4275/AB XX.GP

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Dr. Povysil, Aumayr, Mag. Schweitzer und Kolle -

gen haben am 16. Juni 1998 unter der Nr. 4527/J an mich eine schriftliche parlamen -

tarische Anfrage betreffend radioaktive Wolke über Mitteleuropa - Auswirkung auf

Österreich gerichtet, deren Wortlaut in der Beilage angeschlossen ist.

Diese Anfrage beantworte ich wie folgt:

Zur Anfrage allgemein ist festzuhalten, daß Österreich mit der Errichtung des Strah -

lenfrühwarnsystems in den 70er und 80er Jahren eine Vorreiterrolle für Europa über -

nommen hat. Als einziges automatisch arbeitendes System hat es bereits beim Re -

aktorunfall von Tschernobyl im Jahre 1986 wertvolle Messungen erbracht, die als

Grundlage für Maßnahmen zur Reduzierung der Strahlenexposition der Bevölkerung

dienen konnten. Erst in der Folge haben fast alle anderen europäischen Länder ähn -

liche Systeme aufgebaut. Zielsetzung derartiger Strahlenfrühwarnsysteme ist insbe -

sondere das sichere Erkennen von Expositionssituationen mit einer möglichen ge -

sundheitlichen Bedeutung für die Bevölkerung.

komplementär dazu werden in Österreich und anderen europäischen Staaten labor -

gestützte Überwachungsnetze betrieben, die mit außerordentlicher Empfindlichkeit

nuklidspezifische Messungen durchführen können, wobei die Meßergebnisse natur -

gemäß jedoch mit zeitlicher Verzögerung anfallen. Bei Bedarf wird im laborgestütz -

ten Überwachungsnetz der für die Messung niedrigster Aktivitäten notwendige

Wochenrhythmus der Luftprobenahmen verkürzt. In dieses laborgestützte Überwa -

chungsnetz sind für die Luftüberwachung neben den Bundesanstalten für Lebens -

mitteluntersuchung der zuständigen Organisationseinheit des Bundeskanzleramtes

auch noch Dienststellen der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, eine

Bezirkshauptmannschaft und eine private Stelle eingebunden.

Eine gesundheitlich relevante Belastung, die von den automatischen Strahlenfrüh -

warnsystemen erfaßbar gewesen wäre, hat es im angesprochenen Fall des Durch -

zugs einer radioaktiven Wolke nicht gegeben, weder in Österreich, noch in Südfrank -

reich oder in Südostspanien. Die in Österreich bzw. im sonstigen Europa gemesse -

nen Konzentrationen an Cäsium - 137 in der Luft lagen vielmehr um einen Faktor von

etwa 2500 bis 300000 unterhalb der nach der österreichischen Strahlenschutzver -

ordnung für Cäsium - 137 als Jahresdurchschnitt für die allgemeine Bevölkerung zu -

lässigen Wert (§15 in Verbindung mit Anlage 5, Spalte 10, Cäsium - 137 in unlösli -

chem Zustand, Dreißigstelwert von 5*10^-9 µCi, das sind 6.17 Becquerel pro Kubik -

meter).

Auswirkungen einer derartig geringen Kontamination sind durch Ortsdosisleistungs -

meßgeräte, wie sie die 336 Meßstellen des Strahlenfrühwarnsystems darstellen

meßtechnisch überhaupt nicht erfaßbar.

Automatisch arbeitende Luftradioaktivitätsmeßanlagen zum Nachweis von Kontami -

nationen, wie sie in Österreich auftraten, sind derzeit nicht auf dem Markt. Es sei hier

angemerkt, daß die vorhandenen automatischen Luftradioaktivitätsmeßgeräte der

neuen Generation im Strahlenfrühwarnsystem gerätetypabhängig Konzentrationen in

der Größenordnung von einigen Millibecquerel pro Kubikmeter durchaus in Realzeit

registriert hätten und automatisch an die Strahlenschutzabteilung im Bundeskanzler -

amt berichtet hätten. Bei derartigen Radionuklidkonzentrationen wäre eine entspre -

chende Information und gegebenenfalls auch eine Warnung der Bevölkerung selbst -

verständlich sehr rasch auf den innerhalb des staatlichen Krisenmanagements vor -

bereiteten Wegen erfolgt.

