daß das begangene Unrecht der Ver -

gangenheit angehört und werden daher ihre Beziehung auf die Zukunft aus -

richten. Gerade deshalb, weil sie sich der tragischen Kapitel ihrer Geschichte

bewußt bleiben, sind sie entschlossen, in der Gestaltung ihrer Beziehungen

weiterhin der Verständigung und dem gegenseitigen Einvernehmen Vorrang

einzuräumen, wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und

respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat. Beide

Seiten erklären deshalb, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergan -

genheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.”

Auf die Beantwortung von Punkt 5) der Parlamentarischen Anfrage 1897/J vom 29.

Jänner 1997 wird verwiesen. Die “Stellungnahme der österreichischen Bundesre -

gierung zur deutsch - tschechischen Erklärung” ist angeschlossen.

Stellungnahme

der österreichischen Bundesregierung zur deutsch - tschechischen Erklärung

Die österreichische Bundesregierung hat die Unterzeichnung der deutsch - tschechischen

Erklärung durch Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Klaus mit Befriedigung zur

Kenntnis genommen. Dieser Schritt hat Bedeutung auch über das deutsch - tschechische

Verhältnis hinaus. Die österreichische Bundesregierung begrüßt diese Erklärung als wich -

tigstes Element beim weiteren Aufbau des neuen Europa, wie er nach den Umwälzungen

des Jahres 1989 begonen hat. Gerade auch aus österreichischer Sicht kommt ihr großes

Gewicht zu; betrifft sie doch in grundlegender Weise das Verhältnis zwischen zwei mit uns

befreundeten Nachbarstaaten, die entschlossen sind, in der weiteren Gestaltung ihrer Be -

ziehungen der Verständigung und dem gegenseitigen Einvernehmen Vorrang einzuräu -

men. Darüberhinaus hat diese Erklärung auch Bedeutung für jene Betroffenen, die nach

ihrer Vertreibung und zwangsweisen Aussiedlung in Österreich eine neue Heimat gefun -

den haben. Die österreichische Bundesregierung stellt mit Genugtuung fest, daß die bei -

den Seiten ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen

und rechtlichen Fragen belasten werden.

Versöhnung ist eine wesentliche Grundlage für die weitere Integration Europas. Versöh -

nung kann zwar durch eine politische Erklärung alleine nicht bewirkt werden; sie ist jedoch

ein bedeutsamer erster Schritt und eine Grundlage für ein besseres Verständnis und für

die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen den Menschen diesseits und jenseits

der Grenzen. Auch deshalb unterstützt Österreich nachdrücklich die Bestrebungen der

Tschechischen Republik, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Denn damit werden

Trennlinien zwischen Staaten und Völkern fallen, die durch Jahrhunderte miteinander ver -

bunden waren und die in der Zeit des Kalten Krieges auf schmerzliche und unnatürliche

Weise - das haben gerade wir Österreicher in besonderem Maße so empfunden - ge -

trennt waren. Die fortschreitende europäische Integration trägt zur Festigung der Men -

schenrechte und Grundfreiheiten bei und schafft dadurch bessere Bedingungen auch für

Minderheiten. Damit soll sich Unrecht, wie es in diesem Jahrhundert während der leidvol -

len Geschichte unseres Kontinents geschehen ist, nicht mehr wiederholen können.

Die österreichische Bundesregierung sieht in der deutsch - tschechischen Erklärung ein

deutliches Signal für ein friedliches und freundschaftliches Zusammenleben in Europa

trotz der schweren Last, die aus dem Unrecht der Vergangenheit herrührt. Das stärkt

unsere Zuversicht für den gemeinsamen Weg Europas in die Zukunft.

Wien, am 21. Jänner 1997