5377/AB XX.GP
Die Abgeordneten zum Nationalrat Andreas Wabl, Freundinnen und Freunde haben
an mich eine schriftliche Anfrage, betreffend „NS - Militärjustiz und Wehrmachtsde -
serteure“, gerichtet.
Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:
Zu 1:
Wenngleich man eine allen juristischen Differenzierungen Rechnung tragende Beur -
teilung der Militärgerichtsverfahren in der Zeit des NS - Regimes nur nach einer um -
fassenden wissenschaftlichen Untersuchung vornehmen könnte, ist grundsätzlich
davon auszugehen, dass diese Verfahren rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht ent -
sprochen haben.
Zu 2:
Vor dem Hintergrund der in der österreichischen Verfassungsrechtslehre herrschen -
den Okkupationstheorie kann man die Deutsche Wehrmacht als fremde Armee an -
sehen, doch steht diese Frage bei der hier relevanten strafrechtlich - rechtsstaatli -
chen Bewertung nicht im Vordergrund.
Zu 3 und 4:
Nach § 1 des nach wie vor in Geltung stehenden Aufhebungs- und Einstellungsge -
setzes (BGBl. Nr. 48/1945) gelten Verurteilungen von österreichischen Staatsange -
hörigen - gleichgültig, ob innerhalb oder außerhalb des Staatsgebietes der Republik
Österreich - als nicht erfolgt, wenn sie nach den Bestimmungen gegen Hoch- und
Landesverrat oder
der Kriegssonderstrafrechtsverordnung ergangen sind und die
Handlung gegen die nationalsozialistische Herrschaft oder auf die Wiederherstellung
eines unabhängigen Staates Österreich gerichtet war, oder wenn sie nach § 5 Abs.
1 bis 3 des „Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“
vom 15. September 1935, nach dem „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf
Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform“ vom 20. Dezember 1934 oder
nach der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ vom 1. Sep -
tember 1939 ergangen sind. Die Kriegsdienstverweigerung und die Desertion wur -
den im Dritten Reich in aller Regel als Formen der „Zersetzung der Wehrkraft“ nach
§ 5 der genannten Kriegssonderstrafrechtsverordnung betrachtet und sind als sol -
che vom Geltungsbereich des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes umfasst. Die
heute maßgebende Rechtsauffassung geht dabei davon aus, dass sowohl die
Kriegsdienstverweigerung als auch die Fahnenflucht (Desertion) angesichts des ver -
brecherischen Charakters des Krieges und des totalitären Anspruches des Dritten
Reiches „gegen die nationalsozialistische Herrschaft“ gerichtete Handlungen waren,
auch wenn ihnen im Einzelnen unterschiedliche Motive zugrunde lagen (in diesem
Sinne insbesondere Univ. Prof. Dr. Reinhard MOOS in einem Vortrag am
10. November 1998 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, der
demnächst auch veröffentlicht werden wird). Die bisherige Handhabung des Aufhe -
bungs- und Einstellungsgesetzes durch die österreichischen Gerichte steht im Er -
gebnis damit im Einklang.
Die angesprochene Problematik der Aufhebung von Urteilen der NS - Militärjustiz
wird daher im wesentlichen von § 1 des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes er -
fasst.
Gemäß § 4 des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes stellt das Gericht von Amts
wegen oder auf Antrag mit Beschluss fest, dass eine Verurteilung wegen der er -
wähnten Handlung als nicht erfolgt gilt. Für die Beschlussfassung ist in den Fällen,
in denen sich der Sitz des Urteilsgerichtes außerhalb des Gebietes der Republik
Österreich befindet, der Gerichtshof erster Instanz zuständig, in dessen Sprengel
der Verurteilte seinen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, oder, wenn ein solches Gericht
fehlt, das Landesgericht für Strafsachen Wien.
Nach den Bestimmungen des Strafregistergesetzes 1968 gelten Verurteilungen als
getilgt und sind daher in das Strafregister nicht aufzunehmen, die vor dem 27. April
1945 durch inländische oder ausländische Strafgerichte ergangen sind, sofern sie
nicht auf Todesstrafe oder lebenslange Freiheitsstrafe lauten. Eine eintragungsfähi -
ge Verurteilung im
Sinne des Strafregistergesetzes ist aber jedenfalls nur ein Er -
kenntnis, mit dem wegen einer nach österreichischem Recht von den Gerichten
nach der Strafprozessordnung abzuurteilenden Handlung in einem den Grundsät -
zen des Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreihei -
ten entsprechenden Verfahren über eine Person eine Strafe oder vorbeugende
Maßnahme verhängt wird oder zumindest ein Schuldspruch ergeht.
Zu den angesprochenen Urteilen der NS - Militärjustiz kann jedenfalls gesagt werden,
dass die zugrundeliegenden Verfahren nicht den Grundsätzen entsprochen haben,
die 1950 in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt wurden, und
dass die in Rede stehenden Tathandlungen gegen die Deutsche Wehrmacht dar -
über hinaus nicht vom Prinzip der identen Norm erfasst sind. Zudem wurde bereits
aus den Bestimmungen des Tilgungsgesetzes 1952 abgeleitet, dass Urteile der NS -
Militärgerichte nicht in das Strafregister aufzunehmen sind. Regelungsgegenstand
des Strafregistergesetzes 1968 waren daher grundsätzlich nur noch die Urteile der
"zivilen" Strafgerichte. Da die dargelegten Grundsätze im übrigen auch für die Urtei -
le der NS - Militärjustiz gelten, ist in diesen Fällen jedenfalls von der Unbescholtenheit
der Betroffenen auszugehen.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich somit meines Erachtens kein unmittelbarer
Handlungsbedarf, weil die meisten der in Rede stehenden Unrechtsurteile unter das
geltende Aufhebungs- und Einstellungsgesetz fallen und danach ex lege als nicht
erfolgt anzusehen sind, jedenfalls aber keine Urteilswirkungen entfalten. Im Hinblick
auf die pragmatische Handhabung des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes
durch die österreichische Justiz sah auch Univ. Prof. Dr. MOOS in seinem oben er -
wähnten Vortrag derzeit keinen Bedarf nach legislativen Schritten nach deutschem
Muster.
Zu 5:
Eine Umfrage bei den gemäß § 4 des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes zu -
ständigen Landesgerichten ergab, dass in jüngerer Zeit vor allem beim Landesge -
richt für Strafsachen Wien einige nach den Bestimmungen dieses Gesetzes zu be -
handelnde Anträge gestellt wurden, die soweit bekannt, durchwegs positiv erledigt
wurden. Nach der Erinnerung eines der damit befassten Richter hatte jedoch ledig -
lich ein Fall des Landesgerichtes für Strafsachen Wien eine Verurteilung wegen De -
sertion zum Gegenstand. Da der bezughabende Akt nicht eruiert werden konnte, ist
mir die
Bekanntgabe des Datums der Entscheidung nicht möglich.
Soweit derartige Entscheidungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit erfolgten,
wäre eine Auffindung mit einem vertretbaren Arbeitsaufwand praktisch nicht mög -
lich, zumal ein Teil der Akten bereits an das örtliche Landesarchiv übergeben wur -
de.