Die auch in Österreich Anfang Juni aufgetretenen Cäsium -137 - Konzentrationen in

der Luft waren jedenfalls vom automatischen Dosisleistungs - und Luftmeßsystem

nicht erfaßbar. Sie wurden jedoch vom laborgestützten Überwachungsnetz nachge-

wiesen, das - in komplementärer Weise zum Strahlenfrühwarnsystem durch Probe -

nahmen und anschließende Messungen im Labor mit einem vergleichsweise hohen

zeitlichen Aufwand detaillierte Untersuchungen an diversen Medien, unter anderem

an Luftfiltern, Niederschlägen und Lebensmitteln, durchführt. In diesem System wer -

en an etwa zehn Sammelstellen laufend - im Normalfall eine Woche lang - Luftfilter

besaugt. Im Anschluß daran werden diese Filter an die Meßstelle gebracht und dort

mittels hochauflösender Verfahren auf ihren Gehalt an gammastrahlenden Radio -

nukliden untersucht.

Zu den Fragen im einzelnen:

Zu Frage 1:

Das österreichische Strahlenfrühwarnsystem (das aus 336 Ortsdosisleistungsmeß -

stellen und einigen Luftradioaktivitätsmeßstellen besteht) war im gefragten Zeitraum

ab 15. Mai 1998 in allen wesentlichen Bereichen voll funktionstüchtig.

Zu den Fragen 2a) und b):

Die Quelle für radioaktives Cäsium in der Luft ist derzeit primär die Aufwirbelung von

Bodenmaterial, das durch den Bombenfallout und die Folgen des Reaktorunfalls von

Tschernobyl kontaminiert ist. Die dadurch gegebene derzeitige Hintergrundkontami -

nation ist demnach insbesondere durch die regionale Kontaminationssituation nach

Tschernobyl und durch zeitlich veränderliche, lokale Randbedingungen definiert.

Als "Normalwert” für Cäsium - 134 läßt sich ein Bereich von etwa 0.01 bis 0.05 Mikro -

becquerel pro Kubikmeter errechnen. Diese Konzentration läßt sich allerdings mit

den derzeit eingesetzten Sammel - und Meßmethoden nicht nachweisen.

Der "Normalwert” für Cäsium - 137 aus Resuspension des Fallouts der Kernwaffen -

versuche und der Tschernobyl - Depositionen liegt derzeit bei etwa 1 bis 5 Mikro -

becquerel pro Kubikmeter Luft.

Zu Frage 3:

Mit den 336 automatischen Ortsdosisleistungsmeßstellen des Strahlenfrühwarn -

systems war die geringe Kontamination der Luft aus meßtechnischen Gründen nicht

nachweisbar. (Die natürliche Komponente der Ortsdosisleistung - gegeben durch die

kosmische und terrestrische Strahlung -, verstärkt durch einen geringen Beitrag aus

der Deposition nach den Kernwaffen und nach Tschernobyl, überwiegt dermaßen,

daß ein “Herauslösen” des Anteils der “radioaktiven Wolke” an der Ortsdosisleistung

unmöglich ist.)

Mit den automatisch arbeitenden Luftradioaktivitätsmeßgeräten des Strahlenfrüh -

warnsystems erfolgte kein Nachweis dieses Radionuklids, da deren Nachweisgrenze

für Cäsium - 137 - geräteabhängig - bei etwa 0.5 bis 100 Millibecquerel pro Kubikme -

ter liegt.

Die Meßwerte des laborgestützten Überwachungsnetzes sind der folgenden Tabelle

zu entnehmen. Alle anderen Messungen zeigten keine Abweichungen vom üblichen

Wertebereich.

Tabelle: Cäsium - 137 - Konzentration in Luftfiltern der 23. Kalenderwoche (1. bzw. 2.

Juni bis 8. bzw. 9. Juni 1998) als Wochenmittelwerte. Die Auswertung lag am

12. Juni 1998 vor.

Wien

29 µBq/m³

 

Linz

20

µBq/m³

Retz, NÖ

22 µBq/m³

 

Salzburg

14

µBq/m³

Altprerau,

32 µBq/m³

 

Graz

200

µBq/m³

Innsbruck

102 µBq/m³

 

Bad Radkersburg,

Stmk

128

µBq/m³

Bregenz

20 µBq/m³

 

Klagenfurt

174

µBq/m³


 

Die Werte weisen im allgemeinen eine Unsicherheit von etwa +- 10 bis 15 % auf. Die

Langzeituntersuchungen von Luftfiltern der Höhenmeßstation auf dem Sonnblick

sind noch im Laufen.

Zu Frage 4a):

Die ersten Meßdaten wurden von der zuständigen Fachabteilung (unverzüglich nach

Vorliegen der Auswertung) am 12. Juni 1998 um 14.25 MESZ mit dem Ersuchen um

Weiterleitung an die Bundeswarnzentrale im Innenministerium gefaxt. Diese erfolgte

um 14.40 MESZ an die einzelnen Ministerien (Bundeskanzleramt, Bundesministerien

für Inneres, auswärtige Angelegenheiten, Landesverteidigung und Umwelt, Jugend

und Familie) und an alle Landeswarnzentralen sowie an die Zentralanstalt für Meteo -

rologie und Geodynamik. Innerhalb der Bundesländer wurde die Information in der

Folge an die betroffenen Stellen weitergeleitet.

Nach Einlangen weiterer Meßdaten wurden ergänzende Informationen mittels Fax -

gleichfalls mit dem Ersuchen um Weiterleitung - an die Bundeswarnzentrale gesen -

det.

Zu den Fragen 4b) und c):

Europäische Kommission, Generaldirektorat XI, Abteilung 0/1 am 15. Juni 1998 um

15.33 (MESZ).

Zu Frage 5:

Die Strahlenschutzabteilung erhielt bis einschließlich 12. Juni 1998 folgende Meldun -

gen (Uhrzeiten in MESZ; BWZ = Bundeswarnzentrale):

Datum

von

v

i

a

Werte für

Modus

10.6.98

-1051

APA

B

W

Z

Schweiz

Fax

11.6.98

-1545

Europäische

Kommission

B

W

Z

Frankreich,

Schweiz,

Italien

telefonische

Mitteilung


 

11.6.98

-1631

Europäische

Kommission

B

W

Z

Frankreich,

Schweiz,

Italien

Fax

12.6.98

-0847

IAEA

B

W

Z

F, CH, I,

Deutschland

Fax

12.6.98

-1146

APA

B

W

Z

Frankreich

Fax

12.6.98

-1753

IAEA

B

W

Z

F, CH, I,

Deutschland

Fax

12.6.98

-1753

APA

B

W

Z

Deutschland

Fax

12.6.98

-1859

Europäische

Kommission

B

W

Z

ident. IAEA

von 1753

Uhr

Fax

12.6.98

-1906

CSN Spanien

via Europ.

Komm.

B

W

Z

 

Fax

Zu Frage 6:

a) 12. Juni 1998 - 0847 MESZ

b) 12. Juni 1998-1753 MESZ

Zu den Fragen 7a) und b):

Eine Warnung der Bevölkerung vor Pfingsten (31. Mai 11. Juni 1998) wäre zum einen

nicht möglich gewesen, da die Informationen erst später zur Verfügung standen.

Zu Frage 8:

Niederschlagsuntersuchungen erfolgen routinemäßig im Rahmen der Überwachung

des Bundesgebietes durch das laborgestützte Überwachungsnetz. In den im Mai

gesammelten Proben konnte Cäsium - 137 nicht nachgewiesen werden. In der Region

mit höher kontaminierter Luft (Raum Graz) wurde nach Vorliegen der Auswertung

(siehe Frage 5) eine gesonderte Messung der Niederschlagsprobe des Zeitraums

vom 2. bis 9. Juni 1998 veranlaßt. Die Cäsium - 137 - Deposition für diesen Zeitraum

betrug etwa 0.2 Bq/m². Derzeit sind dort infolge des Reaktorunfalls von Tschernobyl

Werte von 0.04 bis 0.15 Bq/m² und Woche als “normal” zu betrachten. Der registrier -

te, etwas erhöhte Wert weist eine statistische Unsicherheit von etwa 20% auf. Diese

Erhöhung läßt sich mit den registrierten Luftkontaminationswerten über Auswaschef -

fekte erklären, ist jedoch statistisch nur schwach gesichert.

An den Sammelstellen mit niedrigeren Cäsium - 137 - Konzentrationen in der Luft wur -

den die routinemäßigen Sammelintervalle beibehalten.

Zu Frage 9:

Der durch den Reaktorunfall von Tschernobyl und den Fallout der Kernwaffenver -

suche gegebene Hintergrund des Bodeninventars an Cäsium - 137 beträgt - abhängig

von der Region - in Österreich etwa 1000 bis 150000 Bq/m . Der österreichische

Mittelwert (und auch gleichzeitig ein repräsentativer Wert für Graz) liegt bei 21000

Bq/m. Ein zusätzlicher Eintrag in der Größenordnung von 0.2 Bq/m2 (siehe Frage 7)

wäre sowohl aus meßtechnischen Gründen als auch wegen der grundsätzlichen

Inhomogenität der Verteilung in keinem Fall nachweisbar.

Zu Frage 10

Das Ereignis zeigt, daß das Informationssystem auf EU - Ebene ausgezeichnet funk -

tioniert. Eine Aktivierung des Alarmsystems ECURIE ( = European Community Urgent

Radiological Information Exchange) auf “ALERT” - Ebene war zwar nicht notwendig

(dies ist nur bei Ereignissen der Fall, die zu breit angelegten Maßnahmen zum

Schutz der Bevölkerung führen und wenn dabei Auswirkungen auf andere Mitglied -

staaten bestehen oder möglich sind), jedoch wurde das Ereignis sehr wohl als Infor -

mation an die ECURIE - Kontaktpunkte (im Falle Österreichs ist das die Bundeswarn -

zentrale im Innenministerium; das Bundeskanzleramt, Sektion VI ist die zuständige

Behörde) gemeldet. Darüber hinaus wird das ECURIE - System laufend durch Übun -

gen unterschiedlichen Niveaus getestet.

Zu Frage 11:

Es ergeben sich keine belegbaren Anhaltspunkte, daß die IAEA die ihr vorliegenden

Informationen bewußt zurückgehalten habe.

Zu Frage 12:

Das österreichische Strahlenfrühwarnsystem ist in einer Form aufgebaut, die bei

Ereignissen mit einer signifikanten Kontamination des Bundesgebietes eine recht -

zeitige Information der Bevölkerung erlaubt. Durch die Verknüpfung mit ausländi -

schen Meßnetzen (mit der Slowakei bereits erfolgt, mit anderen Staaten in Vorbe -

reitung) ist auch eine Ausdehnung des Warn - und Informationskonzepts auf mög -

liche Kontaminationssituationen vorgesehen, die Österreich nicht oder noch nicht

betreffen. Allerdings kann auch in solchen Fällen nicht bereits vor dem Eintreten

eines Nuklearzwischenfalles gewarnt werden, da eine meßtechnische Erfassung

einer Kontamination erfahrungsgemäß erst bei Vorliegen einer solchen und nicht

bereits vorher möglich ist.